Judenhass, uralt und brandneu

Deborah Lipstadt liefert Analysen zur globalen Judenfeindschaft

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Judenfeindschaft zählt zu den Phänomenen unter der Sonne, die immer beides zugleich sind: uralt und brandneu. Obwohl der Begriff „Antisemitismus“ erst ab den 1870er Jahren für blanken Judenhass im Gebrauch ist, bezeichnet er einen mörderischen Gedanken- und Gefühlshaushalt, der mit dem Christentum entstanden ist. Über zwei Jahrtausende lang hat sich dieser Hass den veränderten Zeitläuften immer wieder anverwandelt. Die Historikerin Deborah E. Lipstadt, bekannt vor allem durch ihre stichhaltige und akribische Widerlegung von Holocaustleugnern, hat im Herbst 2018 ein Buch mit dem Titel Neuer Antisemitismus vorgelegt. Die sieben Kapitel widmen sich durchweg aktuellen Erscheinungsformen des Judenhasses. Hoffentlich setzt Lipstadts Buch einen Punkt unter die inzwischen gefährliche Debatte, ob es diesen neuen Antisemitismus überhaupt gibt. Denn es handelt sich dabei nicht nur um einen historischen und akademischen Gegenstand. Antisemitismus spielt sich auf den Straßen und Plätzen in liberalen Demokratien des 21. Jahrhunderts ab und Juden werden getötet – selbst in ihren Wohnungen – nur aus dem einen Grund, weil sie sind, was sie sind. Das ist neu am alten Antisemitismus.

Die deprimierende Weigerung einiger Wissenschaftler, Politiker, Behörden und NGO’s, diesen Antisemitismus als solchen wahrzunehmen, zu benennen, zu erforschen und Interventionsmöglichkeiten zu entwickeln, war und ist Teil des Problems. Denn das Leugnen, Bagatellisieren und Schönreden von Antisemitismus hat dazu geführt, dass er sich umso ungehemmter und ungestörter ausbreiten und verfestigen konnte. Das Buch Der neue Antisemitismus ist deshalb wichtiger denn je.

Lipstadts Konzept, ihren Ausführungen die Form eines fingierten E-Mailaustauschs mit einer jüdischen Doktorandin und einem nichtjüdischen Kollegen, aber auch mit britischen Studenten und einem Pariser Freund zu geben, ist äußerst ergiebig: Die sachkundigen Darlegungen der Hochschullehrerin erhalten den Charakter von Antworten auf gestellte Fragen, bewegen sich durchweg auf der Höhe des Zeitgeschehens und bekommen dadurch tagespolitische Brisanz. Die Studie wird so zugleich zu einem aktuellen Kommentar. Für eine wissenschaftliche Arbeit ist das ungewöhnlich, dem Gegenstand aber angemessen. Liegt der räumliche Schwerpunkt auf den USA, so werden daneben auch Großbritannien und Frankreich beleuchtet und damit der alte politische Westen. Doch Seitenblicke auf das von der PIS regierte Polen mit dem inzwischen entschärften Holocaust-Gesetz sowie die antisemitischen Attacken Viktor Orbáns auf George Sorros und seine Stiftung für eine offene Gesellschaft in Ungarn streifen auch zwei osteuropäische Staaten. Lipstadt hat einschlägige Studien zum Antisemitismus in Europa sehr genau gelesen. Zeitlich enden ihre Ausführungen im Sommer 2018.

Anders als so manche Stimme in den letzten Jahren behauptete, ist Antisemitismus ziemlich genau definiert: Es handelt sich um eine bestimmte Wahrnehmung von Juden in Wort und Tat, die unter anderem Hass ausdrückt. Diese Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die auch die Europäische Union und die Bundesregierung  als verbindlich anerkennt, liegt Lipstadts Buch zugrunde. Ferner bezieht sich die Autorin auf Helen Fein, eine amerikanische Sozialwissenschaftlerin, die Antisemitismus in den 1980er Jahren als „persistent“ und damit als „beständiges“, gegen Juden als Juden gerichtetes Phänomen gekennzeichnet hat. Lipstadt belegt anhand des Neuen Testaments die christliche Herkunft der Judenfeindschaft. Gleich eingangs warnt sie davor, die Dimension des Phänomens mittels Zahlen und Statistiken ermitteln zu wollen, denn quantitative Studien liefern nur Momentaufnahmen, veralten blitzschnell und unterliegen so genannten Primäreffekten, die oft nur sozial Erwünschtes zutage fördern.

