Fremdes Heimatland
Eine große Studie zur jüdischen Remigration im deutschsprachigen Theater
Von Irmela von der Lühe
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Außer einer unheilbaren Krankheit kann einen jungen Menschen nichts Schlimmeres treffen als die unfreiwillige Emigration“ – auf viele jüdische und nicht-jüdische Emigrantinnen und Emigranten, die seit 1933 aus Deutschland vertrieben wurden, dürfte diese Feststellung des Schauspielers Ernst Deutsch (1890–1969) zutreffen. Vor allem Schauspielerinnen und Theaterleute, Regisseure und Sängerinnen, der deutschen Sprache leidenschaftlich und zudem professionell verbunden, traf die Ausstoßung und Vertreibung von Bühnen und Theaterpodien hart. Vom „Herzasthma des Exils“ hat denn auch Thomas Mann nicht ohne Grund gesprochen und die Metapher vom Exil als einer Krankheit damit noch einmal radikalisiert. Die Wege und Umwege, die Verwirrungen und verzweiflungsvollen Orientierungsversuche, zu denen das Exil zwang, sind in den letzten Jahrzehnten in Forschung und Öffentlichkeit intensiv beschrieben und erörtert worden. Große Namen, aber auch „kleine Leute“ haben das Interesse der Wissenschaft gefunden. Im kulturellen Gedächtnis der alten und neuen Bundesrepublik sind sie durch Autobiografien und Briefeditionen, durch Monografien und Ausstellungen, schließlich durch Straßennamen und „Stolpersteine“ inzwischen verankert.
Die Remigration jüdischer Emigranten und Emigrantinnen in den deutschsprachigen Raum ist hingegen erst in den letzten beiden Jahrzehnten genauer erforscht worden. So gibt es Studien zur politischen Remigration und damit zur Bedeutung von Remigranten für den Aufbau demokratischer Strukturen in der Bundesrepublik. Nach Rolle und Wirkung jüdischer Remigranten im Bereich der Politik und der Geschichtswissenschaft, in den Sozialwissenschaften und schließlich auch im kulturellen Bereich ist gefragt worden. Nur unzureichend und allenfalls durch Erwähnung weniger prominenter Namen (Fritz Kortner, Ernst Deutsch) war man bisher über die jüdische Remigration im Bereich des Theaters informiert. Die minutiös recherchierte, anschaulich rekonstruierte und historisch-systematisch interpretierende Studie von Anat Feinberg hat dies nun grundlegend und nachhaltig geändert.
Auf der Basis einer beeindruckenden Fülle von archivalischen Quellen, vor allem der umfassenden Sichtung und Auswertung der Wiedergutmachungs- und Restitutionsakten, von Autobiografien, Briefen und vielen persönlichen Gesprächen und Interviews verfolgt Feinberg exemplarisch individuelle Biografien und „Karrierewege“ nach der Rückkehr. Zugleich aber entwirft sie eine kultur-und mentalitätsgeschichtliche Kollektivbiografie der jüdischen Theater-Remigration.
Mit höchst instruktivem und in dieser Form noch nie erhobenem empirischen Datenmaterial zeichnen Einleitung und erstes Kapitel die Koordinaten und Strukturprinzipien einer „Heimkehr“ nach, die von den einen heiß ersehnt, von anderen skeptisch akzeptiert, von der Mehrheit der „Dagebliebenen“ indes teils ignoriert, teils aggressiv abgewehrt oder auch unverblümt antisemitisch kommentiert wurde. Annähernd 200 Theaterkünstler und Theaterkünstlerinnen hat die Autorin für ihre Studie ermitteln können, die sich nach Kriegsende zu einer Rückkehr entschlossen. 15,5% entschieden sich für den Ostsektor beziehungsweise die spätere DDR, 28% waren Frauen; auf 28% beläuft sich auch die Gruppe derer, die nur zu Gastspielen oder für eine Gastregie zurückkehrten und als „Sojourners“ bezeichnet werden. Von den dauerhaft oder temporär Zurückkehrenden waren 58% bereits 1933 in die Emigration gegangen, aus insgesamt 25 Ländern kehrten jüdische Theaterkünstlerinnen und Theaterkünstler nach dem Krieg zurück; darunter kam mit 42% die größte Gruppe aus den USA, 16% aus Großbritannien,10% aus der Schweiz und 5% aus der Sowjetunion sowie 4% aus Israel. In der Gruppe derer, die sich für eine Rückkehr in die SBZ und DDR entschieden, kamen 80% bereits bis zum Jahr 1949 und blieben meist bis zu ihrem Tod in der DDR. Insgesamt sind 40% aller Rückkehrer und Rückkehrerinnen sehr schnell nach 1945 nach Deutschland gekommen; das aber bedeutet, dass im Unterschied zu anderen Berufsgruppen unter Theaterleuten der Wunsch nach Remigration auffallend stark ausgeprägt war.
