Die Realität der Literatur

Warum die Kritik an Robert Menasse und Takis Würger doch berechtigt ist

Von Thomas BoykenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Boyken und Mario GotterbarmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Gotterbarm

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie stehen am Tresen einer Buchhandlung, geben das Buch, das Sie sich ausgesucht haben, der Buchhändlerin, die sie daraufhin zu Ihrer Wahl beglückwünscht: „Ach, der neue Roman von Takis Würger. Schön, dass Sie sich nicht von unserer Literaturkritik abschrecken lassen. Das ist doch allgemeine Paranoia bei uns. Erst Menasse, und jetzt Würger. Die Literatur darf das.“

Wie ist hier das Verhältnis von Fakten und Fiktion? Wenn wir zu Beginn unserer Überlegungen Fiktionalität einsetzen, um Sie einzuladen, eine bestimmte Szene zu imaginieren – zu imaginieren, wie sich ein Gespräch beim Kauf eines Buches entsponnen haben könnte – wozu tun wir dies? Ganz offensichtlich nicht, um Sie zu täuschen oder gar anzulügen. Vielmehr setzen wir die Fiktionalität als strategisches Mittel ein, um eine Kommunikation zu starten. Wir wollen Ihnen einen lebhaften Eindruck vermitteln, wie weit verbreitet die Vorstellung ist, dass die Kunst allgemein und die Literatur im Besonderen vollkommen frei sei in ihrem Umgang mit der Wirklichkeit; dass ein Künstler die Lizenz habe, zu erfinden, was er wolle, weil er ja ohnehin keine Behauptungen aufstelle, die einer Überprüfung standhalten müssten (anders als etwa ein Journalist oder ein Historiker). Und indem wir Ihnen dieses mithilfe dieser erfundenen Szene zeigen, haben wir zugleich schon einen Hinweis gegeben, dass die Trennung zwischen fiktionaler und faktualer Rede nicht besonders scharf sein könnte. Auch wenn in der Fiktionstheorie immer wieder behauptet wird, fiktionale Rede sei eine Rede im Modus des ‚Als-ob‘, also in gewisser Weise ‚spielerisch‘ und ‚unernst‘, weshalb sie auch nicht wahrheitsfähig sei: Unsere Intentionen sind ernst – wir wollen ernst genommen werden, und wenn wir unsere kleine Szene einleiten mit einem „Stellen Sie sich vor“, dann unterminiert dies gerade nicht unsere kommunikative Absicht, Ihnen etwas über die gegenwärtige (und ganz reale) Debatte mitzuteilen. Wir könnten die Szene, um noch überzeugender zu wirken, zum Beispiel auch rhetorisch weiter ausschmücken, sie noch realistischer machen, etwa indem wir Datum und Uhrzeit genau angeben, indem wir das Interieur der Buchhandlung detailliert beschreiben, ebenso die Verkäuferin. Je genauer wir die Situation beschreiben, desto leichter machen wir es Ihnen, einzutauchen in unsere erzählte Welt. Und wenn wir neben den Namen ‚Menasse‘ und ‚Würger‘ noch weitere Hinweise geben, die es Ihnen ermöglichen, in der erzählten Welt eine bestimmte Stadt, eine bestimmte Buchhandlung, womöglich eine bestimmte Verkäuferin zu erkennen, dann wäre unser kleiner szenischer Einstieg sogar zu einem kurzen Stück Schlüsselliteratur geworden. Sie könnten aus ihm auch einen Kommentar über diese Buchhandlung und über diese Verkäuferin ableiten.

Damit sind wir bei Robert Menasse und Takis Würger. Menasses Roman Die Hauptstadt und Würgers Stella sind in ihrem Realismus exemplarisch für eine gegenwärtige Kunst und Literatur, die einen geradezu unersättlichen ‚Realitätshunger‘ hat: Ständig begegnen wir Kunstwerken, die so konzipiert und gestaltet sind, dass wir Referenzen auf unsere Wirklichkeit erkennen können oder gar müssen. Eine entscheidende Frage der Interpretation ist damit auch immer, wie das spezifische Verhältnis von Fakten und Fiktionen tatsächlich ausfällt und wie wir es zu bewerten haben. Hyperrealismus, Dokufiktion, Semifiktion, Autofiktion, mockumentaries und scripted-realities sind Genre- und Formatbezeichnungen, die diesen Trend anzeigen, analytisch und systematisch jedoch nicht sehr hilfreich sind. In Anlehnung an die gegenwärtige rhetorisch-kommunikative Fiktions- und Fiktionalitätstheorie und die Arbeiten von Gregory Currie schlagen wir drei Analyseebenen vor, um besser zu verstehen, warum Menasse und Würger mit ihren Texten auf so massive und auch berechtigte Kritik gestoßen sind: Erstens den Autor als Kommunikator, der das ‚intentionale Profil‘ eines Werkes und damit die Rezeption maßgeblich bestimmt; zweitens Thema und Stil des Textes; drittens schließlich den Kontext, in welchem ein einzelner Text steht, wobei wir dazu auch das jeweilige (zeitgenössische) Publikum zählen.

