Russland brennt, Iran brennt

„Sentimentale Reise“ von Viktor Schklowskij liegt erstmals vollständig auf Deutsch vor

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn hierzulande vom Ersten Weltkrieg als der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ die Rede ist, assoziiert die Mehrheit der historisch Interessierten sie meist mit Ereignissen, die das eigene Land betreffen. Stellungskrieg, Seeblockade, Steckrübenwinter, Waffenstillstand, Novemberrevolution und die Ausrufung der Republik sind einige wenige Schlagwörter, die man mit der Entwicklung im damaligen Deutschland verknüpft. Abgesehen von Europa und Russland, wo 1917 die Revolution ausbricht, Zar Nikolaus II. abdankt und die provisorische Regierung unter Alexander Kerenski den Kampf gegen die Mittelmächte fortsetzt, ist das Wissen über die Geschehnisse im Rest der Welt eher gering. Welche Folgen hat der Ausbruch des Krieges in Südamerika? Was passiert in Indien und Afrika, von wo aus die britische und französische Armee eine Vielzahl an Soldaten gegen die Mittelmächte an die verschiedenen Fronten nach Europa und in den Nahen Osten schicken?

In diesem Kontext fällt eine Veröffentlichung unter vielen ins Auge, die in den vergangenen Jahren anlässlich der 100-jährigen Wiederkehr der Russischen Revolution erschienen sind: 2017 hat der Verleger der Anderen Bibliothek, Christian Döring, das Buch Sentimentale Reise des russisch-jüdischen Schriftstellers Viktor Schklowskij (1893–1984) zum ersten Mal vollständig auf Deutsch herausgebracht. 1923 auf Russisch während Schklowskijs kurzer Exilzeit in Berlin erschienen, lag es bisher – und längst vergriffen – in einer deutschen Übersetzung von 1965 vor, die „mehrere, teils umfangreiche Auslassungen“ aufweist, wie es in der editorischen Notiz der Neuausgabe heißt.

Das Singuläre an Sentimentale Reise ist, dass Schklowskij darin die Erlebnisse und Erfahrungen verarbeitet, die er im Ersten Weltkrieg in Russland, im Nordiran sowie in der Zeit des Bürgerkriegs in seiner Heimat, in den Jahren 1917 bis 1922, gemacht hat. Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt muss man nach einem Werk mit einem solchen Iran-Bezug länger suchen. Schklowskij berichtet konkret von seinen Aktivitäten in Petrograd, seiner Heimatstadt, während der Februarrevolution sowie von seinen Erlebnissen an der Ostfront, wo er als Kommissar der provisorischen Regierung mitwirkt, die vom Krieg erschöpften Soldaten der russischen Armee neu für den Kampf gegen die Deutschen und Österreich-Ungarn zu gewinnen, indem er selbst mit an vorderster Front kämpft.

Schklowskij berichtet des Weiteren von seinem Einsatz bei der Abwehr des Putschversuchs von General Lawr Kornilow gegen Kerenski, von seinem Einsatz in Iranisch-Aserbaidschan, als es darum geht, den russischen Abzug aus dem eigentlich neutralen Iran zu organisieren und von seiner Teilnahme am bewaffneten Kampf gegen die Bolschewiki in Petrograd. Schklowskij flieht in die Ukraine, kämpft für den von den Deutschen unterstützten Hetmann Pawlo Skoropadskyj, wechselt auf die Gegenseite und kehrt später wieder in das von den Bolschewiki beherrschte Gebiet zurück. In Petrograd heiratet er, schreibt literaturtheoretische Texte, geht erneut in die Ukraine und kämpft diesmal auf Seiten der Roten Armee gegen die Truppen der Weißen. In seiner Heimatstadt wird er zum Professor für Literaturtheorie berufen und wohnt hier mit anderen Schriftstellern in einer Art Kommune zusammen. Als sich die Lage für Künstler daheim erschwert, flieht er nach Finnland.

Der Inhalt der Sentimentalen Reise soll hier nur kurz skizziert werden. Der Text ähnelt – man kann es nicht anders sagen – einem Monumentalgemälde. Die geschilderten Ereignisse und Erlebnisse sowie die Figuren, die auftreten, können aufgrund ihrer Fülle nur angedeutet werden. Schklowskij schreibt größtenteils szenisch und sehr plastisch, so dass der Leser beständig an seiner Seite ist, so nah, dass man beinahe immer das Gefühl hat, regelrecht zu spüren, wie die Stimmung in der jeweiligen Situation ist. Anselm Bühling weist in seinem Nachwort zu Recht darauf hin, dass Schklowskij die Jahre zwischen 1917 und 1922 „nicht als Beobachter“ erlebt, sondern „von Anfang an handelnd involviert“ ist. Schklowskij ergreift immer wieder Partei, kämpft selbst mit der Waffe und tötet, er befiehlt, verteilt Waffen und ist auf diese Weise für weitere Tötungen mit verantwortlich. Auch deshalb ist der für seine Erinnerungen gewählte Titel, der eine Anspielung auf die 1768 erschienene Sentimental Journey Through France and Italy des von ihm geschätzten britischen Schriftstellers Laurence Stern (1713–1768) ist, höchstens ironisch zu verstehen.

