Über falschen Umgang mit Literatur

Niklas Benders Gegenwartsdiagnose glückt, erreicht aber nicht jeden Patienten

Von Sascha MangliersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Mangliers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stellen Sie sich vor, Sie besuchen am kommenden Wochenende eine Party. Sie stehen ausgelassen beisammen, plötzlich kommt das Gespräch auf Literatur: die populärsten Neuerscheinungen, altgeliebte Klassiker oder den letzten, vielleicht rasch vor Abflug erstandenen Urlaubsroman. Nun denken Sie an Ihr zuletzt gelesenes Buch. Was hätten Sie dem Gespräch der kleinen Party-Gesellschaft beizusteuern?

„Außer Ihrem Wohlgefallen oder Ihrer Ablehnung nicht viel“. Dies wäre wohl Niklas Benders Prophezeiung. Der Literaturwissenschaftler stellt in seinem 2018 im Schwabe-Verlag erschienenen Essay Verpasste und erfasste Möglichkeiten. Lesen als Lebenskunst auf 129 Seiten eine verheißungsvolle Diagnose, wie es gegenwärtig um den Umgang mit Literatur bestellt sei. Literatur solle heutzutage als eine Orientierung im Meer medialer Möglichkeiten verstanden werden – ein Appell, der viele Adressaten verpasst.

Von Anfang an begründet Niklas Bender das Vorgehen in seinem klar strukturierten Essay nachvollziehbar. Früh wird ersichtlich, dass Bender darin nichts Geringeres unternimmt als den Versuch, Literatur als zentrales Kulturelement in der deutschen Gesellschaft wiederzubeleben – womit das Behandlungsziel formuliert ist.

Das erste Kapitel bietet zunächst eine Pathologie der Literatur in der heutigen Zeit. Bender zufolge bestehe das aktuelle Problem der Literatur darin, dass ihr nicht die Funktion zukomme, die sie angesichts der Anforderungen in einer modernen Gesellschaft haben sollte; nein, müsste. Einerseits werde Literatur von Literaten, Hochschuldozenten oder Journalisten auf einen Berufsgegenstand reduziert, wodurch der sensitive Blick auf Bücher verloren gehe – andererseits suchen die Feld-Wald-und Wiesenleser bloß ihre subjektive Befriedigung in Kriminalgeschichten und anderen Büchlein der Kategorie „Leichte Kost“. Was laut Bender fehlt, ist ein literatursensibler Gesellschaftskern. Und wieso braucht es den? Bender verweist in seiner Antwort auf die Medialisierung unserer Zeit und legt damit den Finger in die Wunde der mit Vorschlägen zur Lebenspraxis überfütterten Lesegesellschaft:

Gemeint sind auch die tausendundeins Angebote, die uns Tag und Nacht aus Zeitschriften, Fernsehsendungen, Kinofilmen und natürlich aus dem Internet mehr oder weniger direkt entgegenspringen. Die vielen Möglichkeiten unser Aussehen zu verbessern, unsere Hirnleistung zu optimieren, die Karriere zu fördern, das Sexualleben zu verzaubern […].

Bender expliziert, dass „Das Neue“ zu einem Wert eo ipso heranwachse, den man allein um seiner selbst willen begehre. Diese Diagnose scheint plausibel, auch wenn einzelne Vergleiche, wie etwa der zwischen dem Wechsel von Lebensentwürfen und Schizophrenie, deutlich zu weit gehen. Und was soll jetzt den Menschen retten, der orientierungslos durch die unübersichtliche Welt der Möglichkeiten laviert? Klar, Literatur!

„Die Idee ist, eine individuelle Kunst ernst zu nehmen, die es erlaubt, mit dem Übermaß an Optionen umzugehen – eine alltägliche Lebenskunst, eine Kleinkunst sozusagen, die als solche die moderne Welt akzeptiert hat, ohne sich ihr auszuliefern.“

Literatur solle als Orientierung, als künstlerischer Reflexionsraum der eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten dienen. Literatur, oder genauer: Romane und Lyrik sollen diese Aufgabe übernehmen. Welchen konkreten Nährwert Literatur für den mit Angeboten übersättigten Leser haben sollte, entfaltet Bender in zwei separaten Kapiteln. Es gelingt ihm, beispielsweise anhand Flauberts Frederic Moreau, zu zeigen, dass mit Hilfe des Identifikationspotentials der Leser an den Protagonisten gebunden werde: Somit können ihm ganz neue Möglichkeitswelten erlebbar gemacht werden. Neben Flauberts Education sentimentale werden auch weitere Romanklassiker, u. A. von Michael Houellebecq, ins Feld geführt. An ihnen veranschaulicht Bender, dass die Literatur vom „ewigen Scheiterer“ bis zum „Identitätsflüchtenden“ ein breites Angebotsspektrum zum Umgang mit Lebensoptionen präsentiert.