Lipstadt nennt Antisemitismus einen „Wahn“. Damit befindet sie sich in der Tradition Theodor W. Adornos und der Kritischen Theorie. Adorno nannte antisemitische Projektionen „pathisch“. Gemeint waren geschlossene oder verriegelte Denk- und Fühlweisen, in denen der Antisemit weder sich selbst noch sein Objekt, also Juden, wahrnimmt, deutet und reflektiert und stattdessen nur unermüdlich eine Art fixe Idee wiederholt. Doch Antisemiten denken, fühlen und agieren so, als hätten ihre Vorstellungen einen Bezug zur Realität: Israelis töten gezielt palästinensische Kinder, weshalb wie im Jahr 2000 von einem palästinensischen und einem marrokanischen Jugendlichen auf die Synagoge in Düsseldorf Brandsätze geworfen werden dürfen; Juden sind reich, weshalb Ilan Halimi entführt und zu Tode gefoltert werden durfte, weil seine Familie das Lösegeld nicht zahlte. Weil Juden und der Westen das bevorzugte Feindbild von Islamisten sind, durfte Mohamed Merah im März 2012 neben Soldaten, die er trotz ihrer muslimischen Herkunft als Repräsentanten des französischen Staats ansah, jüdische Schulkinder und einen ihrer Lehrer in Toulouse erschießen; nach der gleichen Logik wurden vier Juden von einem Attentäter in einem koscheren Supermarkt im Januar 2015 in Paris erschossen; Juden sind satanisch, weshalb die pensionierte Ärztin Sarha Halimi in ihrer Wohnung im Jahr 2017 halbtot geprügelt und aus dem Fenster geworfen werden durfte; Juden kontrollieren die amerikanische Regierung, weshalb mit dem Mordaufruf „Tod den Juden“ im Dezember 2017 am Brandenburger Tor in Berlin gegen die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels protestiert werden durfte; Juden sind an allen Übeln dieser Welt schuld, weshalb die Holocaust-Überlebende Mireille Knoll im März 2018 in ihrer Wohnung erstochen werden durfte. Das ist die antisemitische Affektlogik. Nicht zufällig fragten sich viele nichtjüdische Deutsche nach der Lektüre und nach den Theateraufführungen von Anne Franks Tagebuch in den 1950er Jahren verwundert, wieso die Shoah geschehen konnte, obwohl sie sich noch sehr gut an ihre Selbstvergessenheit erinnern konnten.

Viele Holocaust-Überlebende dagegen fragten sich, wie selbstvergessen und gleichgültig man gewesen sein musste, um die Shoah zuzulassen. Spricht man vom antisemitischen Wahn, handelt man sich inzwischen oft den Vorwurf ein, Antisemitismus pathologisieren zu wollen. Man kann auf psychologisches Vokabular verzichten und die antisemitischen Gefühls- und Gedankenmuster mental und konzeptuell als geschlossene Wahrnehmungs-, Deutungs- und Darstellungsmuster beschreiben, die Urteile enthalten und Handlungen provozieren. Antisemitismus ist deshalb nicht einfach ein korrigierbares Vorurteil, wie es Lipstadt zuweilen nahezulegen scheint. Vielmehr hat Antisemitismus einen Welterklärungscharakter. Daher ist Judenfeindschaft so unlösbar mit mörderischen Ideologien der Moderne verknüpft, vom Nationalismus beziehungsweise Nationalsozialismus über den Kommunismus bis hin zum politischen Islam.

