Wie kommt Meditation ins Hier und Jetzt? Das Beispiel Hochschule

Ein Selbstprojekt zur Integration von klarem Geist und bewusstem Denken

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Selbstprojekt, das Gegenstand des Buches ist, wurde von den Autoren an der Frankfurt University of Applied Sciences initiiert und startete erstmals im Sommersemester 2017 als Angebot des Studium Generale. Mit der vorliegenden Darstellung Bildung 5.0. Wissenschaft, Hochschulen und Meditation erfolgt ein Resümee über das bisher Erfahrene und Umgesetzte. Sie gibt einen Einblick in die Resonanz der Studierenden auf das neuartige Angebot und einen Ausblick auf das, was sich an der Hochschule angesichts der gesammelten Erkenntnisse optimieren lässt. Das Geleitwort des Buches nennt gleich zu Beginn den Grund für die Notwendigkeit des neuartigen Meditationsangebotes: Die rasante Entwicklung einer Digitalisierung, die sich auf sämtliche Bereiche des alltäglichen privaten wie beruflichen Lebens erstreckt und den Menschen mit seiner komplexen Doppelstellung als Erbauer und Nutzer der Maschinen konfrontiert. Angetreten mit dem Ziel, sich das Leben mit ihrer Hilfe zu erleichtern, steht er aktuell vor der Herausforderung, nicht der Maschine die Herrschaft zu überlassen. Was für eine Kompetenz brauchen wir für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI)? Und was nützt heute ein Fachwissen, das morgen bereits überholt ist? Richtungsweisend ist der Satz: „Wir lernen […], dass wir unsere Kinder für Berufe rüsten müssen, die wir heute teilweise noch gar nicht kennen!“ Folgerichtig braucht es Menschen, „die auf Veränderungen mit Kreativität und Selbstbewusstsein eingehen können, ohne sich selbst dabei zu verlieren“. Die Veränderung selbst ist es, über die wir Bescheid wissen müssen. Dafür braucht es Kompetenzen, die nicht auf dem Papier erprobt werden können.

Das Buch versteht sich als Dokumentation eines „Bildungsexperiments“. Die Autoren sprechen deshalb von einem Experiment, weil noch nicht absehbar ist, welche Auswirkungen die gesammelten und zu sammelnden Erkenntnisse zum Themenkomplex Meditation und Hochschule haben werden. Überzeugend machen sie jedoch deutlich, dass der positive Einfluss einer meditativen Praxis auf das Leben des Menschen hinreichend genug ist, sich ihr zu stellen und womöglich Pionierarbeit zu leisten auf dem Weg zu einer „wissenschaftlichen Formatierung“ von Meditation. Anliegen des Experimentes ist es, eine Lücke zu schaffen zwischen den überbordenden, vernetzten Datenströmen, mit denen Studierende im Alltag, in ersten Berufen und in der Hochschule konfrontiert sind, um wieder Raum zu haben für Reflexion. Meditation soll als Instrument erprobt werden, den Bildungsmenschen wieder einer bewussten Entscheidungsgewalt zuzuführen, die in einer digitalisierten Welt schneller als je zuvor von den Maschinen der KI übernommen zu werden scheint. Die Schlüssel hierzu liefern „Wahrnehmung“ und „Bewusstheit“. Nur ein freier Geist kann, ohne überlagert zu sein von einem beständigen und ungerichteten Strom äußerer und innerer Eindrücke, von Gedanken- und Erinnerungsketten, adäquate Gedanken und Handlungen erzeugen.

