Mit Cyanometer und Deklinatorium ins Himalaja‑Gebirge

Rudi Pallas Buch „In Schnee und Eis“ erkundet eine Forschungsreise des 19. Jahrhunderts

Von Mario HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Himalaja‑Region mit den angrenzenden Hochgebirgszügen ist bekanntermaßen seit über 150 Jahren Ziel westlicher, zumeist europäischer Expeditionen. Seit den großen Entdeckungsreisen des 19. Jahrhunderts hat sich jedoch das Interesse an den höchsten Bergen der Welt stark gewandelt. Der Mount Everest ist mittlerweile Austragungsort konventioneller touristischer Ambitionen und damit auch mess‑ und vor allem vergleichbarer persönlicher Höchstleitungen geworden. Die „terra incognita“, im engen Sinn, ist lange nach der Kartografie der letzten (aus westlicher Sicht) unbekannten Gebiete rund um das tibetische Hochland und den Erstbesteigungen der 14 Achttausender in den 1950er und 1960er Jahren ein physisch nicht mehr anzutreffender Ort. Als Ziel möglicher Erkundungen und Entdeckungen, so könnte man mutmaßen, lässt sie sich bei den touristischen und extremsportlichen Expeditionen nur noch in der Abenteurerin und dem Abenteurer als neu errungener privater Wissensschatz und Selbsterkenntnis herbeireden. Umso spannender ist es da, mit Rudi Palla und seinem lesenswerten Buch In Schnee und Eis einen Teil der Geschichte der Vermessung und Beschreibung der Welt im 19. Jahrhundert zu rekapitulieren.

In den 1850er Jahren waren im Gegensatz zu den beschriebenen individuellen Beweggründen die Ziele einer alpinistischen Expedition ins Zentralasien weitaus konkreter zu betiteln. Die Brüder Hermann, Adolph und Robert Schlagintweit reisten im Rahmen des „Magnetic Survey“ der East India Company von 1854 bis 1858 in das Himalaja‑Gebirge, um Daten für die Erforschung des Erdmagnetismus zu sammeln. Ermöglicht wurde diese Reise letztlich durch den tatkräftigen Einsatz von Alexander von Humboldt. Dieser protegierte die Brüder und warb nicht nur beim preußischen König eine ansehnliche Summe für die Expedition ein, sondern garantierte durch sein Renommee (und sein instruiertes Forschungsnetzwerk) für die wissenschaftliche Kompetenz der Schlagintweits. Humboldts Interesse an der Expedition betraf aber nicht nur die besagten Forschungen zum Erdmagnetismus, sondern er sah darin auch die Möglichkeit der Weiterführung seiner eigenen Reisetätigkeit, deren Stellenwert für unterschiedlichste Wissenschaftssparten hier kaum zusammenfassend wiedergegeben werden kann. Die aus München stammenden Schlagintweits, in erster Linie Hermann und Adolph, waren ihm als exzellente Bergsteiger und Verfasser eines Werks über die Geografie der Alpen bekannt und standen seit einiger Zeit mit ihm in Korrespondenz. Sie sollten, so Humboldts Vorstellung, neben ihrer Aufgabe bezüglich des Erdmagnetismus, weitere umfassende kartografisch-ethnografische Studien bewerkstelligen. Sein Vertrauen in ihre Sammel‑ und Aufzeichnungsfähigkeiten wurde auch nicht enttäuscht, lieferten sie doch Kisten über Kisten mit Exponaten sowie Unmengen an Fotografien und Notizbüchern mit Messungsergebnissen und Landschaftszeichnungen nach Berlin. Die Rezeption der wissenschaftlichen Arbeiten der Schlagintweits erlebte Humboldt jedoch nicht mehr: Erst 1861, zwei Jahre nach seinem Tod wurden die ersten Forschungsergebnisse veröffentlicht und direkt, vor allem von der englischen Wissenschaft‑Community, verrissen. Was den Brüdern vorgeworfen wurde, abgesehen davon, dass sie bereits existierende Arbeiten ignorierten, ist eine zeitlose Schelte unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: Sie seien exakt im Aufzeichnen, lautete der Tenor, jedoch fehle ihnen die Gabe, aus den Aufzeichnungen Schlüsse zu ziehen.

Palla fasst diese vierjährige Reisetätigkeit der Brüder auf knapp 200 Seiten großteils chronologisch zusammen und schafft es, durch eine kluge Auswahl an Einzelheiten und interessanten Exkursen, die wissenschaftlichen Ambitionen der Schlagintweits (und damit der Mitte des 19. Jahrhunderts) für die Leserin und den Leser als „exotisches“ Ziel der Reise in den Vordergrund zu rücken. Nach den einleitenden Seiten, auf denen die bergsteigerischen Leistungen der Schlagintweits in den Alpen rekapituliert werden, widmet sich Palla der Wissenschaftsgemeinschaft des 19. Jahrhunderts, ihren herausragenden Exponenten wie zum Beispiel dem Universalgelehrten Edward Sabine und Zusammenschlüssen wie der britischen Royal Society. Die Geschichte der Wissenschaft(en) und der aus heutiger Sicht nicht immer naheliegende Erkenntniswert einzelner Fragestellungen, vor allem mit Blick auf die Schlagintweits, stehen fortan ebenso sehr im Zentrum von Pallas Buch wie die physischen Höchstleistungen der Bergsteiger im Himalaja. Bereits die Vorbereitungen für die Expedition nehmen gewaltige Proportionen an. Eine kleiner Auszug der Liste an wissenschaftlichen Instrumenten, die die Brüder mitführten, zeigt einen von exakten Daten besessenen Antrieb zur Welterkundung: „Theodolite, Chronometer, Barometer, Hypsometer (Siedethermometer), Thermometer, Hygrometer, Klinometer (Neigungsmesser), Cyanometer, Pedometer (Schrittzähler), Sextanten, Verdunstungsmesser, Teleskope, Mikroskope, Kompasse; für die magnetischen Messungen: Universal‑Magnetometer, Deklinatorien (Deklinationsbussolen) und ein Troughton‑Theodolit mit Magnetnadel“ etc. Palla zieht in seiner Nachbereitung der Reise seine Schlüsse aus der Detailversessenheit der Schlagintweits. Geschickt gelingt es ihm, auf wenigen Seiten die wichtigsten (und auch interessantesten) Fakten zum Beispiel zur East India Company, der Erdmagnetismusforschung, zu einzelnen Städtegründungen oder bestimmten Phasen der Vermessungsarbeiten in Indien herauszuarbeiten und spannend zu präsentieren, ohne allzu große Verkürzungen vorzunehmen. Das Quellenverzeichnis des Buchs bietet zudem genug Material zur weiterführenden Überprüfung und Beschäftigung. Auch die an dieser Stelle verzeichneten Schriften der Schlagintweits, vielfach im Internet als Digitalisate verfügbar, sind einen Blick wert. Als Probe aufs Exempel wurde willkürlich eines der gewaltigen, mehrhundertseitigen Werke aufgeschlagen: Auf Seiten über Seiten ausgedehnt erfährt man dort zum Beispiel von Hermann Schlagintweit, wie man ein bestimmtes Thermometer richtig bedient (einfach gesagt, indem man es an eine Schur bindet und in Pendelbewegung versetzt) samt den dazugehörigen detaillierten Messergebnissen. Die Vorwürfe aus der Zeit scheinen berechtigt gewesen zu sein.

Titelbild

Rudi Palla: In Schnee und Eis. die Himalaja-Expedition der Bergsteigerbrüder Schlagintweit.
Galiani Verlag, Berlin 2019.
192 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711874

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