Mythos St. Pauli remixed

Rocko Schamoni spürt auf literarisch belanglose Art dem Leben einer Kiezgröße nach

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rocko Schamoni ist als Ex-Betreiber des „Golden Pudel Clubs“ an der Hafenstrasse eine schillernde Legende der (Hamburger) Subkultur und bespielt eine breite Klaviatur der Künste: Als Punk- und Schlagersänger, als Komponist, Entertainer, Schauspieler und Schriftsteller. 2017 lernte er in Hamburg auch die ehemalige Kiezgröße Wolli Köhler kennen und freundete sich mit ihm an. In Grosse Freiheit erzählt Schamoni nun die Geschichte dieses Wolli Köhler, der aus dem Nichts zum Puffboss auf St. Pauli wurde und bis zum Schluss nicht so ganz in das Klischee des Rotlichtmilieus passen wollte.

1950 bricht der jugendliche Wolli aus seinem Zuhause im sächsischen Waldheim auf und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs in Chemnitz, Berlin, dem Ruhrpott und als Aushilfe in einem Zirkus durch. Schließlich kommt er nach St. Pauli, nach „St. Liederlich“ und „Wolli fühlt sich sofort zu Hause. Mehr als an irgendeinem anderen Ort der Welt.“ Er fängt als Kleindealer auf der Straße an, wird dann „Greifer“ vor dem „Klein Paris“ und schließlich als Strohmann Geschäftsführer eines Sexclubs und eines in seiner Privatwohnung betriebenen Pornokinos. Tief sickert St. Pauli in Wolli ein, „durchdringt sein Wesen und Handeln und füllt jede Pore ihn ihm aus“. Und schnell begreift er: „St. Pauli ist eine riesige Melkmaschine.“ Doch am Geld und protzigen Statussymbolen ist Wolli nicht viel gelegen. Im Gegensatz zu seinem Kiez-Umfeld ist er an der politischen Entwicklung interessiert und liest die Existentialisten, Marquis de Sade, François Villon, Charles-Pierre Baudelaire, Arthur Rimbaud und Jean Genet, scheitert allerdings am „Kapital“ von Marx. In der „Palette“ trifft er auf die Hamburger Underground-Kunst- und Literaturszene und lernt dort auch Hubert Fichte kennen. Als er in ein großes Eros-Center und damit auch in ein neues Zeitalter St. Paulis und des Rotlichts einsteigen soll, steht Wolli schließlich an einer Wegscheide.

Schamoni beschwört wie schon unzählige Filme und Romane zuvor St. Pauli wieder einmal als Mythos, als die „Große Freiheit“, in der ganze eigene Regeln gelten und der Exzess zur Lebensform wird. Sein Roman ist eindimensional erzählt und seinen Figuren fehlt jegliche psychologische Tiefe und Entwicklung. Wolli ist Wolli und bleibt Wolli und sein plakativ angeführtes Interesse für Literatur und Kunst macht ihn noch nicht zur interessanten Romanfigur. Hier fehlt es an (Selbst-)Reflexion und überraschenden Ein- und Ansichten, dem Roman insgesamt an einem packenden Erzählsog.

Dennoch bietet der Roman einiges an Lokokalkolorit und interessanter Zeitgeschichte – wie zum Beispiel die Gaunersprache auf St. Pauli, die damaligen Kiezgrößen und Clubs, die Transvestitenshow der Cartacarla oder der Priester Leppich, das „Maschinengewehr Gottes“, der gegen den Sittenverfall predigt. Nicht zuletzt zeichnet sich hier auch die Entwicklung St. Paulis mit „Indra“, „Kaiserkeller“ und „Star Club“ zum Hotspot des Rock’n’Roll ab, in dem Little Richard oder Gene Vincent für Furore sorgen. Hier beginnt dann auch der kometenhafte Aufstiegs der Beatles, bei deren ersten Auftritt Wolli noch orakelt: „die sind nach einer Woche wieder weg vom Fenster“.

Titelbild

Rocko Schamoni: Grosse Freiheit. Roman.
hanserblau, Berlin 2019.
288 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446262560

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