Die Hauptstadt und Stella sind Romane. Diese Gattungsbezeichnung ficht jedoch nicht das intentionale Profil an: Es sind realistische Texte, d.h. beide Romane stellen einen expliziten Wirklichkeitsbezug her, der nahelegt, dass wir nicht nur ‚desinteressiert‘ imaginieren mögen, was erzählt wird, sondern dass wir auch von einer bestimmten Weltsicht und Interpretation von Geschichte überzeugt werden sollen. Bereits an dieser Stelle fällt es schwer, eine ausschließlich oppositionelle Vorstellung von fiktional versus faktual aufrechtzuerhalten. Menasse hat nicht umsonst auch in Essays und Gesprächen über seinen Roman behauptet, Walter Hallstein, der erste Vorsitzende der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, habe seine ‚Antrittsrede‘ in Auschwitz gehalten und dort die europäische Einigung als historische Lektion aus der Shoah abgeleitet. Der Figur Hallstein werden folgende Worte in den Mund gelegt: „die wirtschaftliche Verflechtung der Nationen [sei] nicht Selbstzweck zur bloßen Generierung von Wirtschaftswachstum“, sondern „notwendige Voraussetzung für den tieferen Sinn des Europäischen Projekts: in Zukunft nationalen Eigensinn und somit letztlich den Nationalismus zu verhindern, der zu Ressentiments und Aggressionen gegen andere, zur Spaltung Europas, zu Rassismus und letztlich zu Auschwitz“ führe. Die Botschaft, dass die Entwicklung einer supranationalen europäischen Institution die nicht nur historisch sinnfällige, sondern politisch zu begrüßende „Überwindung des Nationalismus, letztlich der Nationen“ sei, die einzig ein zweites Auschwitz verhindere – diese Botschaft ist auch die Kernbotschaft des Romans selbst. Gerade aufgrund dieses realistisch-intentionalen Profils ist es dann problematisch, dass Menasse Walter Hallstein einen Auftritt in Auschwitz andichtet und fingierte Worte in den Mund legt, denn er muss von seinen Lesern in diesem Zusammenhang erwarten, dass sie ihm aufgrund seiner ernsthaften Intention Glauben schenken.

Bei Takis Würgers Stella ist das realistisch-intentionale Profil noch leichter erkennbar, denn im Text selbst kommuniziert der Autor seinen Anspruch, wahre Aussagen zu treffen. Er beginnt seinen Roman über Stella Goldschlag gleich mit einer Präambel, die als Kontextualisierungs- und Leseanweisung gehalten ist: „Teile dieser Geschichte sind wahr. Bei den kursiv gedruckten Textstellen handelt es sich um Auszüge aus den Feststellungen eines sowjetischen Militärtribunals. Die Gerichtsakten liegen heute im Landesarchiv in Berlin.“ Sechzehn Auszüge, einige über eine Seite lang, sind in den Text montiert. Im Anschluss findet sich ein Quellenverzeichnis, in dem etwa auf historische Werke (z.B. zur Geschichte der Juden und der Gestapo), aber auch auf die Biographie von Peter Wyden über Stella Goldschlag verwiesen wird. Die Danksagung am Ende des Romans beginnt mit dem Satz: „Ich danke dem Landesarchiv Berlin für die Zeit, die ich dort recherchieren durfte.“ Über paratextuelle Kommentare wird ein expliziter Bezug zur historischen Wirklichkeit hergestellt – und zwar vom Autor Takis Würger selbst.