So ausdifferenziert und aussagekräftig das von Feinberg erhobene Zahlenmaterial auch ist, es geht ihr nicht um ein Handbuch oder ein Nachschlagewerk statistischen Zuschnitts. Die Verschränkung von individual-und kollektivbiografischen Perspektiven bestimmt Anlage und Aufbau der Studie, die auf diese Weise ein höchst anschauliches Bild von Erfahrungen und Ängsten, Hoffnungen und Enttäuschungen, Erfolgen und Misserfolgen im Bereich der jüdischen Theater-Remigration zeichnet. Die Darstellung konzentriert sich dabei vor allem auf die erste Nachkriegszeit, also auf die Jahre von 1945 bis 1949. Der Wunsch, am Wiederaufbau eines deutschsprachigen Theaters aktiv mitzuwirken, veranlasste viele zur Rückkehr; ließ sie trotz der Erfahrung von Ausgrenzung und Erniedrigung seit 1933 an der Hoffnung festhalten, ein durch die Emigration „gebrochenes Leben“ (Ernst Josef Aufricht) mit der Rückkehr produktiv und erfolgreich fortführen zu können.
Annährend 420 Bühnenautoren und 4.000 Theaterschaffende waren durch das nationalsozialistische Regime, das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und die in der „Reichskulturkammer“ institutionell verankerte „Arisierung“ des Theaterlebens in die Emigration gezwungen worden. In 40 Ländern in und außerhalb Europas, in Südamerika und der Türkei, in Shanghai und in der Sowjetunion, in Indien und Palästina hatten sie Zuflucht gefunden. So unterschiedlich die sprachlichen und die kulturellen Kontexte waren, so gegensätzlich gestalteten sich die Arbeitsbedingungen für emigrierte jüdische Bühnenkünstler in den jeweiligen Ländern. Das Zürcher Schauspielhaus und die Filmstudios in Hollywood boten befristet Zufluchts-und Arbeitsmöglichkeiten, eine Fortsetzung der nicht selten glänzenden Karrieren im deutschsprachigen Raum war nur in Ausnahmefällen möglich. „Wir gingen ins Exil wie entthronte Könige“, schrieb nicht ohne Grund der Regisseur, Autor und Schauspieler Berthold Viertel (1885–1953).
Etwa drei Viertel der jüdischen Schauspieler, die es nach New York verschlagen hatte, fanden kein Engagement. Curt Bois (1901–1991), einer der großen Theaterstars der Weimarer Bühnen, ist ein besonders markantes Beispiel: Mit kleinen Filmrollen hatte er sich seit 1934 in Amerika über Wasser zu halten versucht; als ihn nach Kriegsende Rückkehr-Angebote von Boleslaw Barlog aus Westberlin und von Wolfgang Langhoff aus Ostberlin erreichten, fehlte ihm das Geld für die Schiffspassage nach Europa. Erst durch Intervention Thomas Manns wurde es aufgebracht. An einer Vielzahl von Beispielen illustriert Feinberg das Geflecht aus materieller und mentaler, existenzieller und beruflicher, sprachlicher und künstlerischer Entwurzelung, in dem insbesondere Theaterschaffende sich verstrickten. Für diese exiltypische Erfahrung gibt es eine Fülle von persönlichen und offiziellen Zeugnissen.
Im Bereich der jüdischen Theater-Remigration hat wohl niemand so präzise und anschaulich von ihr berichtet wie Fritz Kortner (1919–1970): vom Schmerz des Exils, vom Rückzug in die „Sprachheimat“ und von der Sehnsucht nach Rückkehr auf die deutschsprachigen Bühnen. Zugleich illustrieren Person und Remigration Fritz Kortners jenes remigrationstypische Geflecht aus hohen Erwartungen, enttäuschten Hoffnungen und kaum vorhersehbar bitteren Erfahrungen. Letztere beziehen sich vor allem auf ein bei den „Dagebliebenen“ dominantes Schweigehandeln: Weder nach den Erlebnissen der Remigranten wird gefragt noch nach Erklärungen für das Schreckensgeschehen gesucht, eigene Verantwortung wird ungefragt bestritten und das Gespräch über die Vergangenheit aggressiv vermieden. Was Hannah Arendt nach ihrem Deutschland-Besuch im Jahr 1950 auf treffend-maliziöse Weise konstatierte: „Der Durchschnittsdeutsche sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben“, das findet in Episoden, Anekdoten und schmerzhaften Erlebnissen fast aller jüdischen Remigranten seine Entsprechung.
