Brauchen Tiere eine eigene Ethik?

Das von Johann S. Ach und Dagmar Borchers herausgegebene „Handbuch Tierethik“ spürt den zentralen Grundlagen einer philosophischen Disziplin nach

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Tod des Modeschöpfers Karl Lagerfeld war in den Medien viel über dessen Testament zu lesen. Im letzten Willen des Modezars spielte laut Berichterstattung seine Katze Choupette eine zentrale Rolle: Schon zu Lebzeiten habe er sie mit Luxus verwöhnt – und veranlasst, dass für seine liebste Begleiterin auch nach seinem Tod gut gesorgt sei. Angeblich bestimmt das Testament, dass Choupette eine Adoptivmutter bekommt, diese wiederum Haus und Apanage erhält, um den aufwändigen Lebensstil der Katze zu gewährleisten. Choupette ist längst ein Star: Sie ist als Marke eingetragen und hat einen eigenen Instagram-Account. Laut „Bunte“ gehen jährlich 1,4 Millionen Euro allein durch diese Vermarktung ein. Anlässlich des Todes ihres „Daddy Karl“ brachte Choupette eine Lagerfeld gewidmete Trauerkollektion heraus.

An diesen besonderen Fall knüpfen sich allgemeinere Überlegungen: Welchen Status haben Tiere als Rechtssubjekte? Sind Tiere als Personen zu betrachten? Wie ist es um ihre Erbfähigkeit bestellt? Ist es ethisch korrekt, sie zu Marketing-Zwecken zu funktionalisieren? Auf Youtube finden sich unter der Stichwortsuche „Lustige Katzenvideos“ zu einem einzigen dort eingestellten Video mehr als 11 Millionen Aufrufe. Was bedingt dieses enorme Interesse?

Tiere sind aus unserem Alltag nicht wegzudenken: Wir leben mit ihnen, wir nutzen sie, wir verehren sie, wir jagen, quälen und töten sie. Sie begleiten uns und können zu unseren besten Freunden werden. Meist sind es aber Verhältnisse in einer enormen Schief-Lage: Menschen profitieren, sind Nutznießer, Tiere werden gebraucht und benutzt.

Tiere verfügen über Eigenschaften, die uns Menschen in Erstaunen versetzen und uns dort weiterhelfen, wo wir an unsere Grenzen stoßen. Man denke beispielsweise an die Erfolge von sogenannten „Therapietieren“ oder aber an die ausgezeichneten Fähigkeiten von Spürhunden, die zur Aufklärung von Verbrechen eingesetzt werden. Im aktuellen Fall der vermissten Rebecca R. aus Berlin kamen in den Wochen ihres Verschwindens und der Suche nach dem Mädchen sowie auf der Suche nach dem möglichen Täter zahlreiche Hunde zum Einsatz: Personenspürhunde, Leichenspürhunde, Mantrailer. Trotz erschwerender Witterungseinflüsse wie Wind und Regen könnten die Hunde auch nach Wochen noch erspüren, ob jemand an einer bestimmten Stelle vorbeigegangen oder -gefahren sei, ist zu lesen. Im tragischen und noch immer unaufgeklärten Vermisstenfall des Mädchens Madeleine (Maddie) McCann schlugen offenbar zwei eigens aus Großbritannien nach Portugal eingeflogene „specialist British sniffer dogs, one with the ability to find small traces of blood and the other a ‚victim‘ dog who can detect human remains“ im Apartment sowie im Mietwagen der Eltern von Madeleine an.