Die von Schklowskij geschilderte „Reise“ ist wahrlich alles andere als sentimental. Die Welt ist, wie er eindrücklich und präzise schildert, durch den Ausbruch des Weltkriegs in ein Massenmorden und -sterben hinabgeglitten. Wir lesen von Umbruch und Revolutionsstimmung in Petrograd, von Tod, Kriegsmüdigkeit und Desertion an der russisch-deutsch-österreichischen Front, vom Leiden der verschiedenen Ethnien in Nordwestiran, den Verbrechen und Pogromen russischer Soldaten gegen die dortige aserbaidschanisch-türkische und kurdische Bevölkerung, vom Hunger und Verhungern im Iran wie in Russland, von Kälte und Erfrierungstod, vom Terror der Weißen und der Roten, aber stets auch vom Alltag der Menschen, der trotz des Weltkriegs irgendwie weitergeht. „Ich beschreibe nur Elend und noch mehr Elend. Ich bin es leid“, schreibt Schklowskij resigniert.

Wie hält man das alles aus – vor allem wenn man selbst beteiligt ist? So nüchtern Schklowskij all das Grauen fast durchgehend beschreibt, das er erlebt, so subjektiv ist er dennoch stets – und das ganz bewusst. „Mein ganzes Leben besteht aus Bruchstücken, die nur durch meine Gewohnheiten zusammengehalten werden“, schreibt er über den Versuch, dem von den äußeren Geschehnissen mitverursachten eigenen Lebens-Chaos einen Kitt zu geben. Das Schreiben dient aber auch dazu, das Gesehene, Erlittene und selbst Verschuldete zu ordnen, zu verarbeiten und im besten Fall wohl auch um einen Halt zu finden. „Wir sind Menschen, ihr seid Menschen. Und ich schreibe auf, welche Art Menschen wir waren“, heißt es an anderer Stelle an den Leser gerichtet. Schreiben, um Zeugnis abzulegen.

Anderorts äußert er: „Ich schreibe, ohne das Ufer aus den Augen zu verlieren, ich bin kein Wolf, der sich im Wald der Gedanken verlaufen kann, im Wald der von mir geschaffenen Wörter. Die Ufer bleiben in Sicht, rund um mich leben Menschen, kein Wortmeer schlägt über mir zusammen. Die Gedanken rennen und rennen, aber sie bleiben am Boden, sie heben nicht ab, wie ein falsch konstruiertes Flugzeug.“ Auch wenn diese Aussage für weite Passagen der Sentimentalen Reise zutrifft, finden sich zum Schluss mehrfach inhaltliche Wiederholungen und Aufzählungen etwa von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, mit denen Schklowskij in Petrograd Umgang hatte.

Hier hilft die Lektüre der ausführlichen Anmerkungen, in denen viele der in der Sentimentalen Reise aufgeführten Personen vorgestellt werden. Von Olga Radetzkaja, die für ihre Übersetzung des vorliegenden Werks für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert war, und Anselm Bühling sind im Anhang Texte abgedruckt, die lesenswert sind und einen Einblick in das Leben von Schklowskij geben, dessen Werk hierzulande größtenteils nur antiquarisch zu erwerben ist.

Die Herausgabe der Sentimentalen Reise ist gut und wichtig, da sie dem interessierten Publikum die hierzulande wenig bekannte Situation im Ersten Weltkrieg und in den Folgejahren in Russland, aber auch im Nordiran näherbringt. Jedoch muss in Bezug auf die Iran-Passagen zum Schluss noch auf einige Mängel hingewiesen werden. So spricht Schklowskij in seinem Buch durchgängig von „Persern“. Dass es sich in diesem Fall um keine Bezeichnung der Ethnie, sondern der Staatsangehörigkeit handelt, wird weder in den Texten noch in den Anmerkungen erklärt. Iran ist ein Vielvölkerstaat. Im Nordwesten des Landes leben auch heute aserbaidschanische Türken, Kurden und zu einem geringen Teil auch Angehörige christlicher Minderheiten. Perser der Ethnie nach leben dort kaum. Überhaupt werden „Persisch“ und „Iranisch“ in den Texten und Anmerkungen durchgehend gleichgesetzt, ohne dass die unterschiedliche Bedeutung beider Begriffe kritisch reflektiert wird.

Auch fehlt im Anhang ein zumindest kurzer historischer Abriss über die Lage des Iran vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, um die bei Schklowskij geschilderten Ereignisse kontextualisieren zu können. Die wichtige Information fehlt, dass der Iran 1914 trotz seiner Neutralität in den Krieg mit hineingerissen wird. Dieses Alleingelassen-Werden des Lesers, der sich mit der Geschichte Irans zu Beginn des 20. Jahrhunderts wenig oder nicht auskennt, ist bedauerlich, denn sie erschwert ihm die Lektüre unnötigerweise. Herausgeber und Mitarbeiter hätten die dazu vorliegende Literatur rezipieren können – und nicht nur die überschaubare deutschsprachige. Das Einbeziehen von Literaturen, Wissen und Sichtweisen nicht-westlicher Experten sollte – im besten Fall – als ein Gewinn für Neuausgaben wie die von Schklowskijs Sentimentaler Reise angesehen werden.

Titelbild

Viktor Schklowski: Sentimentale Reise.
Übersetzt aus dem Russischen und mit einer Nachbemerkung versehen von Olga Radetzkaja. Bereichert mit Anmerkungen und einem Nachwort von Anselm Bühling.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2017.
491 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783847703907

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