Von Marx zu Aristoteles

Band 6 der neuen Kritischen Gesamtausgabe zu Hannah Arendt versammelt Fragmente

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre und Michael SzczekallaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Szczekalla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst 2018 ist als Auftakt der neuen Kritischen Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts der 6. Band erschienen – eine vielleicht ungewöhnliche Entscheidung des Herausgeberteams, denn der Band versammelt lediglich Fragmente, deren Entstehungszeit zwischen dem Abschluss der Totalitarismus-Studie und dem Beginn der Arbeit an Vita activa liegt. Doch diese Fragmente haben es in sich: Sie sind als Vorarbeiten zu einem nicht realisierten Marx-Buch zu begreifen. Wer sie liest, begibt sich in den Kernbereich der politischen Philosophie Arendts.         

Die erneute, im Schatten der Totalitarismus-Studie erfolgte Beschäftigung mit Marx bildet einen gewiss naheliegenden Zugang zu den Fragmenten. Ein anderer – und für Arendt interessanterweise ergiebigerer – Zugang resultiert aus ihrer entschiedenen Präferenz für das politische Denken der Antike, insbesondere der Politik des Aristoteles, von der Vita activa ein beredtes Zeugnis ablegt. In der Fixierung auf die Antike liegt das kritische Potential der politischen Philosophie Arendts und zugleich wohl auch ihr größtes Problem.

So unternimmt Arendt in den Fragmenten den kühnen Versuch, jene abendländische Tradition politischen Denkens und des ihr zugrundeliegenden Menschenbildes zu explizieren, die durch Marx ihr Ende gefunden habe. Dieser habe nämlich endgültig das animal rationale durch das animal laborans ersetzt. Nicht mehr die Vernunft, sondern die Arbeit definiere hinfort den Menschen. Was aber bedeutet dieses neue Menschenbild für das Fernziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der die Menschen doch vom Arbeitszwang befreit sein werden? Arendt sieht hier den Kardinalwiderspruch in Marx‘ politischem Denken.

Sie hat dabei sehr genau im Blick, dass die Moderne den in der Antike wie auch noch im Christentum selbstverständlichen Vorrang der Kontemplation beziehungsweise des bios theoretikós negiere. Hegel sei der letzte große Denker der Neuzeit, auf den dies noch nicht zutreffe. Nicht dem Zwang zu unterliegen, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen zu müssen, sondern frei zu sein für die Politik war das Ideal der antiken Polis. Das Verhältnis zwischen diesem Ideal einer aktiven Teilhabe am Gemeinwesen und dem bios theoretikós des Philosophen war gewiss nicht spannungsfrei. Das bestreitet auch Arendt nicht, obgleich die zeitliche Koinzidenz zwischen der Entstehung der Philosophie und dem Untergang der Polis unbemerkt bleibt.

In jedem Fall lässt Arendt uns nicht darüber im Unklaren, wo ihre Sympathien liegen. Wenig Gnade findet bei ihr das Selbstbewusstsein eines dezidiert modernen Denkers wie Hobbes, der meint, die politische Philosophie beginne eigentlich erst mit seiner Schrift De Cive. In Vita activa wird sich Arendt mit ebensolcher Schärfe gegen Locke, Smith und den durch sie geprägten Liberalismus positionieren. Die moderne Arbeitsgesellschaft empfand sie als ebenso defizitär wie die repräsentative Demokratie. Diese kritischen Prämissen ihres politischen Denkens finden in der Arendt-Rezeption, die gegenwärtig eine Hausse erlebt, oft nicht die ihnen gebührende Beachtung. Die hier versammelten Fragmente können daher helfen, die Wahrnehmung für gerade diesen Zug ihres Denkens zu schärfen.

Im Grunde offenbaren die Fragmente bereits denselben pessimistischen Geist wie Vita activa, indem sie nämlich – in den Worten von Günter Anders, Arendts erstem Ehemann – die „Antiquiertheit des Menschen“ suggerieren. Will man indessen Arendts Auseinandersetzung mit Marx auf den Punkt bringen, könnte man sagen, sie fühle sich eher von den modernen Zügen seines Menschenbildes abgestoßen, finde aber in dem Philosophen, der sich am Ende doch nicht von den Eierschalen antiken politischen Denkens zu befreien vermochte (hierzu erhellend die neue Marx-Studie Karl Marx. Greatness and Illusion [2016] von Gareth Stedman Jones, nach dem Marx die Pariser Kommune geradezu als eine Rückkehr zur Polis gefeiert habe), einen kongenialen Dialogpartner. Letzteres erklärt vielleicht auch ihre Bereitschaft, ihn etwas voreilig vom Vorwurf des Verstricktseins in totalitäres Denken zu exkulpieren. Wenn sie ihn als Anhänger Darwins apostrophiert, scheint sie allerdings die Sehweise Friedrich Engels zu übernehmen, der sich in seiner Grabrede zu der Behauptung verstieg, Marx sei eine Art Darwin der Geschichtswissenschaft. Stedman Jones registriert hingegen trocken, Marx habe an Darwins Reduktion von Finalität auf Kausalität Anstoß genommen. Klassische Bildung – Marx hatte einst über Epikur promoviert, den er im Geiste der Hegelschen Bewusstseinsphilosophie interpretierte (!) – und teleologisches Denken gehören letztlich zusammen. Das dürfte am Ende gleichermaßen für Arendt gelten.       

