Olfaktorische Ekstasen

Didier Decoin erdichtet eine mittelalterlich-derbe Japan-Erotomanie

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Didier Decoins Roman Das Ministerium der Gärten und Teiche hinterlässt den Eindruck der schriftstellerischen Umsetzung eines Arbeitsauftrags, der gelautet haben mag, in einem umfangreicheren Text möglichst viele Schlüsselbegriffe und Elemente japanischer Kultur unterzubringen. Diese Aufgabe wäre dem Autor gelungen. Weniger überzeugend ist die historische Japankulisse als solche, die Decoin bemüht, um seine Version einer Eros-Thanatos-Geschichte zu erzählen. Das Ergebnis der Zusammenstellung liest sich wie eine Buch- und Filmmischung aus Das Parfüm (Patrick Süßkind) und Im Reich der Sinne (Nagisa Oshima), verfeinert mit Themen und Szenen aus Murasaki Shikibus Prinz Genji (diese Quelle gibt der Autor selbst an), Akira Kurosawas Rashômon sowie Akinari Uedas Unter dem Regenmond. Allenthalben sind bekannte und weniger bekannte japanische Begriffe eingestreut – darunter seppuku, genze riyaku, yujo und Buddha Fudo Myoo. Die landeskundlichen Belehrungen erfordern eine Reihe von Fußnoten, die zum Verständnis des Gesagten nötig sind. Um das Japan-Ambiente prächtig auszustaffieren, dürfen Hinweise auf japanische Jenseitsvorstellungen sowie auf Götter (kami) und Wesen der Anderswelt wie kappa und kitsune nicht fehlen; des letzteren menschliche Erscheinungsform zu sein, wird die Protagonistin Miyuki sogar einmal verdächtigt. Nur knapp entkommt sie der Liquidation.

Exkursion in ein dunkles japanisches Mittelalter

Überhaupt erscheint Decoins Japan des 12. Jahrhunderts als ein brutaler Ort, an dem die Mächtigen mit den Armen nach Gutdünken verfahren, die Männer über Frauen bestimmen, die sich unterwürfig geben müssen und nicht selten ins Gesicht geschlagen werden, wo die Köpfe rollen und die Naturgewalten ihre Opfer fordern, wo aber andererseits die Sexualität gefeiert wird und sich das Leben noch als pralles Treiben zeigt.

Die Geschichte handelt von Katsuro, einem Karpfenfischer, und Miyuki, seiner jüngeren Frau, mit der er – wieder eine folkloristische Besonderheit – gemäß dem Brauchtum des nächtlichen Einschleichens den Bund der Ehe eingegangen ist. Katsuro, männlich-fürsorglich und den Freuden des Fleischs sehr aufgeschlossen, findet jedoch schon im ersten Kapitel den Tod. Er ertrinkt im Fluss und hinterlässt seiner Witwe die Verpflichtung, als Vertreterin des Dorfes einen Karpfentransport in die kaiserliche Hauptstadt zu erledigen. Notgedrungen macht sich Miyuki also mit acht Fischen in Weidenreusen auf den gefährlichen Weg nach Heian-kyô, um dort dem Oberbeamten des Ministeriums der Gärten und Teiche, Nagusa Watanabe, die von ihrem Mann erwählten Tiere für die kaiserlichen Zierfischtümpel auszuhändigen.

Sekrete-Fetischismus

Decoins Konzept beschränkt sich nicht auf die exotistische Schilderung eines Gefälles zwischen den Provinzen und der höfischen Elite oder der vielen Gefahren, die die Reisende bedrohen. Die literarische Achse, um die der Text kreist, sind erotische Fantasien der besonderen Art: Interaktionen sexueller Natur erfolgen meist nach dem in der westlichen Kunst gängigen Muster „Faun überfällt Nymphe“, wobei das Moment der geschickten Aneignung eines widerstrebenden Wesens durch den erfahrenen Mann das tragende Grundmotiv des Texts darstellt: Katsuro fängt die Karpfen mit ebenso überlegener Erfahrung, wie es ihm auch gelingt, die herbe junge Frau für sich zu gewinnen, obwohl er kein allzu schöner Mann ist. Dieser Sichtweise unterliegt eine gewisse Misogynie, die nicht unbedingt dadurch entkräftet wird, dass der Roman suggeriert, Miyuki würde selbstbestimmt über ihre Sexualität verfügen und die Rolle der Unterworfenen nur spielen, während sie doch diejenige ist, die das Szenario gestaltet – hier drängen sich Parallelen zum unsäglichen Roman Fifty Shades of Grey auf, in dem ein sadomasochistisches Geschehen grenzenlos trivialisiert wird.

Teilweise bis an die Grenzen geht Decoin auch mit seinen detaillierten Einlassungen zum Liebesakt: „Zu seinen Lebzeiten hatte Katsuros Schwanz, wenn er in Miyukis Mund wuchs, nach rohem Fisch, nach jungen warmen Bambussprossen und frischen Mandeln geschmeckt, wenn er endlich seine Säfte freisetzte.“ An anderer Stelle heißt es „sie schnappte die Finger des Fischers, knabberte und saugte an ihnen, wobei sie sie mit einer Spucke umhüllte, die so sämig war, dass sie glitschig wurden, als hätte er sie in eine Schale Honig getaucht, wodurch er nicht mehr in der Lage war irgendetwas zu ergreifen.“ Zudem einschlägig: „Dann kratzte ihre ein wenig raue Schambehaarung die Brust, und ihr Geschlecht glitt mit geöffneten Lippen über das Gesicht des Mannes und schmierte es mit einem warmen, glitschigen, nach Moschus duftenden Balsam ein.“ Zum Abschied drückt Miyuki ihrem Geliebten noch einen letzten Kuss auf „den langen Schaft seines Gliedes“.