„Lebenslanges Lernen“ lautet ein altbekanntes Schlagwort, das im buchstäblichen Sinne Schule machen muss. Da die Veränderung selbst das sichtbar Beständige innerhalb des fortwährenden Lernprozesses ist, muss ein anderer Fixpunkt als der Prozess ausfindig gemacht werden. Als solcher fungiert das „Selbst“ der Person. Dieser Fixpunkt stellt den Bezugspunkt her für einen angemessenen Umgang mit Veränderungsdynamiken der Umwelt. Daher ist es notwendig, dieses Selbst durch Praktiken der Meditation und Achtsamkeit zu stärken. Der Student, der dabei im Mittelpunkt steht, wird gleichermaßen zum Forschenden und zum eigenen Forschungsobjekt. Seine Aufgeschlossenheit und Unvoreingenommenheit sind Voraussetzung für das Projekt. Er darf sich fragen: „Wer glaube ich zu sein? Wer bin ich? Wer oder was legt mir nahe zu glauben, wer ich bin?“ Derlei Schlüsselfragen können und sollen zu einer „Selbstverortung“ führen, die dem Ansturm der Veränderungsdynamiken zum einen standhält und zum anderen ein tieferes Wissen in sich selbst erzeugt, das das darauf gelagerte Fachwissen auch in sich verändernden Kontexten handelbar macht. Stabilität in der Tiefe des erfahrenden Selbst wird somit zur Basis für einen Kopf, dessen freier Geist ein bewusstes Denken generiert. Dieses Ziel ist letztlich für eine selbstreflektierte Gesellschaft notwendig, so die Autoren, die damit zugleich auch eine positive Antwort auf die Ausgangsfrage des Projektes geben, ob nämlich Hochschule noch adäquates Wissen vermitteln kann, wenn die beschriebenen und sich beschleunigenden Veränderungsdynamiken überhandnehmen. Als verantwortungsvolle Institution muss es ihr neben der Vermittlung von Fachwissen auch um die Weiterentwicklung der Hochschule und ihrer Studierenden gehen. Die Meditation bietet hierfür eine „gute Alternative“, denn durch sie werden in drei Trainingsschritten Ruhe, Selbst-Fokussierung und bewusstes Handeln möglich. Die Chance besteht in der Einübung eines klaren Geistes vor der hastigen Kulisse gewinnbringender Ereignisse mit immer kürzerer Halbwertszeit. Das aus klarem Geist geborene Denken ist dabei per se reflektiert.

„Denken und Wahrnehmen“ sollen auf der Grundlage einer regelmäßigen Meditationspraxis unvoreingenommen beobachtet werden können. Die Leerheit beziehungsweise Klarheit des Geistes, die dabei erfahren werden kann, soll erlebbar machen, wie sehr wir im üblichen Alltagsfunktionieren mit unserem Denken und Handeln identifiziert sind. Ständig unterliegen wir Bewertungen und nehmen selbst welche vor. Die Reflexion darüber, vom Fixpunkt der Klarheit des Geistes aus betrachtet, macht eine ganz andere Orientierungserfahrung möglich. Die oftmals negative Identifikation mit automatisierten Gedankenmustern wird durch die Beobachtung aus der eigenen Mitte heraus erkennbar: „Statt wie bisher im unbewussten Strom der Gedanken zu treiben, werden wir uns unserer Geistestätigkeit bewusst.“ Damit verschwindet die Abhängigkeit vom beständigen und ungerichteten Strom äußerer und innerer Eindrücke, von Gedanken- und Erinnerungsketten. Der Mensch steht im Mittelpunkt seines klaren Bewusstseins und kann sein Denken als ein Instrument nutzen. Er erreicht „mentale Autonomie“. Der Nutzen liegt klar auf der Hand. Neben einer Zunahme an Denk- und Handlungseffizienz werden Stressoren reduziert, weil nicht mehr jedem beliebig auftauchenden Gedanken gefolgt werden muss. Es kann klar unterschieden werden zwischen dem, was hilfreich ist und was nicht. Gemäß der uralten Zen-Weisheit, „wenn ich gehe, dann gehe ich“, weiß ich, dass ich hierzu im Moment meine Beine bewegen muss. Wenn der Satz fortführt, „wenn ich schlafe, dann schlafe ich“, weiß ich, dass es vollkommen unsinnig wäre, jetzt immer noch die Beine zu bewegen. Jedem wird dieses schlichte Prinzip einleuchten. Dennoch wird selten vom physischen Funktionieren auf das mentale Funktionieren rückgeschlossen. Das einseitige Training des Mentalmuskels führte eine Identifikation herbei, die das klare Gewahrsein bis an den äußersten Rand der Wahrnehmung gedrängt hat. Der Gewahrseinsmuskel muss wieder trainiert werden; dies ist letztlich das Anliegen des Projektes.

