Flucht in den Wahnsinn

Saskia Hennig von Lange taucht mit ihrem Roman „Hier beginnt der Wald“ in die tiefsten Abgründe der menschlichen Psyche ein

Von Kim Kristin PetermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kim Kristin Petermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ganz unten, wo die Blätter am Boden lagen, fühlen sie sich kühl und feucht an. Er steckt sich eine Handvoll in den Mund. Hört nicht auf zu zählen. Saugt und kaut und zählt.“

Erst einen Tag vor dieser Szene ist dem namenlosen Protagonisten des Romans Hier beginnt der Wald ein Tier vor den Umzugslaster gelaufen. Von da an scheint er selbst immer mehr zu einem zu werden. Er trägt eine weiße Skihose und eine Pelzjacke. Gefunden hat er die Sachen im Laderaum. Dass jemand darauf wartet, ist längst aus seinem Bewusstsein verschwunden. Es gibt Wichtigeres, um das er sich kümmern muss. Den Jungen im Laderaum zum Beispiel. Doch gibt es ihn wirklich? Oder ist er nur Imagination des Protagonisten, als Symptom seines sich steigernden Wahnsinns?

Sein neuer Job als Lastwagenfahrer sollte für den Protagonisten eigentlich eine Flucht sein – vor seiner Frau, vor ihrem ungeborenen Kind, vor sich selbst. Doch es kommt zu einem Verkehrsunfall. Danach scheint der Protagonist den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren und zieht sich mitsamt dem Laster in die Isolation des Waldes zurück. Er passt sich den dortigen Lebensumständen schnell an und verhält sich immer animalischer. Saskia Hennig von Lange erweist sich beim Erzählen ihrer Geschichte als Meisterin der Innensicht und lässt den Leser in die tiefsten gedanklichen Abgründe der Hauptfigur hinabstürzen. Ihr gelingt es, auch das physische Befinden ihrer Figur in einer außergewöhnlichen Weise zu offenbaren. So empfindet man genau nach, wie „die Distanz zwischen ihm und seinen Händen auf dem Lenkrad [unermesslich]“ erscheint, sich „sein Körper ins Riesenhafte, ins Unbeherrschbare“ ausdehnt. Und schon im nächsten Moment gleitet man, ohne den Übergang zu bemerken, gedanklich zu seiner Mutter oder zu „ihr“, seiner Frau. Ob der Protagonist angesichts des Jungen schließlich dem totalen Wahnsinn oder gar sich selbst begegnet, bleibt der Interpretation des Lesers überlassen. Hennig von Lange zeigt in ihrem Roman lediglich, wie nah beides beieinander liegt.

Mit Hier beginnt der Wald schließt Hennig von Lange an ihre Vorgängerwerke Alles was draußen ist und Zurück zum Feuer an, deren Figuren sich ebenfalls unweigerlich mit den existenziellen Fragen des Lebens auseinandersetzen müssen und kläglich daran scheitern. Kafka-Fans werden Hennig von Langes drittes Prosawerk lieben, erscheint es doch geradezu wie eine moderne, wenn auch softere Version von Die Verwandlung. Dieser Eindruck wird neben der Isolation des Protagonisten und natürlich dem scheinbaren Übergang vom Menschen zum Tier nicht zuletzt durch einen ähnlich verdichteten Schreibstil erweckt.

Ähnlich wie der Protagonist sich im Wald verliert, kann sich der Leser in diesem Roman verirren, denn je weiter der Protagonist vom Weg abkommt, desto wirrer und sprunghafter werden auch seine Gedanken. Hennig von Lange führt dem Leser mit diesem Roman in erschreckender Weise vor, wie leicht wir alle uns verlaufen können, wenn wir das Alltägliche hinten anstellen und uns dem widmen, was wirklich zählt: der Frage danach, wer wir sind und was wir eigentlich im Leben suchen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Saskia Hennig von Lange: Hier beginnt der Wald. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2018.
150 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272169

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