Perfidie und Glück des Alltags und der moderne Theodor Fontane

Der dem Autor gewidmete Band in der Reihe TEXT + KRITIK enthält überraschende Deutungen

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bände der renommierten Reihe TEXT + KRITIK – über 150 sind mittlerweile erschienen – befassen sich jeweils mit einem Schriftsteller, dem sie etwa ein Dutzend Essays oder Aufsätze widmen, teils überblicksartige, teils auf ein Werk oder einen Schaffensaspekt bezogene. Ferner enthält jeder Band zwei oder drei wenig bekannte Primärtexte sowie eine Bibliografie. Die Neuauflage eines Bandes ist im Allgemeinen ein anderes Werk mit neuen Autoren, sodass in der Reihe kontinuierlich die nachwachsenden Forscher zu Wort kommen. All dies gilt auch für die jetzt erschienene Neuauflage des Bandes Theodor Fontane;keiner ihrer Beiträger war in der vorhergehenden Auflage von 1999 vertreten. Dieser Band enthält drei Texte Fontanes, darunter zwei Gedichte, und 16 Essays sowie eine Bibliografie von Wolfgang Rasch, die in 52 (!) eng gedruckten und sorgfältig gegliederten Spalten die Sekundärliteratur der letzten 14 Jahre auflistet.

Die Essays sind fast durchweg in flüssiger und gut lesbarer, oft auch in schwungvoller Sprache geschrieben. Einige kleinere Versehen sind dem Lektorat entgangen, unter anderem die falsche Schreibung des Namens „Innstetten“ und die irrige Berufsbezeichnung (sie ist nicht „Plätterin“) von Lene aus Irrungen, Wirrungen.

Fünf Beiträge des Bandes eignen sich sehr als grundlegende Orientierung in der Fontane-Philologie. Als erster sei die Darstellung der Vita von Roland Berbig genannt. Er hebt Fontanes Sensibilität für historische Zusammenhänge hervor und stellt über ihn sogar fest: „Von Flüchtlingen abzustammen, die glückliche Aufnahme in der Fremde gefunden haben, blieb ihm Grundbaustein seiner sozialen und politischen Existenz.“ Auch widersetzt sich Berbig der jahrzehntelang gängigen Vorstellung, die Entwicklung Fontanes hin zum großen Prosaautor habe zwangsläufig so sein müssen, und nennt stattdessen seine „Verführbarkeit zum Unkalkulierbaren“, die er mit mehreren Beispielen belegt. Barry Murnane nimmt unter der Überschrift Fiktionale Pharmazie ebenfalls den ganzen Fontane in den Blick. Er stellt dar, dass der in frühen Jahren ausgeübte Beruf des Apothekers ins Erzählwerk ausstrahlt bis zu Effi Briest und Der Stechlin, wo Heilpflanzen und ihre Dosierungen wichtige Funktionen haben – auch wenn Fontane zeitlebens „seine pharmazeutische Bildung herunterzuspielen“ bemüht war. Auch die handwerkliche Seite des Apothekerberufes, nämlich das Verwalten von Rezepturen und Registrieren von „Herstellungsschritten“, hat Fontanes Schreiben beeinflusst. Einen Aspekt des ‚sich wandelnden Fontane‘ behandelt Frieder von Ammon unter der Überschrift Der alte Fontane und die Entfabelung des Romans. Er zeigt im Vergleich der Erzählungen Irrungen, Wirrungen und Die Poggenpuhls, wie Fontane schließlich die Handlung reduziert; das Leben der adeligen von Poggenpuhls ist fast ereignislos – discours ist wichtiger als histoire. Ammon betritt hier nicht Neuland, die Arbeiten zu den Poggenpuhls haben diesen besonderen Charakter schon längst herausgestellt. Doch beeindruckend ist, wie Ammon dieses Vorgehen Fontanes, diesen provozierenden „Avantgardismus“, wie er sagt, in die literarische Moderne einordnet und die Verbindung etwa zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930) zieht. Musils Spott über das „primitiv Epische“ hätte den alten Fontane angesprochen.

