Nomadenkind und Mutter Leipzig

Über Galsan Tschinags Erinnerungen an seine Anfänge in Deutschland unter dem Titel „Kennst Du das Land“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist ein Phänomen, ein hintergründiger Autor von mehr als drei Dutzend Büchern in deutscher Sprache, gewitzter Schamane, verantwortungsvoller Stammesfürst und Stiftungsgründer. Die Rede ist von Galsan Tschinag, 1943 in der Westmongolei als Sohn von tuwinischen Viehnomaden geboren, aufgewachsen in einer schriftlosen Kultur. 1962 kommt er nach Leipzig. Die Stadt empfindet er wie Deutschland, „das gewaltige Land, mehr aus Beton, Eisen, Glas und Dampf zusammengesetzt […] als aus Gestein, Holz, Wasser und Luft.“

Über seine „Leipziger Lehrjahre“ als Student, die er – nach immensem Fleiß und mit rascher Auffassungsgabe und bestem Gedächtnis gesegnet – als Jahrgangsbester abschließt, über sein Ringen, eine neue Sprache zu lernen, sich in der neuen Welt zurecht zu finden, über seine Irrungen und Wirrungen erzählt der Goethe- und Beethoven-Verehrer unter dem Titel Kennst du das Land ebenso anschaulich wie persönlich und direkt.

Tschinag, der in seinen bisherigen deutschsprachigen Werken in erster Linie vom Leben, der Tradition und der Kultur in seiner angestammten Heimat erzählt, schildert erstmals seine Erfahrungen in der deutschen Fremde, die er – naturgemäß – mit seiner Heimat vergleicht. Das Leipzig der frühen DDR, die politisch und gesellschaftlich in seinen Erinnerungen jedoch wenig Kontur gewinnt,

besteht aus hünenhaften Häusern, die gleich jenen gruselig-geheimnisvollen Felsen in unseren Heldenepen, Wand an Wand neben- und gegeneinanderstehen und verwegen emporklettern und mit den Spitzen und Kanten ihrer Dächer den Himmel bedenkenlos zerstechen und zerschneiden, während weit unten im schummrigen Schatten klammschmale, sturztiefe Schluchten sich kreuz und quer auftun und nach Luft und Licht keuchen und zu japsen scheinen.

Und auch die Menschen und ihr Verhalten unterscheiden sich deutlich von dem, was dem jungen Tschinag vertraut ist: „Ich beginne, mich mit den anderen zu vergleichen, und finde jene im Vorteil und mich im Nachteil. Denn an mir entdecke ich so vieles auszusetzen. Und das macht mich unglücklich. Ja, am liebsten würde ich sofort in eine solche rötlich helle Haut schlüpfen!“

Sprache, Sitten und Gebräuche unterscheiden sich ebenfalls deutlich. Der Kampf mit Messer und Gabel, die richtige Aussprache, insbesondere bei Wörtern mit „p“ oder „f“ wollen gelernt sein. Das scheint in der zusammengewürfelten internationalen Studierendengruppe, der er am Herder-Institut zugeteilt wird, jedoch eher möglich. Denn „schon gegen Ende des ersten Unterrichtstages (meint er) die Wärme, die von den meisten auf mich zuweht“, zu spüren. Doch Tschinag hat nicht mit dem Neid und der Missgunst zweier mongolischer Landsleute aus der Nomenklatura gerechnet, die sich für ihn, den Nomadenjungen, schämen und denen sein Bemühen, sein Verhalten auf die Nerven geht. Die Demütigungen gipfeln gar in einem Schlag ins Gesicht. Doch Tschinag wäre nicht Tschinag, wenn er nicht diese vermeintliche Niederlage in einen Sieg umwandeln könnte. Denn durch die geschwollene Lippe bemerkt der junge Student, der den Mund nicht ganz schließen kann, dass das für ein fehlerfreies „f“ notwendig ist, wenn es sich nicht nach einem „p“ anhören soll. Allerdings scheint das seine Widersacher zunächst weiter anzustacheln. Doch Tschinag lässt sich nicht unterkriegen, trainiert eisern Körper und Geist und erhält im entscheidenden Moment auch Zuspruch eines Botschaftssekretärs, der ihm ein „Mongolisch-Deutsches Wörterbuch“, wohl das erste seiner Art überhaupt, schenkt und mit der Widmung versieht: „Meinem kleinen Bruder / mit Licht im Gesicht und Feuer in den Augen: / Packe die Zügel deines Lebens umso fester in der Hand. / Ich glaube an Dich“.

