Paris, das Zentrum der europäischen Musikszene
Volker Hagedorn bietet kluge und mitreißende Einblicke in die Kultur des 19. Jahrhunderts
Von Martin Lowsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas 19. Jahrhundert ist die große Ära der Musik. Ihre Themen und Veranstaltungen werden durch und durch bürgerlich: Das Publikum vergrößert sich und verlangt, begeistert zu werden. Der Alltag, auch der politische, dringt in die Opern ein, die sich zu großen Ausstattungsstücken entwickeln. „Die Oper ist dem Realismus dicht auf den Fersen“, schreibt Hagedorn. Komponisten wie Gioacchino Rossini, Frédéric Chopin, Richard Wagner und Interpreten wie Niccolò Paganini reisen durch Europa, die Musikstile der einzelnen Länder befruchten sich gegenseitig. Paris ist der Wohnort oder das zeitweilige Lebensziel der Großen der Musik. All dies ist der Hintergrund und der Materialfundus für Volker Hagedorns neues Buch, das in sechs Kapiteln das damalige Paris beleuchtet. Es umfasst den Zeitraum von 1821, als Hector Berlioz, bei Grenoble aufgewachsen, in Paris eintrifft, und endet 1867, als sein Stern verblasst und er den Triumph von Camille Saint-Saëns vorausahnt, der sogar der Autor von Filmmusiken werden sollte. Hagedorn weist noch hin auf den sich anbahnenden Untergang von Kaiser Napoleon III., berichtet aber nicht mehr vom Krieg 1870/71; diesen „dumpfen Schlussakkord“, wie er sagt, erspart er sich.
Ansonsten aber geht sein Buch auf die politischen Fakten ein: auf die nachnapoleonische Restauration unter Karl X., die Juli-Revolution von 1830, als es zur Herrschaft des ‚Bürgerkönigs‘ kam und Frankreich beinahe demokratisch wurde, und auf die Februar-Revolution von 1848, den Ausgangspunkt des neuen Kaisertums. Erwähnt wird die materielle Not: Der größere Teil der Pariser Bevölkerung lebte in Armut. Für das Sterben und die kriminellen Umtriebe in der Zeit der Cholera 1832 gestattet sich Hagedorn sechs Seiten.
Vor allem aber geht es in Der Klang von Paris um die Musik, wobei, wie erwähnt, Hector Berlioz, dieser höchst vielseitige Komponist und Musikkritiker, als Leitfigur erscheint. Andere wichtige Personen sind, außer den bereits genannten, der in Deutschland, Italien und lange in Paris lebende Giacomo Meyerbeer, Franz Liszt mit seinem Gesprächspartner Frédéric Chopin, Jacques Offenbach, die Sängerin Pauline Viardot, der Chef des Pariser Opernhauses Louis-Désiré Véron und viele andere. Das Musiker-Register enthält 40 Namen und über 120 Werke, der hier wiedergegebene Stadtplan von Paris verzeichnet 30 Stätten, die zu besichtigen wären. Ein Höhepunkt des Buches ist die Beschreibung der Uraufführung 1831 von Meyerbeers Robert der Teufel, bei dem „reichlich Pyrotechnik“ und vor allem ein „Ballett frivoler Nonnen“ die Bühne beleben – man traut sich viel, jetzt nach der Juli-Revolution.
Unter Napoleon III. schreibt Jacques Offenbach – Hagedorn zählt ihn zu den Avantgardisten – die Politsatire Sultan Barkouf, eine komische Oper, in der ein Hund Vizekönig wird und das Hofschranzentum verspottet wird. Nach einigen Abmilderungen darf sie aufgeführt werden und wird durch ihre Musik, diese „erstaunliche Mischung aus Schmerz, Melancholie und Witz“ – laut Berlioz albern wie „ein Knallkörper“ –, zum Skandal. Ganz anders ist, kurz danach, die Musik Wagners. Die Pariser Aufführung seines Tannhäusers 1861 fällt beim Publikum durch, das sich damit gegen Napoleon III. auflehnt, der diese Opernproduktion angeordnet hat. Wagner verlässt Paris, er hat, so sein Gefühl, eine schwere Schlacht verloren, und er will nicht mehr wahrhaben, was er Paris verdankt.
Sehr viele Literaten erscheinen im Buch, von Victor Hugo und George Sand bis Gustave Flaubert und Charles Baudelaire (der für Wagner schwärmt). Zitiert wird auch das berühmte Finale von Honoré de Balzacs Vater Goriot, in dem der junge Eugène erfolgsgewiss auf das Häusermeer von Paris hinunterblickt und sagt: „Und nun zu uns beiden!“ Heinrich Heines Deutschland – ein Wintermärchen hat, zeigt Hagedorn, Meyerbeers Oper Der Prophet beeinflusst. Was das Französische im Buch angeht: Das Lektorat hätte sorgfältiger sein müssen; man liest „quatres [!] heures“, „empoissoneur“ (statt: empoisonneur, Vergifter) und andere Verschreibungen.
Hagedorn trägt seine Informationsfülle, die hier nur angedeutet werden konnte, in einem insgesamt schwungvollen Erzählton vor, wobei er Zitate aus Briefen, Rezensionen und Memoiren einbaut und manche Zusammentreffen frei ausschmückt. Zuweilen ist sein Stil fast betulich, etwa wenn er insgesamt drei Mal erklärt, dass Berliozʼ Anreise nach Paris 1821 viel langsamer verlief als 1867 (einst „vier Tage und Nächte“, dann per Bahn nur elf Stunden). Andererseits liebt er die krassen Formulierungen: Man erlebe einen „Applausorkan“, Liszts „Finger wissen seine Gedanken, ehe er sie denkt“, und auch: gegenüber vom Pariser Krankenhaus sei „die dreckigste Gegend der Stadt“. Auch wer kein Musikkenner ist, wird von Hagedorns Buch mitgerissen werden.
In Deutschland ist man geneigt, die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts von diesseits des Rheins her zu betrachten und vor allem Beethoven und Wagner zu feiern. Volker Hagedorns kluges Buch bietet uns eine andere, gründlichere Sicht, die von der damaligen Musik-Hauptstadt Paris.
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