Erstaunlich auch die Fähigkeiten von Hunden in der Erkennung von Krebserkrankungen: Angeblich sind die Tiere in der Lage, bereits frühe Stadien einer Krebserkrankung mit einer Trefferquote von 98 % zu wittern. Erst kürzlich ging der Fall einer gewissen Stephanie Herfel aus Madison, USA, durch die Medien, deren Huskie-Hündin Sierra es wohl zu verdanken ist, dass Herfel noch lebt. Als Herfel 2013 aufgrund von Bauchschmerzen einen Arzt aufsuchte, diagnostizierte dieser eine harmlose Zyste und schickte die heute 52-Jährige wieder nach Hause. Sierras Verhalten aber ließ Herfel an der Diagnose des Arztes zweifeln: Die Hündin roch intensiv am Unterbauch ihrer Besitzerin und lief anschließend ängstlich aus dem Raum, um sich in einem Schrank zu verstecken. Das ungewöhnliche Verhalten ihrer Hündin veranlasste Herfel, einen Gynäkologen aufzusuchen, der Eierstockkrebs diagnostizierte.

„The question is not, Can they reason? nor Can they talk? but, Can they suffer?“, ist in einer berühmt gewordenen Fußnote des Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) in dessen Schrift An Introduction to the Principles of Morals and Legislation zu lesen. Dieser Satz wird als Startpunkt für eine neue, utilitaristisch begründete Tierethik und insbesondere für die angelsächsische Tierschutzbewegung und politische Gesetzgebung betrachtet und auch in dem von Johann S. Ach und Dagmar Borchers herausgegebenen Handbuch Tierethik in verschiedenen Zusammenhängen zitiert.

Die Beziehung zwischen Mensch und Tier, schreiben Ach, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Centrums für Bioethik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, und Borchers, Professorin für Angewandte Philosophie an der Universität Bremen, in ihrem Vorwort, sei seit der Antike immer wieder auch Gegenstand philosophischen und ethischen Nachdenkens gewesen. Als eigenständige philosophische Bereichsethik allerdings sei die moderne Tierethik erst in den 1970er Jahren entstanden. Seit einigen Jahren nun gehöre sie zum festen Kanon der „angewandten Ethiken“ und zeige sich als ein ebenso dynamisches wie vielfältiges Themenfeld.

In die Dynamik und Vielfalt der Tierethik bietet das Handbuch fundierte Einblicke. Es ist in sechs große Kapitel und eine Vielzahl von Unterkapiteln gegliedert, die sich mit der Geschichte, den philosophischen Grundlagen, Theorien und Grundbegriffen, Anwendungskontexten und Perspektiven der Tierethik beschäftigen. Die Geschichte der Tierethik wird anhand ihrer zentralen Stationen von der Antike bis zur Gegenwart dargestellt, wobei auch die religiösen Schriften eine nicht unerhebliche Rolle spielen – hatten sie doch, so die Herausgeber, de facto einen großen Einfluss darauf, wie der Mensch seine (moralische) Haltung Tieren gegenüber bestimmte.

Das Kapitel über die philosophischen Grundlagen der Tierethik nimmt die Tiere mit ihren vielfältigen Fähigkeiten und Eigenschaften in den Blick und verdeutlicht, welcher Stellenwert ihrem Bewusstsein, ihrem Sozialverhalten oder ihrer kommunikativen Kompetenz aus tierethischer Perspektive zukommt.

Kann man Tieren „Interessen“ zuschreiben? Was bedeuten Begriffe wie „tier-“ oder „artgerecht“? Inwiefern sind Tiere als moralische Akteure, moralische Subjekte und / oder moralische Objekte anzusehen? Was impliziert der Terminus „Kreaturwürde“? Wie gestaltet sich der moralische Status von Tieren? Diesen Fragen gehen die über vierzig Autorinnen und Autoren des Handbuchs nach und zeigen die Komplexität, den Facettenreichtum und die Tiefgründigkeit des Themengebiets auf.