Lipstadt analysiert und kommentiert eine in der Tat beunruhigende Tendenz innerhalb liberaler Demokratien: die Rechts-Links-Spaltung des politischen Spektrums. Diese Polarisierung ist so gefährlich, weil sie das politische Tagesgeschäft liberaler Demokratien, dass auf Kompromissbildung und nicht auf einem Vernichtungskampf politischer Gegner beruht, tendenziell zum Erliegen bringt. Die demokratische Mitte einer Gesellschaft kennzeichnete in der westlichen Nachkriegsordnung ein antitotalitärer Konsens. Dieser Konsens war mit dem Begriff einer „offenen Gesellschaft“ gemeint, den Karl Popper 1945 geprägt hatte. Anfang der 1990er Jahre, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, warnte Popper nicht von ungefähr vor der Neuauflage einer Rechts-Links-Polarisierung. Eine multikulturelle Gesellschaft ist nicht per se eine offene, sondern erst, wenn sie die politisch-juristische Klammer einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung erhält. In Zweiparteiensystemen wie den USA mag eine zeitweilige gesellschaftliche Polarisierung noch halbwegs handhabbar sein. Doch in Mehrparteiensystemen ist sie – man denke an das Europa der Zwischenkriegszeit – demokratiegefährdend und antipluralistisch. Mehr noch: Sie fördert die Judenfeindschaft, weil ihr weder rechte noch linke Akteure unmissverständlich und unzweideutig begegnen. Das erläutert Lipstadt am gegenwärtigen US-Präsidenten Donald Trump und dem britischen Gewerkschaftler und derzeitigen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Mit der Frage, ob Trump und Corbyn jeweils Antisemiten sind, hält Lipstadt sich nicht auf. Sie ist in ihren Augen auch gar nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass weder der eine noch der andere Berührungsängste mit Antisemiten erkennen lässt und den Judenhass auf diese Weise gesellschaftlich und politisch akzeptabel macht. Darin besteht für Lipstadt das Problem. 

Eine nordamerikanische Spezifik besteht im tödlichen Rassismus der White-Power- und der White-Supremacy-Bewegung. Zwar sind beide in rechtsextremen europäischen Milieus präsent, wo auch der Ku-Klux-Klan eine symbolische Rolle spielt. Im Unterschied zu den USA ist der Rassismus gegen schwarze Menschen in Europa direkter mit dem Kolonialismus verknüpft. Während in den USA die Sklaverei und ihre traumatischen Folgen, die Lynchjustiz und die Bürgerrechtsbewegung sowie die Polizeigewalt gegen junge Schwarze im Vordergrund der Debatte stehen, widmet man sich in Europa seit kurzem endlich der Aufarbeitung der Kolonialisierung Schwarzafrikas durch eine Reihe europäischer Staaten im 19. und 20. Jahrhundert. Der Zusammenhang zwischen diesem Rassismus und dem Rasseantisemitismus, so toxisch diese Beziehung auch aufgrund der gegenseitigen Verstärkung gewesen ist, bleibt bei Lipstadt – wie auch schon in Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft – seltsam vage. Galt die Hautfarbe schwarzer Menschen als sichtbares Zeichen, so konnten sich Juden rasseantisemitischer Verfolgung besonders nach der Einführung der Nürnberger Gesetze und dem Zwang zum Sterntragen während der NS-Diktatur auch durch Taufe und Anpassung nicht mehr entziehen. Doch galten Schwarze als Angehörige einer „bloß“ minderwertigen Rasse; Juden dagegen als Angehörige einer Gegenrasse, die in den Augen der Rasseantisemiten physisch vernichtet werden musste, wenn die arische Rasse überleben sollte – so funktionierte  die rasseantisemitische Affektlogik als Kampf um Leben und Tod. Lipstadt verweigert sich der Opferkonkurrenz. Wenn sich manche schwarze Menschen in Nordamerika nur schwer einen Begriff vom mörderischen Charakter der europäischen Judenfeindschaft machen können, weil sie Juden als privilegierte Weiße wahrnehmen, die sie ausnahmslos zur Elite zählen, so scheint dies der Perspektive mancher postkolonialer Aktivisten und Vertreter der „Critical Whiteness“ hierzulande spiegelbildlich zu entsprechen.

