Treckerlärm, Hundegequietsche und Kantaten

Mithilfe von Farben, Drachen, Spaziergängen und Wolkenbildern erklärt Sarah Kirsch in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen nichts weniger als die Welt

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Sarah Kirsch kennt man Gedichte, poetische Prosa und auch ihre Bilder, auf Papier gebannte Poesie in Farbe. Mit umso größerer Spannung waren die Erwartungen des Lesepublikums auf jene Poetikvorlesungen gerichtet, die die Autorin im Wintersemester 1996/1997 in Frankfurt gehalten hatte und jetzt, herausgegeben von Kirschs Sohn Moritz, erstmals in Buchform vorliegen.

Ingeborg Bachmann hatte Ende der 1950er Jahre erstmals die von der Frankfurter Goethe-Universität ins Leben gerufene Möglichkeit wahrgenommen, als Autorin in reflektierter Weise über das Schreiben zu sprechen. Bedeutende Schriftsteller und Literaturkritiker sollten im Laufe der Jahrzehnte folgen.

Gleich mit dem ersten Satz „Will nun versuchen in Ihren Köppen ein rechtes Tohuwabohu zu erzeugen!“ greift Sarah Kirsch in ihrer charakteristischen Handschrift den Faden auf. Sogleich präsentiert sie das Gedicht Wenn das Eis geht, in dem ein Mühlrad wie ein innerer Motor das Gedächtnis antreibt und verborgen liegende Bilder freilegt: „Das schöne Mühlrad in meinem Kopf / unaufhaltsam dreht es sich eingedenk / Mit seinen Schaufeln Versunkenes heben / Es überschlägt sich der Strom hinter den Augen“. Es wird weder interpretiert noch kommentiert, das dargebotene Gedicht spricht in seiner Bildhaftigkeit für sich und deutet Zugänge an.

Nach diesem Prolog wird unter der trefflichen Überschrift „Aufwärmen“ eine zweiseitige Hinführung in kurzatmiger Prosa dargeboten, die zwischen spröder Abgrenzung zu Erwartungshaltungen und entfalteter Poesie schwankt: „aber es könnte ja auch sein daß ich diesen Text steigen lasse / wie einen schönen beweglichen phantastischen Drachen / vielleicht am Strand von Rømø / das liegt im Dänischen drin / und er fliegt schon ganz wacker“.

So betörend und farbig Kirschs Poesie den Leser in den Bann zu ziehen vermag, so zurückhaltend begegnet sie ihren Zuhörern der Poetikvorlesungen. Auch in manchen ihrer Bücher war zuweilen ihren Seufzern zu entnehmen, daß sie sich ungern auf Lesereisen begab und der direkten Begegnung mit dem Publikum wenig abgewinnen konnte. Auch in ihrer Dichtung geht die Autorin auf Distanz: „ich will nicht mein Inneres abfotografieren weil ich mich nicht preisgeben will“.

Und dennoch halten diese Vorlesungen Auskünfte und Einblicke bereit. Sie erweisen sich, wenn auch im Formalen den akademischen Rahmen sprengend, als geschickt kombinierte Präsentation von Gedichten, Kommentaren, Rückblicken und Tagebucheinträgen. Ausdrücklich möchte Kirsch vermeiden, „über das Schreiben zu schreiben“. Anhand der präsentierten Texte versucht sie allerdings zu zeigen „weshalb und wodurch jemand schreibt“. Kirsch benennt „Schreibgründe“ und bekennt sich dazu, dass neben dem Schreiben als einer praktischen Form des Lebens zugleich eine Reflektion über die Sinnhaftigkeit des Daseins vollzogen wird. Wiederholt markiert die Autorin mit dem Schreiben einen Suchtcharakter, der sich neben der sinnlichen Befriedigung einstellt.   

Kirsch hat ihre zurückgezogene Lebensweise in einem ehemaligen Schulhaus weitab von den Metropolen nicht damit verwechselt, der Welt zu entfliehen. Gesellschaftliche und politische Vorgänge hatte sie bereits zu Zeiten als DDR-Dichterin aufmerksam wahrgenommen. Die scheinbare Ruhe in der Provinz schärften vielmehr ihre Blicke auf ihre Lebenswelt, die sie unter Einbeziehung aller Sinne künstlerisch verarbeitete. Analog zu Kirschs Lyrik und Prosa verschmelzen in ihren dargebotenen Ansprachen Tagesreflektionen und Spaziergänge zu Literatur. Meisterhaft versteht es Kirsch, in scheinbar dahinskizzierten Sätzen einen verborgen liegenden Spannungsbogen zu ziehen, der sich auf scheinbar kleine Dinge in der unmittelbaren Natur wie auch auf Lebenserkenntnisse bezieht.

Unter der Überschrift „Kollegen“ beschreibt Kirsch einen Star in ihrem Garten: „Sitzt auf der mittleren Linde und reißt den Hals auf. Nun kommt Schwung in die Singerei da im Garten. Der Sound ist kunstvoller als zuvor weil die Kerls keine Regeln einhalten sondern alles Aufgeschnappte dazwischen mengen. Treckerlärm, Hundegequietsche und die Kantate jeweiligen Sonntags aus unserem Fenster. Ähnlich stehle ich mir auch alles zusammen und verwandle es meiner Handschrift dann an“.

Neben dem Leben auf dem Land berichtet Kirsch zudem auch von Leseauftritten und sogar einer Schiffsreise nach Schweden. Sie erinnert sich an alte Zeiten in der DDR, führt Leseerlebnisse etwa bei Peter Huchel oder Jan Skácel an und schildert eine Begegnung mit Halldór Laxness. Gewährsleute wie Gertrude Stein, Robert Walser oder Paul Valery werden erwähnt. Und selbstverständlich Annette von Droste-Hülshoff. Ein weiteres Mal hebt sie ausdrücklich den österreichischen Dichter Christoph Wilhelm Aigner hervor, dessen Poesie sie außerordentlich schätzt.

Sarah Kirsch gurrt je nach Bedarf im lässigen Slang und bedient in hochgestochener Pathetik romantische Sprachbilder. Was auf den ersten Blick zuweilen schnoddrig wirkt, erweist sich bei näherem Hinsehen als akribisch komponiert. Und so überrascht es kaum, daß Kirsch auch in den Poetikvorlesungen ihre Beherrschung des Spiels mit der Sprache souverän unter Beweis stellt.

Titelbild

Sarah Kirsch: Von Haupt- und Nebendrachen Von Dichtern und Prosaschreibern. Frankfurter Poetikvorlesungen 1996 | 1997.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
110 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835334458

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