Generell wird nicht gegeizt mit Darstellungen des Erotischen, die variantenreich verschiedenen Aberrationen im Zusammenhang mit den Körpersäften gewidmet sind. Häufig betrifft es, wie im ersten zitierten Beispiel, den Speichel einer Frau. Darum, diesen als „Gabe“ auf seine Haut zu erhalten, bemüht sich auch der Garten- und Teichhofrat Watanabe, indem er die jungen Damen in seiner Umgebung überredet, ihm auf den Handrücken zu spucken. Der bisexuelle Watanabe träumt andererseits von einer intimen Annäherung an seinen Untergebenen Kusakabe, dessen gutes Aussehen er sehr bewundert. Der Fetischismus der Sekrete zieht sich als Leitmotiv beinahe aufdringlich durch den Roman und wirkt besonders dann befremdlich, wenn über Miyuki gesagt wird, sie würde unter anderem nach Urin riechen. Zumindest für den olfaktorisch hochsensiblen Räucherwerk-Duftkompositeur Watanabe, der sich ihr nur ein einziges Mal und dann erfolglos annähert, sondert sie einen nicht angenehmen Geruch ab.

Miyukis Duft

Das Geheimnis von Miyukis Duftsignatur entspricht dem Weltbild, das der Roman vorgibt. Decoin vertritt mit seinem Text offenkundig die Auffassung eines vitalistisch-epikuräischen Ideals, demzufolge das Leben in vollen Zügen genossen werden will. Das Sterben nimmt man gelassen hin, zumal die Trennlinie zwischen Leben und Tod nicht so scharf sein mag, wie man gemeinhin denken möchte. Insofern ist klar, dass der Roman wohl keinem glücklichen Ausgang entgegensteuert und die Protagonistin nicht als japanisches Aschenputtel etwa vom Kaiser als Herzensdame entdeckt wird. Ganz im Gegenteil droht ihr schon wieder die Liquidation durch Mächtige, weil sie sozusagen als Geheimzutat beim höfischen Räucherwerk-Wettstreit um einen besonderen Geruch, der nun für ewig mit dem Kaiser verbunden bleibt, auf die Liste der verwendeten Ingredienzien zu setzen wäre – über die verlautbart wird, sie seien auf seinen Befehl hin allesamt zu vernichten.

Worin besteht das unbekannte Element, dessen Charakteristik den Duft der Frau des Fischers prägt? Der Roman verrät es schon vor der Begegnung der Witwe mit dem Zentrum der Macht. Der Direktor des Ministeriums der Gärten und Teiche hatte es erahnt: Es ist die süße Ausdünstung der das Leben verkörpernden Miyuki, gemischt mit dem Fluidum ihres geliebten Mannes, das ihr wie eine zweite Hülle anhaftet. Und diese männliche Aura, „unsichtbar, unhörbar und unberührbar“, trägt den Geruch des Todes an sich, da sie von einem Geist gebildet wird. Katsuros Geist, so deutet es der Text an, beschützt seine Frau auf dem Weg in die Metropole und geleitet die vom Hofrat reich Entlohnte wieder zurück in die Heimat.

Im Nichts vereint

Die Rückreise verläuft völlig unspektakulär, bis sich am Ende die Ereignisse überschlagen: Das Dorf ist verwüstet, die Menschen verschwunden bis auf einen kleinen Jungen, der sich Gareki (das heißt Schutt!) nennt und dem sie ihre Schätze aus der Kaiserstadt anvertraut. Ein schweres Erdbeben hat die Region heimgesucht. Miyuki, die die Trauer um Katsuro nie überwinden konnte, findet zu diesem Zeitpunkt schließlich Frieden – in ihren Armen ein großer, schwarzer Karpfen: „Das Tier roch nach dem Schlamm, dem Schleim, den faulenden Blättern, den zerquetschten Algen, dem verschimmelten Haus, der feuchten Erde, dem gleichen dumpfen, schmutzigen, leicht ordinären Geruch, den Katsuro an sich gehabt hatte, wenn er aus dem Fluss gestiegen war.“ Es ist in der Logik des Erzählten klar, dass es Katsuro in Gestalt des Karpfens ist, der Miyuki zu sich holt, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt und dem Dorf mit den dem Jungen übergebenen kostbaren Waren einen Wiederaufbau ermöglicht hat.

Der Autor spielt, indem er seine Geschichte mit den Bildern eines verheerenden Erdbebens beendet, offensichtlich auf Geschehnisse im Japan des 21. Jahrhunderts an, die unter der Chiffre 3.11 in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Decoin ist also der Rundumschlag gelungen, und er hat die schriftstellerische Aufgabe bewältigt, Japans kulturelle Themen aus den Jahrhunderten aufzählend – von Bashôs hüpfendem Frosch über die höfischen Gebräuche der Heian-Zeit bis hin zum ästhetischen Nihilismus der Kriegerkaste – ein Land zu schildern, das auf seine Traditionen sprichwörtlich immer bauen kann. Ein in diesem Umfeld imaginierter japanischer Untertan zeigt sich denn auch, abgesehen von einer gewissen Phase erotischer Eskapaden, stets pflichtbewusst und loyal bis in den Tod. Ob Mittelalter oder Jetztzeit: Decoins Portrait der fernöstlichen Insel lässt wie so oft in exotisierenden Darstellungen ein Reich der Sinne und der Geister erstehen, in dem der Mensch dem Nichts ganz nahe ist. Ohne die Zugabe etlicher unappetitlicher Szenen, die sich der menschlichen Schleimabsonderung widmen, wäre der Text gewiss eine lohnende Lektüre für Fans eines solchen Japans.

Titelbild

Didier Decoin: Das Ministerium der Gärten und Teiche. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
348 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608962376

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