Biografie der Figuraldeutung

Erich Auerbachs gesammelte Aufsätze in fragwürdiger Neuausgabe

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vielleicht wäre die Arbeit noch geschlossener und zwingender geworden, wenn sie nicht vom Historisch-Allgemeinen, sondern vom Konkret-Speziellen des einzelnen Merkmals ausgegangen wäre, wie es sich am Gegenstande, der Enzyklopädie selbst, ausweist.“ Mit diesen Worten schließt der Romanist Erich Auerbach 1938 seine Rezension der Einleitung in die Enzyklopädie der französischen Aufklärung seines Kollegen Fritz Schalk. Dieser hatte über die Enzyklopädie habilitiert und lehrte in Rostock, Auerbach hingegen war 1936 von seiner Marburger Professur vertrieben worden und lehrte an der Istanbuler Universität durch Vermittlung der in der Schweiz beheimateten, von dem exilierten Mediziner Philip Schwartz gegründeten „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“.

Die methodologische Anweisung des Zitats lässt sich in zahlreichen Formen in den Aufsätzen und Rezensionen Auerbachs wiederfinden, die immer wieder auf die „glückliche“ Erfassung eines Ansatzpunktes und seine daraus erfolgende Darstellung und Methode rekurrieren. Man kann sie in Rezensionen zu Arbeiten seiner berühmten Kollegen Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, René Wellek, Hugo Friedrich ebenso lesen wie in den Aufsätzen, die Auerbach vor allem Dante, Giambattista Vico, Michel de Montaigne und der mittelalterlichen lateinischen Dichtung widmete. Wiewohl nicht entstehungs-, sondern sachchronologisch geordnet, geben die Aufsätze doch Einblick in die allmähliche Verfertigung jener Theorie, mit der Auerbach in seinem Hauptwerk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946) seine Methode so überzeugend vorgeführt hatte und die ihn nach dem Zweiten Weltkrieg in die Riege der großen Romanisten des Jahrhunderts einreihte. Sie wurde vor Mimesis am klarsten in dem Aufsatz Figura artikuliert, findet sich aber bereits ansatzweise konturiert in der Dante-Arbeit, mit der sich Auerbach in Marburg habilitierte. Es bleibt faszinierend, nachzuverfolgen, wie Auerbach von der Mischung der Stile in der Bibel und der Nachahmung des Pathos der Alltäglichkeit her das Konzept der historisch-transzendenten Beziehung in Ereignissen, Personen, Mythen in seiner ganzen Breite für die Entstehung „realistischer“ Erzählweisen als Theorie der Wirklichkeitsabbildung bis zur Moderne Prousts und Virginia Woolfs entwirft – einer der großen literarästhetischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts.

Nach Auerbachs Tod 1957 war es wiederum Fritz Schalk, der 1967 mit Unterstützung von Gustav Konrad und der Witwe Auerbachs die Sammlung von Aufsätzen edierte, die jetzt erweitert von Matthias Bormuth und Martin Vialon herausgegeben wurden. Es dürfte nicht häufig vorkommen, dass sechzig Jahre nach dem Tode eines Philologen dessen Aufsätze eine zweite Auflage erleben. Schließlich liegt der Erscheinungstermin des ältesten Aufsatzes über 90 Jahre zurück. Und Auerbach war im Gegensatz zu explizit politisch orientierten Literaturtheoretikern der Weimarer Republik und des Exils – wie etwa der Kritischen Theorie im Kreis um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – ein reiner Philologe, der versuchte, mit den spezifischen Fragestellungen der Philologie zu vorsichtigen allgemeineren Aussagen über Geschichte, Alltag oder den Historizismus zu gelangen. Eigentlich muss man noch präziser formulieren: Er suchte die Formen der Wissensproduktion in deren jeweiliger Umgebung darzustellen. Obwohl auch mit Walter Benjamin befreundet, hatte Auerbach engere Kontakte in die Warburg-Schule, die auch sehr viel näher an den antiken und mittelalterlichen Wurzeln historischer ästhetischer Entwicklungen in Europa orientiert war.