In den historischen Darlegungen wird deutlich, dass sich bereits in der tierethischen Diskussion des Altertums all jene grundlegenden Themen finden, die sich auch in der modernen Tierethik als relevant erweisen: die Angemessenheit oder Unangemessenheit der Tierschlachtung oder Tierhaltung zur menschlichen Ernährung beispielsweise, die Nutzung von Tieren zu Zwecken der Arbeit sowie die Legitimität oder Illegitimität der Jagd nach Wildtieren. In der philosophischen Debatte um die Natur der Tiere, bemerkt Christoph Horn in seinem Beitrag zur Antike, tauchten ebenfalls alle wesentlichen Aspekte der modernen Diskussion auf: Überlegungen zur Tierintelligenz, zum Tierverhalten und zu tierischen Lebensformen, zur Tierkommunikation, Mensch-Tier-Differenz und ihrer Tragweite sowie zur „Verwandtschaft“ und „Freundschaft“ zwischen Tier und Mensch.

Die Menschen des Mittelalters, führt Anselm Oelze aus, hatten auf vielfältige Weise alltäglichen Umgang mit Tieren: Diese kamen in der Landwirtschaft zum Einsatz, dienten als Transportmittel, als Nahrungsmittel- und Rohstofflieferanten. Mittelalterliche Autoren hätten sich für die metaphysische Einordnung der Tiere sowohl der biblischen Idee einer von Gott gegebenen Schöpfungsordnung als auch des von Aristoteles inspirierten Konzepts einer „Stufenleiter der Natur“ bedient. Vielfach seien Tieren Eigenschaften wie Unsterblichkeit der Seele oder Fähigkeiten wie Urteilsvermögen und Schlussfähigkeit zugestanden worden. Dennoch habe allein der Mensch, nach dem Bilde Gottes geschaffen und mit einem Herrschaftsauftrag über die anderen Lebewesen versehen, als „vernunftbegabtes Tier“ („animal rationale“) gegolten. Außerdem sei etwa die Frage der Rechte und Pflichten gegenüber Tieren ebenso diskutiert worden wie die Frage des Mitleids. Die Nähe von Mensch und Tier kommt nicht allein in einem Begriff wie „vernunftbegabtes Tier“, sondern auch in der (zunächst überraschenden) Einordnung der Tiere als „nicht-menschliche Tiere“ zum Ausdruck. Der Mensch als das vernunftbegabte Tier, das Tier als das nicht-menschliche Tier, der Mensch wiederum sozusagen als menschliches Tier –  diese Begrifflichkeiten lassen die Grenzen zwischen den Arten nicht allein verschwimmen, sondern bringen sie nahezu zum Verschwinden.

Als Meilensteine zur Begründung der modernen Tierethik, führt Johann S. Ach in seinem Beitrag zur Gegenwart aus, seien das 1971 von S. und R. Godlovitsch und J. Harris herausgegebene Buch Animals, Men, and Morals. An Enquiry into the Maltreatment of Non-Humans und insbesondere das 1975 erschienene Buch Animal Liberation von Peter Singer zu betrachten. Für Peter Singer stelle die Fähigkeit zur Schmerzempfindung beziehungsweise die Leidensfähigkeit das Einschluss-Kriterium dar, das darüber entscheide, ob ein Lebewesen einen „intrinsischen moralischen Status“ besitze. Die Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft könne, wie Singer im Anschluss an Jeremy Bentham behaupte, weder an der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies noch an Eigenschaften oder Fähigkeiten wie Sprachkompetenz, Rationalität oder Autonomie festgemacht werden. (Schmerz-)Empfindungsfähigkeit ist Singer zufolge die Grundvoraussetzung dafür, dass ein Lebewesen Interessen haben kann, da nur ein empfindungsfähiges Wesen durch die Art und Weise, wie es behandelt wird, subjektiv betroffen sein kann.