Die Fatwa, die der iranische Revolutionsführer Ajatollah Chomeini im Februar 1989 gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie wegen seines Romans Die satanischen Verse (1988) erließ, stand jahrzehntelang im Schatten des Kollapses der Ostblockstaaten. Der Umgang mancher Schriftsteller und vieler Politiker mit dem Fall Rushdie dient Lipstadt dazu, die unheilvolle „Ja-aber“-Rhetorik zu analysieren: Zwar sei der Mordaufruf Chomeinis nicht akzeptabel, aber Rushdie habe seine Verfolgung durch Islamisten selbst provoziert. Sie tauchte in den letzten Jahrzehnten immer dort auf, wo Politiker eindeutig verurteilende Stellungnahmen zum politischen Islam vermieden haben. (Im Sommer 2015 las ich anlässlich eines Seminars mit Studenten der Universität Gießen Rushdies Satanische Verse und eine muslimische Studentin wurde wütend, weil Rushdie als Muslim aus ihrer Sicht hätte wissen müssen, welche Reaktionen er provozieren würde. Genau diese Gefühle kann man zum Anlass nehmen, die „Ja-aber“-Rhetorik zu diskutieren und beiläufig Grundsätze säkularer Gesellschaften und liberaler politischer Systeme zu erläutern.) Die „Ja-aber“-Rhetorik steht mit Antisemitismus insofern in engem Zusammenhang, als Juden aus politisch-ideologischer Perspektive oft mit dem „westlichen Imperialismus“ identifiziert werden. Lipstadt hat recht und es ist ein wichtiger Punkt, den sie anschneidet, den sie aber leider nicht ausführlich analysiert.

Ein wenig rächt sich das im Kapitel, das die antisemitische BDS-Kampagne und die „Israel Apartheid Weeks“ an nordamerikanischen Universitäten behandelt. BDS bedeutet „Boykott, Divestment, Sanctions“ (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) und ist eine im Jahr 2005 von palästinensischen Organisationen unter Führung von Omar Bargouthi ins Leben gerufene Bewegung, die sich die wirtschaftliche, kulturelle und politische Isolierung Israels zum Ziel gesetzt hat. BDS will den jüdischen Staat vernichten, auch wenn sie vorgibt, lediglich die gerechte Behandlung von Palästinensern durchsetzen zu wollen. Diese Formen des Boykotts jüdischer und später israelischer Geschäfte, Wissenschaftler, Künstler und Politiker begann im Nahen Osten bereits um 1900. Nach der Gründung des jüdischen Staates im Jahr 1948 intensivierten sich diese Bemühungen auf internationaler Ebene und waren bis zum Zusammenbruch des Ostblocks insofern erfolgreich, als dieser Israel unisono ablehnte und ideologisch bekämpfte. Auch hier steckte der Judenhass in der Ideologie. Der Antizionismus war innerhalb der internationalen Neuen Linken des Westens ab den 1970er Jahren nicht deshalb so stark verankert, weil der Zionismus unter den Diasporajuden von Anfang an auch kontrovers diskutiert worden war, sondern weil er sich nahezu bruchlos in die ideologischen Gleichsetzungen von Zionismus, Faschismus, Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus einfügte. All das war seit den frühen 1950er Jahren und bis zu seinem Ende Konsens im gesamten Ostblock. Dieser im Prinzip seit der Komintern unter Stalin populäre Propagandaschlager wurde in der akademischen Welt des Westens durch Edward Saids Arbeiten, vor allem durch seine Studien Orientalism (1978) und Culture and Imperialism (1993) intoniert sowie durch radikale Versionen der Culture Studies und der Postcolonial Studies orchestriert.

Es stimmt, dass es Juden in multikulturellen Gesellschaften immer am besten ging, wie Lipstadt ausführt. Aber das gilt nur eingeschränkt und auch nur für den Westen. Sowohl das zaristische Russland als auch die Sowjetunion waren multikulturell und dort hat die kulturelle Vielfalt Juden offenkundig nichts genutzt, da sie nicht durch Rechtsstaatlichkeit und demokratische, das heißt durch juristische und politische Strukturen flankiert und garantiert war. Zentral dabei ist aber der Umstand, dass es das Individuum sein muss – und kein ethnisches, kulturelles etc. Kollektiv –, das seine Rechte einklagen kann. Die zum Teil faktenwidrige Gleichsetzung der verschiedenen Ismen muss man schon aus Gründen der akademischen Redlichkeit auseinandernehmen – der Nahe Osten und vorher das Osmanische Reich waren nie Kolonien, der Zionismus nie eine Spielart des Faschismus oder des Rassismus (diese letzte bösartige Lüge wurde zwar von der UNO in den 1970er Jahren gestützt, aber später zurückgenommen).

