„Kastanienmenschgeräte“ und die Gespenster der Kontamination

Yoko Tawada erzählt von Japan nach der Katastrophe

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mumey saß, in einen blauen Schlafanzug aus Seide gekleidet, wie angeheftet auf dem Boden. Er sah aus wie ein Küken. Das lag wohl daran, dass sein Kopf für seinen langen, dünnen Hals zu groß war. Seine seidenfeinen Haare waren naß von Schweiß und klebten fest an seiner Kopfhaut. Die Augen leicht geschlossen, bewegte er seinen Kopf, als wollte er mit den Ohren die Luft erkunden.“ Mit diesen präzisen und zugleich rätselhaften Zeilen beginnt Sendbo-o-te, der Roman aus der Feder der japanisch-deutschen Autorin Yoko Tawada. Der 15-jährige Mumey lebt mit seinem Urgroßvater Yoshiro in einem postkatastrophischen Japan und leidet an einer namenlosen Krankheit, die ihn zunehmend an den Rollstuhl fesselt. Wie alle Kinder seines Alters ist er von Geburt an durch eine progressive Nervenerkrankung behindert, stets von der Gefahr eines Zusammenbruchs oder einer unerwarteten Metamorphose seines entstellten Körpers bedroht, und geht doch mit offener Neugierde durch sein prekäres Leben. Leiden und Sorgen sind eher die Sache der alten Erwachsenen, die im Unterschied zu den dahinsiechenden Kindern und den jungen Erwachsenen, die früh sterben, immer betagter werden. Ihr Lebensumfeld wird ihnen nach und nach fremd. Denn nach einer nicht näher bezeichneten Katastrophe, die nur von fern an den Reaktorunfall in Fukushima erinnert, hat sich Japan von der Welt abgeschottet. Die Böden sind verseucht, viele Tierarten ausgestorben. Die urbanen Zentren veröden, die Migrationsströme bewegen sich zwischen den Inseln, die Menschen sind auf der Suche nach einer halbwegs intakten Umgebung, in der sich ein scheinbar sicheres Leben verbringen lässt.

Vor diesem Hintergrund kümmert sich der „alte Alte“ Yoshiro, ein halbwegs erfolgreicher Schriftsteller, in unablässiger Fürsorge um seinen Urenkel Mumey. Yoshiro registriert die langsamen Veränderungen der Gegenwart und denkt zugleich über kulturelle Merkmale der japanischen Gesellschaft nach. Er wird damit zum Seismografen der schleichenden Umbrüche, die sich infolge der Katastrophe im alltäglichen Leben der Menschen ereignen. Zugleich enthält seine Liebe zu Mumey den Kern einer Hoffnung, es könnte auch unter schwierigsten Bedingungen ein humanes Leben möglich sein. Im Lauf der Erzählung wird Mumey von einer geheimen Organisation zu einem jener „Sendboten“ ernannt, die auf verschlungenen Wegen ins Ausland geschmuggelt werden, um die Kontaminationen des Körpers wissenschaftlich untersuchen zu lassen und die staatliche Politik des Verschweigens zu umgehen. Bevor Mumey seine Reise antreten kann, verstärken sich jedoch die Symptome seiner Erkrankung. Sein Lebensweg endet am Meer, wo er gemeinsam mit einer jüngst wiedergefundenen Freundin ein letztes Mal in unbändiger Lebensfreude seinen Rollstuhl umkippen lässt, sich im warmen Sand des Strandes in eine Frau verwandelt und im Angesicht seines herbeigeeilten Urgroßvaters stirbt.