Nach derzeitigem Kenntnisstand insbesondere der Verhaltensforschung, der Sinnes- und der Neurophysiologie, fasst Johann S. Ach in seinem Artikel zur Empfindungsfähigkeit der Tiere mit Bezug auf die 1996 publizierte Arbeit von David DeGrazia „Taking Animals Seriously. Mental Life and Moral Status“ zusammen, verfügten alle Wirbeltiere, aber auch einige Wirbellose über (unterschiedlich komplexe) Formen von Empfindungs- oder Leidensfähigkeit. „Convergent evidence indicates“, heißt es in „The Cambridge Declaration on Consciousness“, „that non-human animals have the neuroanatomical, neurochemical, and neurophysiological substrates of conscious states along with the capacity to exhibit intentional behaviors. Consequently, the weight of evidence indicates that humans are not unique in possessing the neurological substrates that generate consciousness“. Und in Artikel 13 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, bemerkt Ach, finde sich der Passus, dass bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt die Union und die Mitgliedsstaaten „den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung“ tragen. Ach bemerkt weiter, dass der offenbar generell bestehende Konsens, wonach Tiere moralisch berücksichtigt werden müssen, bislang in der Praxis nur begrenzte Auswirkungen zeige. Nach wie vor werden Tiere faktisch in großem Stil für menschliche Zwecke genutzt und dabei häufig schwerem Leiden ausgesetzt, wie Ursula Wolf in ihrem Buch Ethik der Mensch-Tier-Beziehung (2012) ausführt.

Das Handbuch Tierethik ist als ein Grundlagenwerk für Forschung, Lehre und Praxis anzusehen und bietet umfassende Einblicke in eine der zentralen Bereichsethiken. Auch ein sensibles Thema wie „Tiere als Sexualpartner“ kommt zur Sprache und wird hinsichtlich seiner ethischen Aspekte und rechtlichen Zusammenhänge erörtert. Das den Band abschließende Kapitel „Perspektiven“, das von der Thematik des Artenschutzes über Human-Animal-Studies, Tierrechtsbewegung, Vegetarismus und Veganismus bis hin zur veterinärmedizinischen Ethik reicht, führt eklatant vor Augen, wie dringlich, ja unumgänglich es ist, zu einer eigenen angemessenen und verantwortungsethischen Haltung bezüglich des Umgangs mit Tieren zu finden. Diesbezügliche Entscheidungen gilt es Tag für Tag zu treffen, beginnend mit der, ob man Kosmetik verwendet, die an Tieren getestet wurde oder Rohstoffe vom (toten) Tier enthält, über Fragen der Ernährung und Kleidung bis hin zum Wunsch,  Tieren im Zoo, Zirkus oder beim Pferderennen zuzuschauen. Das Handbuch Tierethik regt zum Nachdenken und Handeln an. Redundanzen (neben der historisch-systematischen Anlage des Buchs, die zu zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen und Wiederholungen, beispielsweise hinsichtlich Utilitarismus, Speziesismus, Rekurs auf Bentham und Singer oder „Argument der Grenzfälle“ führt, wohl auch dem Fakt zu schulden, dass der Mitherausgeber Johann S. Ach auch als Verfasser von annähernd ein Dutzend der Beiträge fungiert) stören jedoch den Lesefluss erheblich.

Zumindest eines dürfte nach der Lektüre des Handbuchs allerdings klargeworden sein: Mit jeder Entdeckung neuer erstaunlicher Verhaltensweisen und Fähigkeiten rücken die nicht-menschlichen Tiere näher an die menschlichen Tiere heran und „das Bild eines tiefen Grabens zwischen Menschen und Tieren wird zunehmend unhaltbar“, wie Friederike Schmitz konstatiert. Die Beschreibung und normative Bewertung dieser Fähigkeiten wiederum hat Folgen dafür, „welche Arten der Berücksichtigung wir Tieren zuschreiben sollten“ – konkret etwa hinsichtlich der Frage, ob es ein Tierrecht auf Freiheit oder ein Bürgerrecht (für nicht-menschliche Tiere) auf Mitgestaltung der Gesellschaft geben sollte.

Vielleicht braucht es in naher Zukunft keine menschliche Adoptivmutter mehr, damit eine Katze zur Millionenerbin bestimmt werden kann.

Titelbild

Johann S. Ach / Dagmar Borchers (Hg.): Handbuch Tierethik. Grundlagen – Kontexte – Perspektiven.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018.
363 Seiten, 89,99 EUR.
ISBN-13: 9783476025821

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