Halb und halb
Ulrich Kittstein legt im Jubiläumsjahr eine umfangreiche Studie zum Werk und Leben Gottfried Kellers vor
Von Peter C. Pohl
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass Gegenstand und Darstellungsweise in ein oft fruchtbares, bisweilen problematisches Verhältnis treten, gilt nicht nur für den Gegenstand der Studie Gottfried Keller. Ein bürgerlicher Außenseiter, sondern auch für den darin gewählten Weg, Werk und Leben des Schweizer Realisten anlässlich seines 200. Geburtstags zu repräsentieren. Ulrich Kittstein schreibt eingangs, die Monografie „bietet weder eine chronologische Lebensbeschreibung nach dem klassischen biographischem Muster noch eine systematische, nach Texten oder Textgruppen gegliederte Darstellung des Oeuvres [sic!] […]. Statt dessen stellt sie Kellers Gesamtwerk unter gewissen thematischen Schwerpunkten und im Horizont des sozialen, politischen und geistesgeschichtlichen Umfelds seiner Epoche vor“. Eine an den Zeit- und Lebensthemen Kellers orientierte Werkrepräsentation ist zwar eine Mammutaufgabe, profunde Werkkenntnis ist dem Autor aber nicht abzusprechen, denn Kittstein hat sich durch andere Publikationen in der Keller-Forschung bereits hervorgetan. Und auch in dem voluminösen Band trägt die intensive Bekanntschaft mit der Lyrik und Prosa Kellers interessante Früchte, kluge Einzelbeobachtungen finden sich da und dort, längere Analysen und Zusammenfassungen vermögen zu unterhalten und zu überzeugen.
Allein: So ganz geht der Plan nicht auf, so richtig fügen sich die Komponenten – Leben und Kontext einerseits, Werk andererseits – nicht zusammen. Das hat mehrere konzeptionelle Gründe, die zu einem zwiespältigen Gesamteindruck führen. Unklar ist beispielsweise der Adressatenkreis des Textes. Die biografisch, ideen- und sozialgeschichtlich gefärbte Einführung ins Werk weist sowohl Momente einer populär- als auch einer fachwissenschaftlichen Monografie auf. Räumt ersteres gern genutzte stilistische und philologische Freiheiten ein – die Diktion ist (bisweilen zu) eingängig, die (Auswahl-)Bibliografie schmal –, führt letzteres dazu, starke, allgemeine Thesen zu präsentieren, die wegen der methodisch-sprachlichen Lizenzen unausgeführt wirken. Aus der doppelten Adressierung des doppelt angelegten Unternehmens resultieren so zwangsläufig Halbheiten, die den Lesefluss in beiden Perspektiven stören: Aus fachlicher Sicht hätte man sich eine etwas genauere Darlegung der Terminologie, eine intensivere Diskussion der Forschung und eine präzisere Rekonstruktion des historischen Kontexts, zum Beispiel des ökonomischen Diskurses oder der historischen Geschlechterordnung, gewünscht. Aus Sicht des an Kellers Leben und Werk interessierten Laien wäre dagegen eine souveränere Darlegung attraktiver, in der philologische, theoretische, sozialgeschichtliche Aspekte zugunsten einer stärker narrativen Biografie in den Hintergrund treten.
Das Oszillieren und die Halbheiten möchte ich an drei Beispielen, der gewählten Terminologie und Theorie, den Forschungsreferenzen und der Ausdrucksweise, erläutern. Die „gewissen thematischen Schwerpunkte“, wie es hier noch diffus heißt, werden später zwar unter der „Frage nach dem Bürgerlichen bei Keller“ subsumiert, die als „Leitlinie“ diene. Weil der zentrale Begriff der Bürgerlichkeit aber unterbestimmt bleibt und weder anhand von soziologischen oder sozialgeschichtlichen noch anhand verfügbarer Forschungsarbeiten zu Keller ausführlich diskutiert wird, handelt es sich eher um eine Verlegenheitslösung. Die betrifft auch die theoretischen Rahmungen, die man eher erahnen muss. Wenn es um die Familie und die „Geschlechterrollen“ geht, scheinen sie Sigmund Freuds Psychoanalyse entnommen, für die Überlegungen zur bürgerlichen Welt könnte hingegen Max Weber Pate gestanden haben. Der Vorliebe für in die Jahre gekommene Großtheorien gesellen sich analoge Neigungen im Hinblick auf die Forschungsliteratur hinzu. Kaiser, Menninghaus, Preisendanz und Thomé haben hier Verdienste, ob sie „für die Liebeswirren und