In der Art, wie Yoko Tawadas Sendbo-o-te sich auf die intime Beziehung von Urgroßvater und Enkel konzentriert, erinnert der Roman an Cormac McCarthys The Road (2006). Auch dort wird eine zerstörte Welt, die durch eine nicht genannte Katastrophe verwüstet worden ist, mit den Augen eines Vater-Sohn-Paares betrachtet, das geradezu ein Residuum von utopischer Hoffnung enthält. Und doch unterscheidet sich Tawadas schillernde Prosa deutlich von McCarthys düsterer Dystopie. Während der US-amerikanische Autor drastische Szenarien der Zerstörung und der Gewalt entwirft, registrieren Tawadas Protagonisten die Auswirkungen der Katastrophe in Details ihres Alltagslebens. Signifikante Umwälzungen werden von unmerklichen Verschiebungen im Gewohnten ausbalanciert: Die Welt ist nicht radikal anders als früher, sondern um ein Geringes verschoben – und dadurch umso fremder und irritierender, aber auch faszinierender. In die realistische Grundanlage der Erzählung brechen mitunter abrupt phantastische Elemente ein, nur um kurz darauf relativiert zu werden. Überdies tritt an die Stelle von McCarthys drastischem Horror eine leichte, elegante Verbindung von Ernst und Ironie, deren Kontrast zur berührenden Wirkung der Erzählung beiträgt. So verliert Mumey in einer Passage auf groteske Weise seine Milchzähne – und spielt dann beim Zahnarzt mit überdimensionierten Plastikzähnen, bis „eine menschenleere Welt vor seinen Augen [auftaucht], in der gigantische Zähne als Lastwagen über die Straßen gleiten“. Während MycCarthy die Zeit vor der Katastrophe nahezu vollständig im Dunklen lässt, überblendet Tawada Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer anachronischen Erzählung, die von abrupten Sprüngen in der Zeitebene durchzogen ist und so eine narrative Bewegung erhält, die deutlich zur Faszinationskraft des Textes beiträgt.

Hinzu kommen poetische Wortspiele zwischen Japanischem und Deutschen, wie sie seit jeher die transnationale Poetik von Tawadas Prosa ausmachen, etwa wenn dem drohenden Konkurs der Branche für Kleiderreinigung dadurch begegnet wird, dass „cleaning“ mit den Schriftzeichen „kuri“, „nin“ und „gu“ geschrieben wird und somit auf Japanisch „Kastanienmenschgerät“ bezeichnet. Allerdings sind die Grenzgänge der Sprache, die in früheren Arbeiten Tawadas ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten, im neuen Roman deutlich zurückgenommen. An ihre Stelle tritt eine unscheinbarere Sprache, welche das Alltägliche der erzählten Welt weniger offensiv verfremdet. Beide Sprachebenen werden vom Übersetzer Peter Pörtner meisterhaft übertragen: Sendbo-o-te ist einer der wenigen Romane, die Tawada auf Japanisch verfasst, aber nicht selbst übersetzt hat.

Über weite Strecken führt dieser dezente Stil dazu, dass sich Sendbo-o-te leicht liest und doch in seinen Beschreibungen der Katastrophe im Kleinen umso berührender wirkt. An einigen Stellen treten jedoch auch gewisse Schwächen zutage. So kann der genaue Blick auf Yoshiro und Mumeys intime Interaktion nur notdürftig verbergen, dass die narrative Konstruktion des Textes grundsätzlich unausgegoren erscheint. Besonders der Handlungsstrang um die Sendboten, die von einer illegalen Organisation ins Ausland geschickt werden, bleibt fragmentarisch. Warum Mumey gerade zu Beginn seiner Mission stirbt, leuchtet nicht recht ein. An anderen Stellen führt der Fokus auf den Alltag dazu, dass sich trotz des geringen Romanumfangs narrative Längen bilden, die Tawadas ansonsten präzise und faszinierende Prosa schwächen. An wieder anderen Stellen kippen Tawadas meist scharfsinnige Wort- und Bildspiele um in eine konventionelle Metaphorik, etwa wenn Mumeys Tod mit recht abgegriffenen Bildern dramatisiert wird: „Aber da greift das Dunkel, wie ein Handschuh, von hinten nach Mumeys Hirn. – Und er stürz in einen pechschwarzen Schlund.“ Manchmal wird das Kitschpotenzial solcher Formulierungen raffiniert gebrochen, sodass sich der Wechsel von konventionellen Bildern und ihrer Verfremdung als eigene Schreibstrategie herausstellt. Für einige Passagen hätte man sich mehr von Tawadas feinem und zugleich explosivem Sprachwitz gewünscht. Das ändert allerdings nichts daran, dass man diesem leichten Roman – der sich so wohltuend von drastischen Dystopien post-apokalyptischer Gegenwartsliteratur unterscheidet – viele aufmerksame Leser*innen wünscht.

Titelbild

Yoko Tawada: Sendbo-o-te. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Peter Pörtner.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2018.
197 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783887696887

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