Dieser Wandel bei Fontane hängt mit dem gesellschaftlichen Wandel zusammen. Wie hat Fontane die gesellschaftlichen Umbrüche in sein Erzählen aufgenommen? Diese Frage behandeln Walter Hettche und Natalia Igl. Hettche interpretiert Fontanes Gedicht Wurzels,das ein ehelicher Dialog ist, und weist nach, wie sich darin damalige Neuerungen, etwa der Trend zum Realschulwesen oder die Verkehrsmittel-Beschleunigung, abbilden. Stichworte im Gedicht veranlassen Hettche, eine Fülle von historischen Fakten hinzuzuziehen. Igl untersucht Passagen in der Erzählung Stine und entdeckt ebenfalls die Spuren des gesellschaftlichen Wandels, nämlich die „multi-sensorische Reizflut“, der die Personen nicht gewachsen sind. Igl nennt diesen Umstand in allzu anspruchsvoller Formulierung die „semantische Verunsicherung von Kohärenzerwartungen“.

Eine wichtige Gruppe von Beiträgen könnte man unter die Überschrift „Fontanes Alltag: Bedrängnisse und Anregungen“ stellen. Gerhard Kaiser erörtert „das Böse“ in Fontanes Erzählwerk oder vielmehr, da Fontane das Böse nicht wirklich darstellen wollte, seinen poetischen Hang zum Skeptizismus, zur „Ernüchterungskunst“ und zur „Perfidie des Alltäglichen“. Es ist der Tratsch oder sogar schon die „Angst vor dem Gerede der Leute, die als Brandbeschleunigung für das Böse“ wirkt. Solche Abgründe des Menschen thematisieren die Erzählungen Schach von Wuthenow und Unterm Birnbaum. Rüdiger Görner analysiert „die Welt der Dinge“ in Fontanes Erzählen. Die Dinge des Alltags spielen eine natürliche Rolle in ihrer Konkretheit, bekommen jedoch eine symbolische Bedeutung, wie es etwa die Schaukel des Mädchens Effi zeigt. Solcherart Symbolisierung verfeinert Fontane im Stechlin, wo der Held Sprachbilder schafft, die „dinghaft“ sind – „petrefakt“ für altmodisch –, und der Raum um das Schloss Stechlin seine Poesie dadurch gewinnt, dass er von musealen, eben vielsagenden Dingen vollgestellt ist. Tilman Krause äußert sich, so sein Titel, über Theodor Fontane als Klatschmaul. Gerade dieser Fontane mitsamt seinem Interesse an den „Bummelanten und Pumpgenies“ und seiner Lust, das „Coole, Unfeierliche“ und die „Halbbildung“ wichtiger zu nehmen als das Elegante und Stromlinienbestimmte, erscheint in seiner Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig. Nach Krause hat dieses Werk europäischen Rang, es ähnele in seiner erzählerischen „Unordnung“ und mit seinen Pointen den (sehr Sex-lastigen) Tagebüchern der Brüder Goncourt. Ein mutiger und kluger Vergleich!

Am ausführlichsten geht es um Fontanes Alltag in dem Beitrag von Iwan-Michelangelo D’Aprile. Er erinnert an Fontanes „Brotberuf“, das Journalisten-Metier, und zeigt sein vielfaches Verbundensein mit der Presse: Fontane hat Artikel publiziert, beurteilt und umgeschrieben, und er war lebenslang gierig nach Zeitungslektüre (im Alter ließ er sich Illustrierte aus England schicken). Auch „seine literarische Bildung und Sozialisation erfuhr Fontane als Zeitungs- und Zeitschriftenleser“. Sein Literatentum war „zielgruppengerecht“; er wusste, welche Erzählungen er welcher Zeitung anbieten konnte. Sogar seine Figuren, gelegentlich auch die weiblichen, haben Zeitungen abonniert. Ferner hat er sich von Zeitungsberichten inspirieren lassen, für den Plot – etwa von Effi Briest – und für die Atmosphäre – in den Kopenhagener Szenen von Unwiederbringlich. Zeitungen lieferten ihm, dem Realisten, die „wirklichkeitsnahen Stoffe“.