Der materialreich-detaillierten Überblicks-Darstellung zu „Schicksalen, Tendenzen, Wirkung“ der jüdischen Rückkehrer im deutschsprachigen Theater nach 1945, die das erste Drittel der Studie liefert, folgen vier kürzere, nicht minder materialreiche Kapitel mit „Fallstudien“. Sie gelten mit Ernst Deutsch (1890–1969) einem der erfolgreichsten jüdischen Theaterremigranten in der alten Bundesrepublik, der vor allem mit seiner Darstellung des Nathan für Aufmerksamkeit, aber auch für Auseinandersetzungen sorgte; mit Steffie Spira (1908–1995) einer Schauspielerin, die sich als jüdische Remigrantin beruflich und politisch (sie war seit 1931 Mitglied der KPD) für die Ostzone und spätere DDR entschieden hatte; mit Herbert Grünbaum (1902–1981) einem jüdischen Schauspieler mit doppelter Remigrationsgeschichte. Denn Grünbaum, der mit seiner Frau zunächst nach Erez Israel eingewandert war und sich dem 1945 gegründeten Cameri-Ensemble angeschlossen hatte, verließ den jüdischen Staat 1953 wieder. Er ging zunächst an die Ostberliner Volksbühne unter Fritz Wisten, wechselte aber 1960 an die Westberliner Bühnen.
Mit dem Theaterdirektor Claudius Kraushaar (1878–1955) schließlich rekonstruiert Feinberg den persönlichen und beruflichen Lebensweg eines der erfolgreichsten jüdischen Privattheaterbesitzers. Im Stuttgart der Vorkriegszeit galt er als „König des Theaters“. Alle vier „Fallstudien“ sind freilich mehr als dies, denn sie beschreiben und analysieren am jeweils exemplarischen Fall historisch-systematische Aspekte des Gesamtthemas: Ruf und Ruhm des großen Nathan- und Shylock-Darstellers Ernst Deutsch, der ganz bewusst an die Tradition eines Theaters als „moralischer Anstalt“ anknüpfen wollte, stehen für einen Neubeginn des bundesrepublikanischen Theaters durch einen jüdischen Remigranten. Seine materiellen und künstlerischen Erfolge als „unangreifbare(r) Heilsbringer“ hat er selbst als späte Genugtuung für die seit 1933 erfahrene Erniedrigung empfunden.
Die schwierige und durch die Umstände der Wiedervereinigung nochmals problematisch gewordene Existenz einer jüdisch-kommunistischen Remigrantin, die ihre künstlerische Arbeit in den Dienst des neuen Staates stellte, veranschaulicht das Kapitel über Steffie Spira. Die Darstellung von Leben und beruflichem Werdegang Herbert Grünbaums hingegen beleuchtet die besondere Problematik deutsch-jüdischer Bühnenkünstler im jüdischen Staat. Steffie Spira und Herbert Grünbaum, die beide (zunächst) in die DDR zurückkehrten, dürften überdies eine Erfahrung geteilt haben, die eine Interview-Partnerin Feinbergs so formuliert: „Über Juden, was Juden sind, was sie erlebt haben – darüber sprach man nicht, auch nicht bei uns am Theater“.
Das war – so zeigen die ausführlichen Schilderungen im ersten Kapitel und in demjenigen über Ernst Deutsch – in der alten Bundesrepublik nicht wirklich anders, wohl aber war dieses Schweigen nicht von einer Überzeugung getragen, die den Mord an den europäischen Juden für ein „sekundäres Merkmal der Nazi-Diktatur“ gehalten hat. Von allen vier Beispielen ist dasjenige des Theaterdirektors Clemens Kraushaar für die empörend-erniedrigenden Umstände, die jüdische Remigranten bei der Behandlung ihrer Entschädigungs- und Restitutionsanträge durch Ämter und Behörden erleben mussten, besonders einprägsam.
In immer neuen Anläufen referiert Anat Feinberg Lebensgeschichten, Bühnenkarrieren, Emigrations-und Remigrationserlebnisse, Theaterpremieren und Aufführungsreaktionen. Aktenvermerke und Gespräche mit Zeitzeuginnen, bürokratische Verlautbarungen und private Mitteilungen einzelner Akteurinnen lassen ein Bild von Bedeutung, Wirkung, vor allem aber vom Alltag jüdischer Remigranten in deutschen Theatern entstehen, das in dieser Ausführlichkeit und Anschaulichkeit bisher nicht gezeichnet wurde. Ein bisher weitgehend unerschlossenes und unbekanntes Kapitel der deutschsprachigen jüdischen Theatergeschichte ist damit endlich „ins Rampenlicht“ von Forschung und Öffentlichkeit gelangt.
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