An der Grenze zum Schmerz
In Angela Kraußʼ „Der Strom“ mischen sich Erinnerungen, Zukunftsvisionen und Traumerscheinungen
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ein Strom hatte begonnen, in meinem Körper zu pulsieren, an der Grenze zum Schmerz“, klagt die namenlose Ich-Erzählerin, eine Dichterin fortgeschrittenen Alters, nach einer schlaflosen Nacht. Die 68-jährige Angela Krauß, die 1988 mit dem Gewinn des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises den künstlerischen Durchbruch geschafft hatte, ist eine Meisterin der radikalen Verknappung. Auch in ihrem neuen schmalen Bändchen, das sich auf alternierenden Zeitebenen bewegt, gibt es keine Handlung im tradierten Sinn, sondern es mischen sich Erinnerungen, Zukunftsvisionen und Traumerscheinungen.
Die Protagonistin hört immer wieder in den eigenen Körper hinein, registriert Veränderungen, die bisweilen obsessiven Charakter gewinnen. Zu Beginn sitzt die zur Askese neigende Frau im Urlaub beim Mittagessen und lässt sich fürstlich bewirten. En passant erfahren wir von ihrem Mäzen, der ein passabler Tennisspieler ist und 17 Flugstunden entfernt lebt. Vage Andeutungen einer Handlung, doch Angela Krauß belässt es bei kurzen Sequenzen und springt dann irgendwann zur Beschreibung des Wartens auf einen Paketzusteller. All dies geschieht immer in Korrelation zum eigenen Empfinden. Der Moment wird zum sinnlichen Erlebnis – mal dominiert der Schmerz, mal höchste Glücksgefühle.
Die surreale Begegnung mit einem militärischen Kommandanten aus einer fremden Zeit („er verschwand, wie er erschienen war“) mündet im Zwiegespräch der Protagonistin mit der legendären Weltraumhündin Laika, die 1957 als erstes Lebewesen mit einer Sputnik-Raumkapsel ins All katapultiert wurde: „Es war unübersehbar Vorfreude, mit der sie in die Zukunft flog.“
Krauß hat eine wohl austarierte Mischung aus hochkonzentrierem Prosastrom und poetischer Endloslyrik vorgelegt – mit überbordender Metaphorik, Zitaten vieler Dichtergrößen der Vergangenheit und reichen Anspielungen auf die Romantik.
„Ich bitte um Stillstand, um Sammlung, um Verdichtung, um die Erfahrung der reinen Substanz“, hatte Krauß schon 2006 in ihrem Band Wie weiter geschrieben. Heute wie damals sortiert sie ihre Gedanken, gräbt tief in ihrem Seelenleben und vermengt Partikel aus der eigenen Vergangenheit mit surrealen Einsprengseln. Auch der erste Kuss, den sie schon einmal literarisch verewigt hat, ausgetauscht mit einem jungen, italienischen Kommunisten, blitzt noch einmal hoch emotional durch das kleine Büchlein.
Auf der letzten Seite dieser durchaus kritischen Selbstbefragung einer etwas weltabgewandt wirkenden Dichterin heißt es: „Ich wirke glücklich. Das ist keine Tarnung“, sondern – möchte man anfügen – die fein orchestrierte Versöhnung von Geist und Kunst.
Dieser luzide Band lässt uns an einem hochartifiziellen, aber anstrengenden, an den Kräften des Lesers zehrenden Spaziergang durch Angela Kraußʼ Gedankenwelt teilhaben. Poetisch und absurd, geheimnisvoll und verspielt. Der Strom beweist wieder einmal, dass das Gewicht von Literatur eben nicht auf der Waage entschieden wird.
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