Ziel ist es jedoch nicht, dass sich das Versuchsprojekt als abseits und vereinzelt stehend etabliert. Ganz im Gegenteil, selbst wenn noch nicht klar ist wie, und das ist letztlich dem Pioniercharakter geschuldet, soll Meditationspraxis in den regulären Lehrplan integriert werden. Meditation soll im Hier und Jetzt des Studierendenalltags ankommen. Nur so ist gewährleistet, dass nicht ein weiteres Wellnessareal geschaffen wird, sondern ein Selbst-Standing, das inmitten der tagtäglichen (schulischen) Anforderungen besteht, die die Digitalisierung noch verstärkt. Die Autoren legen fundiert dar, wie „endlich“ die „kognitive Struktur“ ist. Wie längst bekannte Forschungsergebnisse über die Kapazitäten des Menschen berichten, kann er nur 7 ± 2 „Gedächtniseinheiten“ zugleich verarbeiten. Allein dieses Beispiel genügt, um zu begreifen, dass die erzeugten Datenmengen mit den Gehirnkapazitäten nicht korrelieren können. Die Machart des Menschen unterwirft ihn einer gewissen Selektion und Fragmentierung hinsichtlich der über ihn schwappenden Informationsfluten. So wird konsequenter Weise ins Feld geführt, dass die hochtechnisierten „Super-Maschinen“ im ersten Schritt Erleichterung versprachen und im zweiten Schritt nun ihrer selbst bedürfen, um die eigens erschaffene Komplexität zu beherrschen. Solchem Verständnis nach sind die Maschinen kein Gegensatz zur menschlichen Natur, sondern dessen fortgeführte natürliche Evolution mit neuen oder erweiterten Strategien.

Was unterscheidet den Menschen von der Maschine? Auch diese Frage darf neu gestellt werden. So wie sich die Bezugswelt beider verändert, verändert sich womöglich die Antwort darauf. Beide existieren und kooperieren in einem Prozess mit stets offenem Ausgang. Klar ist, dass das Feld der meditativen Praxis jenes ist, das eigens dem Menschen vorbehalten ist. Das Bewusstseins- und somit das Erfahrungsfeld jenseits des Denkens kann von keiner Maschine imitiert werden. Dieser Raum kann als frei von automatisiert ablaufenden Gedanken- und Erinnerungsketten, das heißt frei von maschineller Rhythmik, erfahren werden. Diese Freiheit liefert die Grundlage, auf der sich die Autoren für eine Weiterentwicklung der Hochschule einsetzen. Grundlagenwissen und Ausbau des technischen Wissens ja, aber nicht auf Kosten eines zwanghaften Geistes und der Non-Fokussierung. Wirklich Neues kann verantwortungsbewusst nur aus der Freiheit eines klaren Geistes heraus kreiert werden. Hier sollte der Orientierungspunkt angesiedelt sein, von dem aus bewusstes Denken und Handeln erfolgt. Damit sollte auch die wichtige Frage nach dem Umgang mit der begrenzten mentalen Kapazität der Menschen beantwortet sein: „Wie können sie es schaffen, ihre Aufmerksamkeit fokussiert und dadurch vertieft auf ein Objekt – und eben nicht auf mehrere gleichzeitig – zu richten? In einer diversen Welt vielfältigster Angebote und entsprechender Anforderungen braucht es vor allem die Kompetenz, sich nicht (von sich selbst) andauernd ablenken und (dadurch) überfordern zu lassen.“ Nur so bleibt der Mensch mental gesund und handlungsfähig. Überforderungskrankheiten wie der typische Burn-out bleiben aus. Die eigene Leistung der „Reduktion“ wird zum Erfolgsgaranten.

Die Autoren schildern detailliert, wie sie das visionäre Selbstprojekt in den Hochschullehrplan integriert haben. Es folgt eine kurze Darstellung der „Zugänglichkeit“, der „Lernmethode“, der „Zeitlichen Struktur einer Sitzung“ und der „Lernerfolgsmessung“. Als erfolgsversprechend wird verzeichnet, dass es für das neu eingeführte Modul „Meditation als kulturelle Praxis“ mehr Interessenten als Plätze gab. Zudem weist das Feedback der Studierenden aus, dass die zufällig konzipierten Teams sehr konstruktiv und offen zusammengearbeitet haben. Mitunter, so wird berichtet, erleben dies einige Studierende zum ersten Mal während ihres Studiums. Als Erkenntnis- und Erfahrungshintergrund liefern die Autoren präzise verdichtetes Basiswissen zur Meditation über verschiedene Zugangsfelder wie „Philosophie“, „Wirtschaft“ und „Religion“. Die kurze Darstellung zur Methodik der Meditation dürfte auch für den Ungeübten nachvollziehbar sein, da der Weg zum „Selbst hinter dem Selbst“ Schritt für Schritt beschrieben wird. Hier liegt der Fokus wirklich auf dem „Beschreiben“ des Erfahrungsweges und nicht auf einem intellektuellen Erklären, da der besagte Raum der Leerheit hinter dem Gedankenstrom, aus dem der Geist Klarheit und Achtsamkeit generiert, nicht durch den Intellekt betreten werden kann. Dies ist schlichtweg nicht seine Sphäre.