Wie ist dieser Forschungseifer, der den ‚Fontane des Alltags‘ anpeilt, zu beurteilen? Gewiss, von hier aus lassen sich nicht alle Aspekte Fontanes erfassen; nicht etwa sein Balladenwerk (es kommt in dem Band gar nicht vor) oder seine psychologische Gestaltungskunst, die in diesem Band in den Betrachtungen von Peer Trilcke (über die Figuren mit einem „Knax“ in Fontanes Fragmenten) und Eva Geulen (über die weibliche Hauptfigur von Unwiederbringlich, die auf subtile Weise ihre Freiheit verteidigt) behandelt wird. Man könnte auch kritisch behaupten, dass dieser Ansatz nur eine Mode der Literaturwissenschaft aufgreift, die das Materiale und die Dinge des Alltags ins Zentrum rücken will.

Dennoch hat diese Forschungsrichtung Hand und Fuß. Zum einen steht sie in enger Verbindung mit der Editionswissenschaft. Diese hat im Zuge der Arbeit an der Großen Brandenburger Ausgabe von Fontanes Werken viele Erkenntnisse über Fontanes Alltagsarbeit beim Umschreiben, Streichen, Überkleben von Manuskriptteilen gewonnen und damit Werkgenesis und Alltagsarbeit in enge Verbindung gebracht. Zu nennen sind insbesondere die Editionen von Gabriele Radecke; sie ist in diesem Band mit einem Beitrag über die Theaterkritiken Fontanes und ihre Entstehung vertreten. Vor allem aber holt diese Forschungsrichtung den ‚modernen Fontane‘ ins Blickfeld. Denn sie liefert die Erkenntnis: Sowohl in seiner Lebenspraxis als auch bei seiner Schreibarbeit war Fontane von einem traditionellen linearen Denken weit entfernt. D’Aprile sagt in seinem Beitrag, „Aufschiebung und Abschweifung statt direktes ‚Zur-Sache-Kommen‘“ kennzeichnen Fontanes Werk, und bei Krause heißt es: „Goethes Entelechieprinzip wird in Von Zwanzig bis Dreißig nicht bemüht.“ Zitieren wir auch aus dem Vita-Bericht von Berbig: Die zeitweise von der Fontane-Forschung verfochtene „Leitthese einer finalen, teleologischen Deutung“ ziehe heute „Zweifel“ auf sich. Resümieren wir also: Erst aus dem Blickwinkel ‚Fontane und der Alltag‘ wird er einigermaßen vollständig sichtbar, der moderne Fontane. Wir können wohl auch sagen: der chaotische Fontane.

Eine Schlussbemerkung: Der Begründer der Reihe TEXT + KRITIK Heinz Ludwig Arnold hatte niemals vor, ausgewogen alle Aspekte des jeweils behandelten Schriftstellers zu beleuchten. Ihm ging es vielmehr darum, mit Hilfe eines hochqualifizierten Autorenteams den Literaturfreunden und -forschern möglichst viele ungeahnte Anregungen zu geben und die Aktualität der jeweiligen Persönlichkeit und ihres Werkes aufzuzeigen. Diese Prinzipien behielten seine Nachfolger – Editoren und Lektoren – bei. Der von Peer Trilcke herausgegebene Band über Theodor Fontane steht würdig und imposant in dieser Tradition.

Titelbild

Peer Trilcke (Hg.): Theodor Fontane.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2019.
224 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783869167961

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