Schauen wir auf Thema und Stil bzw. formale Gestaltung der beiden Romane. In den Kontroversen wurde wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die künstlerische Verarbeitung der Shoah besondere Wahrhaftigkeit und damit einen besonderen Takt erforderten. So hat Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in seiner Kritik an Menasse geschrieben, Auschwitz sei der Inbegriff dessen, womit man, auch im vermeintlich autonomen Raum der Kunst, nicht spielen dürfe. Einerseits stimmt dieser auf Adornos Diktum zurückgehende Gedanke („Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“), der vor allem die Aporie im Umgang mit dem singulären Ereignis anzeigt, für das Ausschwitz paradigmatisch steht. Die Heftigkeit der Kritik an beiden Texten hängt gewiss mit dem Thema und der erzählerischen Umsetzung zusammen. Doch andererseits gibt das Thema der Shoah allein nicht den Ausschlag. Man denke etwa an die tragikomische Fiktionalisierung in Filmen wie Ist das Leben nicht schön? (1997) oder Zug des Lebens (1998), oder gar an die Farce Iron Sky (2012), in der die Nationalsozialisten auf der dunklen Seite des Mondes eine Kolonie gegründet haben und nun ihre Welteroberungspläne im Jahr 2018 mithilfe der amerikanischen Präsidentin umsetzen. Wir sagen: Dass Menasse und Würger mit ihren Romanen das Thema der Shoah auf ihre Weise verarbeiten, steigert zwar das empfundene Unbehagen, da es sich um ein besonders sensibles Thema handelt. Notwendige Bedingung für eine berechtigte Kritik ist hingegen die Intention des Autors und das intentionale Profil der Texte. Bei einer Tragikomödie, einer Farce oder einer Parodie ist das intentionale Profil vollkommen anders, und wir bewerten das Verhältnis von Fakten und Fiktionen auf eine andere Weise, die dem Autor mehr Freiheiten einräumt.

Besonders augenfällig dürfte dieser Sachverhalt mit Blick auf die erzählten Figuren ausfallen. Auch hier ist eine These zu formulieren, die der Skalierbarkeit von Fiktionalität Rechnung trägt: Je realistischer das intentionale Profil ausfällt, desto geringer ist der Grad an Fiktionalität. Damit ist aber eine (implizite) Forderung an den Autor verbunden: Gegenüber fiktiven Figuren, die als echte Personen im Werk zu erkennen sind, wird eine ‚Ethik der Referentialität’ eingefordert. Die gegenwärtige Rechtsprechung – etwa im Fall von Maxim Billers Esra, der aufgrund der durch den Roman verletzten Persönlichkeitsrechte seiner Ex-Freundin in Deutschland immer noch verboten ist –, ist aus unserer Sicht ein schlagender Beleg für unsere These. W.G. Sebald, der in den 1990ern mit seiner semifiktionalen Erinnerungsliteratur berühmt wurde, war aufgrund eines Einspruchs des Malers Frank Auerbach, der seinen Lebenslauf in den Ausgewanderten (1992) unrechtmäßig angeeignet und verzerrt sah, zu einer stärkeren Fiktionalisierung gezwungen. Eine Fotografie von Auerbach und die Abbildung einer Zeichnung Auerbachs, beides ohne Rücksprache mit dem Künstler in den ursprünglichen Text montiert, sind in späteren Ausgaben daher nicht mehr enthalten. Wenn nun etwa Gerhard Richter den Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck angreift, er hätte seine Biographie verzerrt – und wenn Takis Würger jetzt wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verklagt wird, dann sind dies vergleichbare Vorwürfe, die im Einzelfall zu prüfen sind. Dass es überhaupt zu dieser Situation kommt, liegt wiederum maßgeblich an der Kombination aus intentionalem Profil, Thematik und realistischem Stil.

Realistisch sind Texte, deren Ziel es ist, den Leser vergessen zu lassen, dass er sich eigentlich mit sprachlichen Zeichen befasst. Die fiktive Welt entfaltet so eine Sog- und Immersionswirkung, die die thematisierten Dinge, Räume und Figuren als wirklich erscheinen lassen. Besonders deutlich lässt sich dies am Roman von Würger herausstellen: Er schreibt denselben Reportage-Stil, für den Claas Relotius bekannt worden ist und der (retrospektiv) als ‚Kitsch‘ bewertet worden ist (bezeichnenderweise ist auch er ein Spiegel-Redakteur derselben Generation, Jahrgang 1985). Während Relotius vom Kitsch-Verdikt bis zur Aufdeckung seiner ‚Arbeitsweise‘ verschont blieb, wird die Diskussion um Würgers Stil von Beginn an heftig geführt. Unseres Erachtens liegt dies vor allem daran, dass man Relotius’ narrative Konstruktionsleistung nicht sehen wollte, weil man annahm, dass die Welt so ist, wie er sie beschrieb, während wir bei Würger von Beginn an wissen, dass er historische Wirklichkeit und die Fakten der Geschichte fiktionalisiert.