Lipstadts uneingeschränktes Plädoyer für akademische Freiheit wirkt angesichts der hasserfüllten Umtriebe von BDS-Aktivisten an amerikanischen Universitäten großzügig. Sie hat recht, wenn sie die Praxis schwarzer Listen aufseiten der BDS-Gegner für inakzeptabel erklärt. Hinzu kommt, dass auf diese Weise gerade die für totalitäres Denken anfälligen Linken eine Gelegenheit erhalten, sich als Opfer stalinistischer Praktiken zu fühlen. Sie hat ferner recht, historische Analogien zurückzuweisen, die die BDS-Bewegung mit der Zwischenkriegszeit im Nahen Osten und in Europa verknüpft. Doch gerade an dieser Stelle reizt die Enthaltsamkeit der seriösen Historikerin zum Widerspruch: Gerade weil die palästinensische Nationalbewegung nie ihre tiefe historische Verstrickung in den Nationalsozialismus und Faschismus auf der einen und ihre Allianz mit der israelfeindlichen Politik der Sowjetunion und der Ostblockstaaten aufgearbeitet hat, ist sie verdammt dazu, immer wieder die gleichen erfolglosen Praktiken anzuwenden und vergeblich ein anderes Ergebnis zu erhoffen. Es handelt sich dabei um antisemitische Projektionen auf Israel und die typische Täter-Opfer-Umkehr. Mit der Hamas ist die palästinensische Nationalbewegung in die dritte totalitäre Ideologie des 20. Jahrhunderts verstrickt: den politischen Islam, der allerdings seit Amin el-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem, in der Geschichte der Palästinenser angelegt war. Die historischen Fakten so genau als möglich aufzubereiten, wäre eine Möglichkeit der aggressiven BDS-Kampagne im akademischen Milieu zu begegnen.

Antisemiten wird man damit weder überzeugen noch läutern. Doch um Antisemiten geht es nicht. Man muss vielmehr diejenigen erreichen und zum Nachdenken bewegen, die dem aufgesetzten Moralismus auf den Leim gehen, der in der faktenwidrigen und verlogenen Gerechtigkeits-Rhetorik der antiisraelischen Propagandisten steckt. Das geht am besten, indem man das faktische Leid derjenigen Palästinenser, die die Folgen der seit nunmehr einem Jahrhundert wiederholt falschen Politik ihrer Funktionärseliten – BDS gehört dazu – auszubaden haben. Es gibt westlich orientierte Palästinenser, die es als Partner zu gewinnen gilt. Kommt man auf die Gegenwart, muss man, auch das betont Lipstadt zu Recht, den Klippen heuchlerischer Israel-Solidarität geschickt ausweichen: Viktor Orbán, der den jüdischen Gemeinden im Land das Leben mit antisemitischer Propaganda und entsprechenden Plakatkampagnen schwermacht, kann kein Partner bei der Bekämpfung von Antizionismus und Israelhass sein.

Das Problem, das Lipstadt immer wieder sehr genau konturiert, besteht darin, dass erstens der aktuelle Antisemitismus durch eine Reihe rechter wie linker Ideologien sowie den politischen Islam praktisch frei Haus mitgeliefert wird, und zweitens dadurch die wichtige Allianzenbildung gegen Judenhass enorm erschwert wird. Zwischen Antisemitismus und der Gefährdung der liberalen Demokratie gibt es einen engen Zusammenhang, der sich historisch in Europa leicht nachweisen lässt. Nur liberale Demokratien garantieren ihren Bürgern als Individuen unabhängig von Geschlecht und Herkunft unveräußerliche Rechte. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum diese Staatsform unter vielen Juden so beliebt ist. Man muss die Bekämpfung des Antisemitismus mit der Verteidigung der liberalen Demokratie so eng wie möglich verknüpfen. Gern wird in jüngster Zeit betont, dass man gegen Antisemitismus kein Patentrezept habe, als hätte es je irgendwo auf der Welt dergleichen bei schwerwiegenden gesellschaftlichen Problemen gegeben. Aber es gibt klug geschriebene Bücher, die das Problem in lobenswerter Klarheit analysieren – ein solches ist Deborah Lipstadts Der neue Antisemitismus.

Titelbild

Deborah Lipstadt: Der neue Antisemitismus.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Pauli.
Berlin Verlag, Berlin 2018.
398 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013408

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