Daher besteht Anlass, näher auf Arendts Methode einzugehen: die philologisch-philosophische Kunst der Arbeit am Begriff, die auch eine Analyse des Bedeutungswandels umfasst, welche der politischen Sprachkritik dienen soll. In diesem Kontext kommt ihrem Totalitarismuskonzept noch eine herausragende Bedeutung zu. So betont Arendt die Sogwirkung, die banale Redensarten wie „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“ und „Wer A sagt, muss auch B sagen“ in der totalitären Rhetorik entfalten können, indem sie durch ihre „eiskalte Logik“ die Werte einer demokratisch-republikanischen Kultur negieren. Diese Kultur basiere ihr zufolge auf der „Gleichheit“ im lebensbejahenden „Zusammensein mit gleich starken Mitbürgern“, nicht – wie es in einer polemischen Wendung gegen Hobbes heißt – auf der Gleichheit als einer „‘equality of ability‘ zu töten“. Sodann setzt sie gegen die Marxsche Rede vom „Ende“ als finaler Krisenbewältigung ihre eigene Rede von der „Geburt des Menschen“, vom „Anfang“ und von der „Spontaneität“, welche die Ketten der Determination sprengen und Freiheitsräume eröffnen. Deutlicher noch als in Vita activa wird in den Fragmenten des vorliegenden Bandes Aristoteles‘ Differenz zwischen poiesis / techné und praxis als Herkunft ihrer begrifflichen Unterscheidung zwischen dem „Herstellen“ eines dann außerhalb des Herstellungsprozesses existierenden Produktes und dem selbstzweckhaften „Handeln“ erkennbar.

Offene Forschungsfragen wie die nach einer Bevorzugung des „göttlichen“ theoretischen Lebens des sophos („the wise man“) gegenüber dem an die menschlichen Angelegenheiten gebundenen politischen Leben des phrónimos („the understanding man“) nimmt Arendt auf, um sie mithilfe der Schlussworte des Chores in Sophokles‘ Antigone („the intensely political play“) zu beantworten: „Understanding [phronein] is by far the first thing inherent and necessary for a blessed life [eudaimonia]“. In Übereinstimmung mit Sophokles gewichtet Arendt, Aristoteles folgend, praktische Klugheit (phrónesis, political insight) höher als die theoretische Einsicht (nous, philosophical spirit), denn erstere ist Klugheit mit Logos („the phrónimos understands what is good for himself and what is good for men in general“) und letztere Intuition ohne Logos (Nikomachische Ethik, VI, 9; 1142a23-29). Da der Mensch von den Menschen (mit der ‚Horizontalität‘ der Meinung) und nicht nur von den Göttern (mit der ‚Vertikalität‘ des die alleinige Wahrheit beanspruchenden Elitären) geliebt werden will, ist das politische Leben durchaus „in einem zweiten Sinn“, also auf andere Weise glückstiftend als das theoretische Leben.

Gleichwohl muss Arendt im Anschluss an Aristoteles die Priorität der Theorie sub specie aeternitatis zugeben, nicht aber unter der menschlich-irdischen Dimension der amor mundi: „The ultimate end of action, praxis, could therefore only be some non-action“. Anhand solcher Begriffsklärungen zeigt sich mithilfe der neuen Ausgabe auch deutlich die Leistung der Philosophin unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit: Arendts Übersetzungen aus dem Griechischen ins Englische schaffen ein hohes Maß an Differenziertheit – gerade mit Blick auf bis heute kontrovers diskutierte Forschungsfragen.

Zum vorliegenden Band ist außerdem anzumerken, dass Arendt die Texte im Rahmen der Beantragung eines Stipendiums bei der Simon Guggenheim Memorial Foundation im Oktober 1951 unter dem Arbeitstitel „Totalitarian Elements of Marxism“ einreichte, das ihr im April 1952 gewährt wurde, der Verlängerungsantrag vom Januar 1953 wurde abgelehnt. Insgesamt stehen hier drei Themen, die später in einzelnen Büchern expliziert werden, in einer noch unzusammenhängenden Reihe von Fragmenten. Erstens die Frage nach der Dominanz der Herrschaftstypologie im politischen Denken: Arendts Antwort mithilfe der Unterscheidung der Kategorien „Gewalt“ und „Macht“ wird erst in On Violence erarbeitet. Zweitens die Frage nach der Dominanz des „Herstellens“ im politischen Denken: Die Antwort in der Gegenüberstellung von „Herstellen“ und „Handeln“ wird in The Human Condition beziehungsweise Vita activa umfassend kulturkritisch entfaltet. Drittens die Frage nach der Dominanz der Theorie (bei Platon und Aristoteles): Die Antwort wird in der Komplementarität von vita activa und vita contemplativa, also der Tätigkeitsformen Arbeiten, Herstellen, Handeln und dem sich im Denken, Wollen und Urteilen artikulierenden Leben des Geistes, werkgeschichtlich im Nachlass offengelassen.

Folglich geht es für Arendt gar nicht so sehr um Marx, sondern, wie die Weiterführung des Buchprojektes in den Christian Gauss-Vorlesungen an der Princeton University im Titel anzeigt, um „The Tradition of Western [Political] Thought“. Entsprechend erschien im Januar 2019 als zweiter Band der neuen Kritischen Gesamtausgabe der Band Die verborgene Tradition. Sechs Essays (1948/ 1976). Der Ausgangspunkt der Arendtschen Schreibenergie liegt in dem ersten Satz des letzten hier edierten Textes zur politischen Dimension des Existentialismus (Juni-September 1954) offen zutage: „For the philosopher, concern with politics is not a matter of course.“ Zumindest an die durch Aristoteles begründete Tradition kosmopolitischen Denkens möchte Arendt im Anschluss an Jaspers, ihren Doktorvater, wieder anknüpfen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hannah Arendt: The Modern Challenge to Tradition. Fragmente eines Buchs (Kritische Gesamtausgabe. Druck und Digital, Bd. 6).
Herausgegeben von Barbara Hahn, Ingo Kieslich, James McFarland, Ingeborg Nordmann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
923 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783835331921

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