So erfreulich also die Neuausgabe selbst ist, weist sie doch eine Reihe von befremdlichen handwerklichen Fehlern auf. Neben einer nicht geringen Zahl von Druckfehlern beim Neusatz der Texte Auerbachs (die Ausgabe ist nicht seitenidentisch mit der von 1967) werden mitunter auch die angegebenen Jahreszahlen der Publikation im Titel (die es in der Schalk/Konrad-Ausgabe nicht gibt) durcheinander geworfen: So steht hinter der Rezension von Curtiusʼ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter aus dem Jahr 1948 die Jahreszahl 1933. Noch unverständlicher ist, dass bei der Titelangabe der beiden Spitzer-Bände von 1947 und 1948 diese ineinander gerutscht und kaum zu erkennen sind: Denn dieser Fehler, der bereits bei Schalk/Konrad auftaucht, hätte leicht durch einen Blick auf den Originaltext in den Romanischen Forschungen von 1948 korrigiert werden können. So wird er auch 70 Jahre nach Ersterscheinen der Rezension weiter kolportiert. Auch erleichtert die von Vialon anstelle von Quellennachweisen gelieferte umfangreiche „Primärbibliographie“ nicht das Auffinden der gebotenen Texte: Zu Auerbachs Franz von Assisi in der Komödie von 1944 findet sich in der „Primärbibliographie“ nach einigem Suchen lediglich ein Auerbachs Titel zumindest ähnlicher einer englischen Übersetzung, die 1945 in Italica erschienen sei. Ebenso finden sich zu Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene (1951) in der „Primärbibliographie“ nur zwei ähnliche Titel: einer in Italienisch, ein anderer in Englisch. Wo die abgedruckte deutsche Fassung herkommt, lässt sich nicht erschließen. Die Korrektur dieses bereits bei Schalk/Konrad vorhandenen Mangels wäre ein Gewinn der Neuausgabe gewesen.

Weiterhin tauchen in der „Primärbibliographie“ Titel auf, die von Vialon an anderer Stelle veröffentlich wurden und neu aufgefundene Typoskripte bezeichnen, als solche aber nur in einem Fall in einer Anmerkung von Vialons nicht immer ganz sachlichem Vorwort markiert werden. (In der „Primärbibliographie“ ist lediglich die von Bormuth im vorliegenden Band als Ergänzung edierte Staatsexamensarbeit Auerbachs bei dem Berliner Historiker Ernst Troeltsch als Typoskript gekennzeichnet und beschrieben.)

So erfüllt auch diese „Primärbibliographie“ kaum die in hehren Worten selbst formulierten Standards. Zudem ist sie aufgebläht mit den seitenlangen Angaben jedes einzelnen Auerbach-Briefes, der (meist von Vialon) bisher postum publiziert wurde – und schließt in Einzelfällen sogar deren Übersetzung in andere Sprachen ein!

Welche Ferne die Herausgeber zur philologischen Dimension ihrer Herausgeberschaft besitzen, machen Sätze einer an den Schluss gesetzten „Editorischen Anmerkung“ deutlich: „Das Personenregister wurde entsprechend der neu hinzugekommenen Namen ergänzt. Personen, die im Vorwort der Primärbibliographie und im Nachwort erscheinen, wurden nicht berücksichtigt. Das Sachregister beschränkt sich auf die Texte der ersten Auflage.“ Das bedeutet also: An einigen Stellen hat man in die Schalk/Konradʼsche Ausgabe eingegriffen, Namen aus den hinzugefügten Texten in das Personenregister integriert, aber nicht Einträge in das Sachregister! Ebenso nicht Namen und Sachen aus der „Primärbibliographie“ und dem Nachwort. Zudem unterscheide sich die Zitierweise der „Primärbibliographie“ von der in den zugehörigen Anmerkungen und dem Nachwort. Zwar erfahren wir im Vorwort zur „Primärbibliographie“ einige irrelevante Details aus Vialons Biographie, aber Platz für eine ausreichende Erklärung der widersprüchlichen bibliographischen Vorgehensweise findet sich keiner. Noch weniger finden sich generell Erörterungen zu einzelnen fragwürdigen Entscheidungen Schalk/Konrads.

Fazit: Zu den Fehlern der Edition von 1967 werden neue hinzugefügt; mit dem Rücken zur eigenen Ausgabe werden ein umfangreiches Nachwort zu Auerbachs Werk und Bedeutung sowie eine aufgeblähte „Primärbibliographie“ geliefert, die allerdings die einfachsten Fragen an die herausgegebene Textgestalt nicht beantworten kann und will. Welche Gründe auch immer dafür ursächlich sein mögen, ein Mindestmaß an Interesse an der Textgestalt von Auerbachs Arbeiten wäre von den Herausgebern zu erwarten gewesen.

Titelbild

Erich Auerbach: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie.
Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon.
Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2018.
455 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783772086410

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch