Aufzeichnungen eines erotomanischen Weltliteraten

Lion Feuchtwangers Tagebücher schwanken zwischen der Buchhaltung eines Schürzenjägers und dem intimen Selbstporträt eines Starschriftstellers

Von Sebastian MuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Musch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl Lion Feuchtwanger es in einem Interview explizit verneint hatte, stellte sich mehr als 30 Jahre nach seinem Tod heraus, dass er tatsächlich ein sehr fleißiger Tagebuchschreiber gewesen war. Von seiner Studentenzeit an bis hin ins höhere Alter hatte Feuchtwanger beinahe täglich, in oftmals kurzen Einträgen, die Vorkommnisse des Tages schriftlich festgehalten. Offen, schonungslos (gegen sich selbst und andere), pointiert –  und oft banal. Dass diese Tagebücher überhaupt erhalten geblieben sind, ist seiner langjährigen Sekretärin Hilde Waldo (mit der er, wie könnte es anders sein, wohl ein Verhältnis hatte) zu verdanken, in deren Wohnung sie 1991 entdeckt wurden. Sie waren zum größten Teil in der Gabelsberger-Kurzschrift verfasst, konnten aber in einer maschinenschriftlichen Transkription bereits seit einigen Jahren von WissenschaftlerInnen in der Feuchtwanger Memorial Library an der University of Southern California genutzt werden. Nun liegen diese Tagebücher stark gekürzt, aber hervorragend ediert, beim Aufbau Verlag unter dem Titel Ein möglichst intensives Leben vor. 

In seiner in Der Zeit (vom 05.12.2018) erschienen Rezensionen hat Michael Naumann diesen Band die „peinlichsten und langweiligsten Tagebüchern der Literaturgeschichte“ genannt. In der Tat reihen sich hier die Peinlichkeiten aneinander: Eine Kaskade an sexuellen Eroberungen, Masturbationsexzessen (pennälerhaft lateinisch verschwurbelt zu „Exceß in Priapo“), pikanten Urteilen über Schriftstellerkollegen (seltener: Kolleginnen), Schauspielerinnen und Tänzerinnen. Teilweise erscheinen die Tagebücher als Buchhaltung eines Schürzenjägers, wobei zu bedenken ist, dass sie von Feuchtwanger ja auch nie zur Veröffentlichung gedacht waren.

Sie sind zudem nur unvollständig überliefert; ausgerechnet die Jahre zwischen 1921 und 1931, also die Periode, in der Feuchtwangers Karriere so richtig an Fahrt gewann, sind leider verschwunden. Das Personal der Tagebücher liest sich aber so wie ein literarisches Whoʻs who der damaligen Zeit: Bertolt Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Frank Wedekind, Arnold Zweig, Feuchtwangers Frau Martha, geborene Löffler, und zahlreiche Geliebte (hervorzuheben ist die Malerin Eva Herrmann) sowie unzählige anonyme „Huren“, machen ihre Aufwartung. Ebenfalls schade ist, dass die Zeit des südkalifornischen Exils fehlt. Die 18 Jahre zwischen der Einwanderung in die USA und seinem Tod waren für den staatenlosen Feuchtwanger nicht nur eine sehr produktive Zeit, in der mehrere seiner schönsten Werke entstanden, sondern auch eine Periode, besonders in den 1940er Jahren, in der die Villa der Feuchtwangers in Pacific Palisades bei Los Angeles ein Fixstern der deutschsprachigen Exilgemeinschaft war.

Es ist allerdings anzumerken, dass ohne Kenntnis von Feuchtwangers ausuferndem Werk, seinen philosophischen Interessen, die ja vor allem in seine historischen Romane einflossen, seiner humanistische Allgemeinbildung, der allein durch die Tagebücher vermittelte Lion doch etwas oberflächlich erscheinen mag. Sex, Glücksspiel, Essen und Finanzen nehmen einen größeren Platz ein als literarische, philosophische und politische Bemerkungen. Reflexionen, wie man sie oft in den Tagebüchern von SchriftstellerInnen findet, zumeist für die Veröffentlichung geschrieben oder redigiert, finden sich hier nur vereinzelt. Über den Entstehungsprozess der einzelnen Werke lernt man wenig; meistens bleibt die schriftstellerische Tätigkeit in Hintergrund.

Dennoch zeichnen die kurzen, oft stenografisch gehaltenen, Eintragungen ein faszinierendes Porträt des mittellosen aufstrebenden Schriftstellers als junger Mann, später ein Sittenbild des deutschsprachigen Exils in Südfrankreich. Diese Mischung aus voyeuristischen Einblicken und zeitgeschichtlichen Einwürfen macht zu einem großen Teil den Reiz dieser Tagebücher aus. Zum einen zeigt sich hier „Feuchtwanger ohne Filter“ wie der Schriftsteller Klaus Modick in seinem Vorwort treffend schreibt, zum anderen aber zeigen sich hier die Parallelität von Privatem und Öffentlichem, die Verstrickung von Banalem und Weltpolitischem. Beispielhaft dafür soll hier der Eintrag vom 19. September 1938 stehen:

Eva den ganzen Tag im Bett. Frankreich und England kapitulieren vor Hitler. Kriegsgefahr vermutlich aus. Gespielt, ziemlich verloren. Mit 2 Huren geschlafen. Ziemlich fad.

So geht es auf beinahe 450 Seiten weiter (plus eines sehr langen und guten Anmerkungsapparates), wobei erwähnt werden muss, dass im vorliegenden Band nur etwa 50 Prozent des ursprünglichen Textes der Tagebücher wiedergegeben wurde. Doppelungen und Wiederholungen haben die Herausgeberinnen gestrichen, wodurch zum Beispiel der Eintrag „gevögelt“, der Michael Naumann so schockiert hat, nur rund 100 Mal (von insgesamt rund 650 Manuskripteinträgen) auftaucht. Natürlich bräuchte es keine historisch-kritische Ausgabe der Tagebücher um eine Übersicht über Feuchtwangers Bettgefährtinnen zu kriegen. Aber um sich dem Phänomen Feuchtwanger, einer Figur mit erheblichem öffentlichen Ansehen, dessen Reden und Artikel mit Interesse auf der ganzen Welt wahrgenommen wurden, eines frühen Gegners des NS-Regimes, dem gleich mit der ersten Ausbürgerungsliste 1933 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde, und einem der erfolgreichsten Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu nähern, haben diese Tagebücher tatsächlich erheblichen geistesgeschichtlichen Wert.

Manche berühmt gewordene Episode, wie beispielsweise die Inhaftierung des Herausgebers der Weltbühne Carl von Ossietzsky, der von Feuchtwanger und anderen Intellektuellen in einem Akt der Solidarität zur Haftanstalt Tegel gebracht wurde, tauchen in den Tagebüchern nur kurz auf, ja werden von Feuchtwanger nonchalant als „sehr peinlich und langwierig“ abgebügelt, gewinnen aber gerade dadurch eine neue Perspektive. Sein Fokus richtet sich schnell wieder auf seine beiden großen Leidenschaften: sexuelle Eroberungen und das Schreiben (vielleicht in dieser Reihenfolge). Doch sind die  Tagebücher durchaus geeignet, einen erhellenden Blick auf die gesellschaftlichen und politischen Zustände der damaligen Zeit zu werfen.

Deutlich wird das zum einen anhand Feuchtwangers Vortragsreise durch die USA Anfang 1933, auf der der Schriftsteller wie ein Star empfangen wird. Bei Aufenthalten, unter anderem in New York, Albuquerque, Los Angeles (seiner späteren Heimat im amerikanischen Exil), San Francisco, Chicago und Washington, war der Autor einerseits von Land und Leuten fasziniert und andererseits von dem Jubel und Trubel, der unaufhörlichen Abfolge von Empfängen, genervt und ermüdet; währenddessen wurde in Deutschland Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Feuchtwangers Vermögen wurde konfisziert, eine Rückkehr nach Deutschland gefährlich und letztlich unmöglich. Die Tagebucheinträge der Reise und der Monate nach der Rückkehr aus den USA, eine Chronik der Bemühungen Feuchtwangers, sein Leben in den Nachbarländern Deutschlands neu zu organisieren, gehören zu den spannendsten Passagen der Tagebücher.

Zum anderen ist da die berüchtigte Moskaureise Feuchtwangers. Die Frage, ob und wie weit er sich vor den Propagandawagen Josef Stalins spannen ließ, hat die Bochumer Slawistin Anne Hartmann bereits, unter anderem auf die Tagebücher gestützt, differenziert in ihrer Dokumentation „Ich kam, ich sah, ich werde schreiben“. Lion Feuchtwanger in Moskau 1937 beantwortet (auf Literaturkritik.de rezensiert). Spannend lesen sich die Tagebucheinträge der Reise allemal, wenn auch hier Verknappungen und Lakonismen vorherrschen.

Sind diese Tagebücher nun langweilig und peinlich? Ja, sicher! Selbst das Leben eines Lion Feuchtwanger war oft von Alltäglichkeit geprägt. Aber doch haben wir es hier mit einem faszinierenden Lebenspanorama einer der damals bekanntesten Stimmen der deutschsprachigen Literatur zu tun: Ruhm und Internierung, Roué und Flüchtling, die Stimme der deutschsprachigen Literatur im Ausland und ausgebürgerter Staatenloser, in der Fremde geachtet und zu Hause verfemt – ein Lebensbogen mit vielen Höhen und Tiefen. „Ein möglichst intensives Leben“ zu führen, nahm sich der junge Feuchtwanger bereits 1906 vor. Nach der Lektüre der Tagebücher bleibt festzuhalten, dass er diese selbstgestellte Aufgabe zweifelsohne erfüllt hat.

Titelbild

Lion Feuchtwanger: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher.
Herausgegeben von Nele Holdack, Marje Schuetze Coburn und Michaela Ullmann. Mit einem Vorwort von Klaus Modick.
Aufbau Verlag, Berlin 2018.
640 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783351037260

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