Der Übergang zur Gattung der Lyrik glückt ohne große Zäsur. Gedichte, so Bender, seien als komprimierte Darstellung von Alltagserfahrung zu verstehen und lehren den Leser, seine eigenen Erfahrungen bewusster wahrzunehmen. Bender tut gut daran, seine exemplarische Auswahl an lyrischen Texten (u. A. Montale und Bleutge) nicht im luftleeren Raum stehen zu lassen, und dem Leser immer wieder beim Transfer von der Textebene auf die praktische Ebene der Möglichkeitsbewältigung unter die Arme zu greifen. Nichtsdestoweniger wird das Lesen – insbesondere der ersten zwei Kapitel – durch manches Hindernis erschwert. Auf sprachlicher Ebene befremdet es zunächst, dass Bender sich selbst ausnahmslos in der 3. Person als „der Autor“ bezeichnet. Darüber hinaus gerät der habilitierte Literaturwissenschaftler durch diverse ‚unbescheidene‘ Bemerkungen gegenüber dem „unreflektierten Leser“ unter Elitarismus-Verdacht, was stellenweise alles andere als leserfreundlich wirkt.

Sei es drum. Das Herzstück des Essays bildet das abschließende Kapitel zum Storytelling. Bender führt das Storytelling – eine literarisch-rhetorische Methode, Zuhörer mit Geschichten möglichst stark zu überzeugen – als einen zentralen Aspekt der Literaturauseinandersetzung ein. Menschen, so Bender im Verweis auf die narrative Psychologie, besäßen die Tendenz, ihr Leben als kohärente Einheit verstehen und erzählen zu wollen. Deshalb vermöge es die Literatur, zur Reflexion der eigenen Lebensgestaltung anzuregen und die Geschichten, die uns Werbung, Konzerne und Politik erzählen, auch mit kritischem Blick zu sehen. Literatur bilde und festige das eigene Selbstverständnis und mache dadurch mündig gegenüber Versprechen und Kaufanreizen in den Medien. Diese Argumentation gelingt dem Autor mustergültig: Sie verdeutlicht, dass in einem reflexiven Umgang mit literarischen Texten die entsprechende Behandlung des Problems liegt, das von Benders Gegenwartsdiagnose – Literatur werde nicht die Funktion zugesprochen, die sie im Zeitalter des Überangebots an Entscheidungsmöglichkeiten haben sollte – beschrieben wird.

Dass diese Diagnose möglicherweise den falschen Patienten erreicht, ist wohl – neben der Überfülle an literarischen Referenzen – die größte Schwierigkeit dieses Essays. Denn wer ihn liest (und versteht), pflegt vermutlich ohnehin ein gelehrsames Verhältnis zur Literatur und wird Benders Appell allenfalls als Denkanstoß empfinden, wenngleich als einen interessanten. Nur, wie verhält es sich mit weiteren Rezipienten? Das Durchdringen der literarischen Beispiele und der anschließende Erkenntnistransfer auf die eigenen Lebensumstände scheinen keine mühelose Aufgabe zu sein – im Falle von Benders Essay übrigens auch für den Rezensenten nicht.

Doch welche Behandlung glückt schon ohne die Einsatzbereitschaft ihres Patienten? So ist, abgesehen von den gewissen Einschränkungen bezüglich des Adressatenkreises, ein weitgehend positives Fazit über diesen Essay zu ziehen. Wenn Sie also Ihren Umgang mit Literatur überdenken möchten, nach Vorschlägen für den reflexiven Umgang mit Ihren Lebensmöglichkeiten suchen oder einfach auf der nächsten Cocktail-Party tiefgreifender über Ihre letzte Lektüre berichten wollen, dann ist Verpasste und erfasste Möglichkeiten eine Leseempfehlung.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Niklas Bender: Verpasste und erfasste Möglichkeiten. Lesen als Lebenskunst.
Schwabe Verlag, Basel 2018.
144 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-13: 9783796537806

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