Die Diskrepanz zwischen dem, was die Gedanken dem Ich sagen und dem, was tatsächlich ist, führt zu einer illusorischen Sicht auf die Welt. Ein unfokussierter Geist kann nicht klar sein. Er schafft aus sich selbst heraus tausenderlei Zerstreutheit und Dingbezogenheit, die Energieverlust und Verwirrung fördern. Ein nicht mit sich selbst identifiziertes Denken und Begreifen, dass die Gedanken nicht das Selbst sind, lässt sich im leeren Raum der meditativen Gewahrsamkeit finden. Mit anderen Worten: Das, was Wissenschaft, Hochschule und Bildung fordern, nämlich ein freies, unabhängig denkendes Subjekt, das den sich stetig verändernden Bedingungen seiner Umwelt angemessen entspricht, macht Meditation geradezu notwendig. Sie bleibt eine lebenslange Übung, die die Chance beinhaltet, „Meister seines eigenen Geistes zu werden“. Die drei anvisierten Ziele des Selbstprojektes „Leidensverminderung“, etwa durch „Stressabbau und körperliche Entspannung“, „Selbsterkenntnis“ und „Erhöhung der geistigen Autonomie“ wurden am Ende positiv ausgewertet. Die Studierenden wurden darin unterstützt, infolge der Selbsterkenntnis „sie selbst sein“ zu können; das meint, dass eine Trennung zwischen beruflicher Rolle und Privatperson minimiert oder gar ganz aufgehoben wird. Die Integration verschiedener Persönlichkeitsanteile in das durch meditative Praxis gestärkte Selbst ist eine der großen Kraftreserven, die nicht nur dem Einzelnen, sondern auch den Teams und letztlich der Gesellschaft zugutekommen. Ein Nebeneffekt ist es, Freude zu erleben bei dem was man tut, weil es einem wirklich entspricht.

Die „Verstandesgesellschaft“, die wir im Augenblick sind, ist keine, die sich das Markenzeichen der „Ganzheitlichkeit“ auf die Fahnen schreiben dürfte, so der kritische Einwand des Buches. Es wurde trainiert, sich „im Kopf aufzuhalten“ und so haben wir „verlernt“, Bestimmtes jenseits der Logik in unsere Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Das Ergebnis einer auf Konkurrenz und Ego-Zentriertheit beruhenden Leistungsgesellschaft sind unter anderem Erkrankungen wie Burn-outs, Depressionen, Ängste, Schlaflosigkeit. Die Lösung kann also nicht in einem Noch-mehr an Rationalität liegen. Um Geist und Verstand auszubalancieren, braucht es die Übung zur „Entleerung des Geistes“. Der Geist erwirkt durch eine solche Praxis eine leere Leinwand, auf der achtsamkeitsgelenktes Denken wesentlich freier und reibungsloser funktioniert als bei einer Überfrachtung durch Achtsamkeitszerstreuung.

Dem Zuviel der Social-Media-Ansprüche gibt das Selbstprojekt der Hochschule ein wirksames Instrument an die Hand. Gleichwohl wird betont, dass damit nicht auf eine erneute Leistungssteigerung abgezielt werden soll, sondern auf eine echte und dem Bildungsauftrag entsprechende Persönlichkeitsschulung. Dafür ist es nötig, „sich selbst als anwendungsorientiertes Forschungsprojekt zu begreifen“. Die Praxis der Meditation und das Erkennen des leeren Geistes führen das Selbst in die Klarheit des Hier und Jetzt. Dieser zunächst neutrale Standpunkt ist sowohl Ausgangs-, Orientierungs- und Reflexionsort für bewusstes Denken und bewusstes Handeln. Hieraus ergibt sich das stark anwendungsorientierte Verhalten des Einzelnen, das, wie man unschwer erkennen kann, mit einem Rückzug aus Handlungen nichts zu tun hat. Jedoch versetzt erst die Neutralität in die Lage, Entscheidungen zu treffen, die frei von mentalen und emotionalen Verstrickungen sind. „Freiheit“ und „Verantwortung“, die damit einhergehen, korrelieren mit einem didaktischen Anspruch, durch den sich die Hochschule der Zukunft auszeichnen muss. Womöglich ist solch eine Innenperspektive ungewöhnlich und, wie es das Projekt anvisiert, man wird um einen Selbstversuch nicht umhinkommen; dennoch stellt Meditation zur Weiterentwicklung des Bildungssektors eine echte Option dar.

Titelbild

Frank E.P. Dievernich / Gerd-Dietrich Döben-Henisch / Reiner Frey: Bildung 5.0. Wissenschaft, Hochschulen und Meditation.
Das Selbstprojekt.
Juventa Verlag, Weinheim 2019.
114 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783779960515

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