Geschlechterrollen“ in Kellers Werk noch heute als allererste Wahl firmieren, darf allerdings bezweifelt werden. Die einzige neuere Publikation zu „einzelnen Werken und Themenschwerpunkten“ stammt in der Auswahlbibliografie dann bezeichnenderweise von Kittstein selbst, der das von Ursula Amrein herausgegebene Keller-Handbuch in einer Fußnote gleichwohl dafür rügt, dass es, „die Beiträge der Forschung nur sehr selektiv berücksichtigt“. Wo nicht mehr ganz so alte Begriffe wie „symbolische Ordnung“ oder „Habitus“ fallen, kommt es zu keiner Herleitung. Bei letzterem handelt es sich aber auch gar nicht um das Bourdieu’sche Habituskonzept – eine eigentlich naheliegende Wahl, da die differenzierte Feld-Theorie Bourdieus die Ästhetik des alternden, erfolgreichen Realisten als Ergebnis ökonomischer und symbolischer Konsekration hätte schärfer fassen können –, sondern um etwas, das Kittstein „den seelischen Habitus“ nennt. Zugleich haben die unproblematisiert übernommenen älteren Begriffe und Forschungsresultate auch einen Vorteil: Sie fungieren als Leitplanken, entlang welcher sich die Zusammenfassungen der Prosawerke flott bewegen. Man liest sich zügig durch die Studie. Verstärkt wird dieser Effekt auch durch stilistische Aspekte: Exklamationen, rhetorische Fragen und die häufige Verwendung von milde wertenden Adjektiven und Adverbien erhöhen die Lesbarkeit. An einzelnen Stellen wirkt deren Ballung jedoch schulmeisterlich; und die Wertungen bleiben, wohl auch aufgrund der überholten Theoriereferenzen, eigentümlich brav.
Die Stärken der Studie liegen daher gewiss darin, den interessierten, aber unkundigen Leser viele Aspekte des Gesamtwerks ausführlich zu zeigen. Insbesondere die Novellen-Zyklen und der Grüne Heinrich werden facettenreich präsentiert. Nun findet sich vieles davon bereits in dem von Kittstein verfassten Reclam-Bändchen zu Keller, auf dem die Studie aufzubauen scheint. Es fragt sich deshalb, weshalb man 300 Seiten mehr lesen soll, wenn vergleichbare Resultate leichter zu erlangen sind. Ein Argument, das für die Studie spricht, ist zweifelsohne, dass sie den Nerv der Zeit trifft. Zum einen ist alle Kritik an dem Vorhaben durch den Sachverhalt relativiert, dass eine aktuelle (Werk-)Biografie nicht vorliegt und die Arbeiten von Ermatinger, Kaiser oder Wysling weiterhin relevant sind. Zum anderen ist der Versuch, über die Differenzierung wesentlicher Themen unter dem Oberbegriff des Bürgerlichen zu einem vollständigeren Bild des Lebens und Werks Kellers zu gelangen, durchaus innovativ.
Auch stellt die Aufteilung des Bürgerlichen auf die Unterthemen Säkularisierung (behandelt im ideengeschichtlichen Feuerbach-Kapitel), ökonomische Ausrichtung, Kernfamilie und Geschlechterrollen sowie politisches Wirken eine analytisch annehmbare Differenzierung dar. Nur wären sowohl die einzelnen Punkte genauer zur reflektieren als auch ihre Gewichtung untereinander für das Konzept von Bürgerlichkeit systematischer anzugehen. Aufgrund der Aktivierung der Freud’schen Terminologie (in ihrer einfachsten Form), der Setzung der polaren bürgerlichen Geschlechterordnung (man fühlt sich oft an Hausens zentrale Studie erinnert) und der oberflächlichen Darstellung von Ökonomie (ein Thema, das, im Bild zu bleiben, in der Literaturwissenschaft einen erheblichen Boom erlebte) treten aber Darstellungsweise und Inhalt in das angesprochene problematische Verhältnis zueinander. Es ist Kittsteins Schluss unbedingt zuzustimmen, dass Kellers „sinnliche Fülle und gedankliche Vielschichtigkeit“ in der Behandlung des Themas Bürgerlichkeit „das Studium seiner Werke auch noch im 21. Jahrhundert zu einem einzigartigen ästhetischen und intellektuellen Vergnügen“ machen. Die Meinung jedoch, dass die Erklärung des Sachverhalts – warum fasziniert Keller gerade im 21. Jahrhundert? – noch aussteht, kann sich auf die konventionellen Inhalte der unkonventionell angelegten Studie stützen. Ein überzeugendes Bild des „bürgerlichen Außenseiters“ für LeserInnen des 21. Jahrhundert ist ihr nur zur Hälfte gelungen.
|
||