Stilistische Merkmale realistischen Beschreibens von Wirklichkeiten – Detailreichtum, Anschaulichkeit etc. – finden sich bei Menasse und Würger in großer Zahl. Wer sich zum Beispiel in Brüssel auskennt, kann die Handlung bei Menasse vor Ort nachvollziehen, so genau sind die Wege der Figuren beschrieben. Gleichzeitig nimmt Menasse gleich zu Beginn seines Romans auch metafiktionale Reflexionen auf, die das Erzählen selbst thematisieren. Diese Reflexionen führen nun gerade nicht zur deutlichen Markierung der Fiktionalität des Romans. Sie verweisen vielmehr auf eine widerständige Wirklichkeit, die vor jeder sprachlichen Verarbeitung schon da ist: „Das ist kein guter Anfang für einen Roman. Andererseits: Es kann keinen guten Anfang geben, weil es, ob gut oder weniger gut, gar keinen Anfang gibt.“ Jeder Autor muss einen Anfang setzen, der zwingend das Davor, das es immer auch gibt, ausblendet. „Denn jeder denkbare erste Satz ist bereits ein Ende – auch wenn es danach weitergeht. Er steht am Ende von Abertausenden Seiten, die nie geschrieben wurden: der Vorgeschichte.“

Kommen wir zum Kontext, der weitesten Kategorie, deren Konkretisierung nur vorläufig sein kann: Ausgangspunkt ist zunächst die Erkenntnis, dass die Interpretation von Kunst und Literatur grundsätzlich einer Hermeneutik bedarf, die den Einzelfall als Einzelfall anerkennt. Auch Literatur und Kunstwerke lassen sich – auf pragmatischem Fundament – konzeptualisieren als (sprachliche oder nicht-sprachliche) Äußerungen in einem spezifischen kommunikativen Kontext, der mitbestimmt, wie die Äußerung zu interpretieren ist. So ist denn auch die raum-zeitliche, kulturelle, weltanschauliche Nähe (oder Ferne) des Publikums ein weiterer wichtiger Faktor, der über die Stärke des Wirklichkeitsbezugs entscheidet. Je näher die Handlung im Hier und Jetzt der zeitgenössischen Rezipienten verortet ist, desto leichter kann der Leser Bezüge zu seiner Wirklichkeitserfahrung und seinem Hintergrundwissen herstellen und desto leichter können Texthorizont und Leserhorizont ‚verschmelzen‘ (Hans-Georg Gadamer). Je leichter diese Bezüge herstellbar sind, desto wahrscheinlicher ist ein Widerspruch des Publikums, wenn die Rezeptionserwartungen enttäuscht werden.

Menasse beschreibt unsere politische Gegenwart. Daher nehmen wir Anteil und kritisieren seinen Roman, wenn wir mit seiner Geschichtsdeutung nicht einverstanden sind. Zurecht: Denn einerseits verweigert er den politischen Dialog, indem er Auschwitz zu einer moralischen Immunisierung seiner Position einsetzt. Andererseits wirft er Nationen, Nationalismus und Rassismus in einen Topf – also ob jeder, der an der Idee der Nation festhält, zwingend ein Nationalist und gar Rassist wäre. Takis Würger kritisieren wir zurecht, weil wir von einem Autor, der die Absicht hat, die Biographie der Stella Goldschlag, die zugleich Opfer und Täterin war, erzählerisch zu verarbeiten, und also biographisches Material (samt eines fotografischen Porträts auf dem Cover) verwendet, keinen populären Unterhaltungsroman erwarten. Beide Autoren lassen, auf ihre Weise, die Verantwortung vermissen, die realistisches Schreiben gegenüber Personen, die fiktionalisiert werden, manifestieren sollte.

Erfahrbar wird dies wiederum im artikulierten Unbehagen ihrer Leserschaft. Im Widerspruch eben dieser Leserschaft und der Literaturkritik meldet sich der Widerstand der Realität. Daher reicht der paratextuelle Ausweis (Roman!) auch nicht mehr aus, um das Kunstwerk aus dem Geltungsbereich der Wirklichkeit zu schieben und den vielbeschworenen Fiktionspakt zu aktivieren. Vorsichtig formuliert: Nicht jede Kunst ist autonom. Wer Robert Menasse und Takis Würger mit dem pauschalen Verweis auf die Freiheit und Autonomie der Kunst verteidigen möchte, liegt nicht nur damit falsch, sondern spricht Literatur im gleichen Atemzug auch den Anspruch ab, unsere historische, politische, kulturelle und alltägliche Wirklichkeit zu beschreiben, zu gestalten und zu interpretieren.