An seine Fähigkeiten glaubt auch das Wissenschaftlerehepaar Dr. Esther und Professor Dr. Matthias Schwan, die ihn eines Tages zu sich nach Markkleeberg einladen. Denn das Ehepaar forscht unter anderem zur Tibetologie und insbesondere Mongolistik an der Universität Leipzig, zudem nimmt die junge, ehrgeizige Wissenschaftlerin Sprachunterricht beim Studenten aus der Mongolei. Die drei freunden sich an, diskutieren und unternehmen manches in der Freizeit zusammen und Tschinag zieht gar in das gutbürgerliche Häuschen der Schwans vor den Toren von Leipzig.

Im Sommer 1966 reist der junge Student mit der verheirateten Frau in die Mongolei, was einige Verwicklungen mit sich bringt, denn die Verwandten sehen in Esther Galsans Braut, jeder Widerspruch zwecklos. Der gut dreimonatige Aufenthalt bringt für Esthers Forschungen reiche Frucht, wie auch in Tschinags Erinnerungen ausführlich erzählt wird. Doch das Verhältnis Tschinags zu Esther und auch Matthias Schwan trübt sich bald ein, denn der junge Student ist nur ein willkommener wissenschaftlicher HiWi. Er ist zwar froh, dass durch die Publikationen Esthers, die in dem einen oder anderen Fall auch auf Tschinags Hilfe verweist, sein Volk „endlich gesehen und anerkannt und vor dem stillen Vergessen bewahrt“ werden kann, doch es bleibt ein merkwürdiges Gefühl bei Tschinag zurück:

Und einmal kommt ein ganzes Buch heraus unter ihrem Namen. Im Vorwort bin ich erwähnt, und zwar mit den Worten: „Mein Dank gilt unserem Freund G.“ Schön, in so einem stattlichen Buch den eigenen Namen gedruckt zu sehen. Nur, dass sie mich hier „unseren Freund“ nennt, kommt mir etwas merkwürdig vor. […] Dabei hat mein Hirn den Gedanken nie abgesondert: Ich wäre die Person, die sie zu dem gemacht hat, was sie jetzt darstellt! Aber genau das wird jemand anders, dem ich Jahre später vertrauensvoll einiges aus meinem bisherigen Leben anvertraue, zu mir sagen. So wird die Bakterie des Zweifels erfolgreich in mich eingeschmuggelt, und mit der Zeit werde ich denken: So falsch ist doch dieser Gedanke gar nicht.

Nicht einmal, als Tschinag kurz nach dem Examen nach Hause zurückkehren will und er von den Schwans genötigt wird, zu bleiben, um die Übersetzungen abzuschließen, beendet er die Ausnutzung. Denn mit Verweis auf seinen Aufenthalt im Hause der Schwans fühlt er sich von seinen Gastgebern unter Druck gesetzt: „Am einfachsten wäre doch, wenn du hierbleibst, bis die Übersetzung abgeschlossen ist. Und wir, die wir dir drei Jahre lang freies Gastrecht in unserem Hause gewährt haben, meinen doch, dich um diese kleine Gefälligkeit bitten zu dürfen.“

Tschinag bleibt, und schuftet noch 70 Tage lang unermüdlich weiter, bis zu 18 Stunden am Tag, bevor er im Oktober 1968 nach Hause zurückehrt. Damit endet die erste Etappe seiner „Leipziger Lehrjahre“, voller „Freude und Bangigkeit“. Geblieben sind ihm vor allem die Liebe zur deutschen Kultur, ein Keim, der weiter wachsen sollte.

Titelbild

Galsan Tschinag: Kennst du das Land. Leipziger Lehrjahre.
Unionsverlag, Zürich 2018.
309 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005310

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