Imagination und Wirklichkeit

Der Brexit in der britischen Gegenwartsliteratur

Von Wolfgang FunkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Funk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einleitung: Ein Blick zurück

Einer der hellsichtigsten literarischen Texte zum Thema Brexit erschien bereits im Jahre 1998, also 18 Jahre bevor David Cameron seinem Land in Folge einer der spektakulärsten und folgenreichsten Fehleinschätzungen der politischen Geschichte Großbritanniens das Referendum zum Verbleib oder Austritt aus der Europäischen Union vom 23. Juni 2016 einbrockte. In Julian Barnes Roman England, England (auf Deutsch erstmals 1999 erschienen) kauft der Medienmogul Jack Pitman, dessen Figur mehr als nur zufällige Parallelen zu Robert Maxwell aufweist, die Isle of Wight und richtet dort einen Vergnügungspark namens ‚England England‘ ein, der es ausländischen Touristen ermöglicht, gemütlich und ohne große Strecken zurücklegen zu müssen, die Sehenswürdigkeiten Englands, oder zumindest Repliken davon, zu besichtigen. Im Roman führt der triumphale Erfolg dieser Unternehmung schließlich dazu, dass der neu gegründete und durch und durch kapitalistische Staat, der ausschließlich von Touristen und Mitarbeitern des Vergnügungsparks bewohnt ist, dem ‚alten‘ England schnell den Rang abläuft, sich von diesem unabhängig erklärt und seine Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft einnimmt. Während ‚England England‘ also dementsprechend zum Mitglied der EU wird, kehrt das alte England, das sich inzwischen in ‚Anglia‘ umbenannt hat, zu einem vorindustriellen Lebens- und Entwicklungsstand zurück. Jedwede internationale und nationale Infrastruktur bricht zusammen und das soziale, kulturelle und ökonomische Leben konzentriert sich ausschließlich auf die Dorfgemeinschaft. Als Folge entstehen neue, alte Brauchtümer, Dialekte und Identifikationsmuster.

Barnes lässt offen, welche der beiden Alternativen – Kommerzialisierung und Simulation nationaler Identität auf der einen, provinzielle Regression und Abschottung auf der anderen Seite – die beängstigendere Zukunftsversion darstellt. Der Roman lässt sich damit eher als Schwanengesang der Idee einer umfassenden (englischen) Nationalidentität als solches lesen. Die jahrelange und schmerzvolle Realität des Brexit in der englischen Gegenwartspolitik und -kultur ist in vielerlei Hinsicht als Realisierung dieses Abgesangs zu sehen. Denn was heute, nur knapp 20 Jahre später, bei der Lektüre von England, England besonders erstaunt, ist, wie die geopolitische Wirklichkeit Barnes satirische und dystopische Version eingeholt und in mancher Hinsicht weit hinter sich gelassen hat. Dazu nur ein kurzes und besonders aktuelles Beispiel aus dem Roman: Nachdem Anglia zum Austritt aus der EU gezwungen wurde, verfällt dort der Lebensstandard drastisch. Es kommt zu Auswanderungswellen; die Bewohner mit Wurzeln in anderen Teilen des ehemaligen Commonwealth zum Beispiel kehren in die Karibik oder auf den indischen Subkontinent zurück. Da aber das alte England zunehmend ökonomisch als failed state betrachtet wird, und dessen Einwohner damit als unerwünschte Wirtschaftsflüchtlinge gelten, patrouillieren bald Kriegsschiffe der EU im Ärmelkanal (der offiziell auch nicht mehr English Channel sondern French Sleeve heißen darf), um die Armutsmigration in Richtung ‚continent‘ (wie das restliche Europa in England immer schon und immer noch heißt) zu unterbinden.

Bevor ich im Folgenden einen kurzen Überblick darüber geben möchte, wie sich die Realität des Brexit, also die Entkopplung und Isolierung Großbritanniens von diesem Kontinent in der zeitgenössischen Literatur niederschlägt, soll noch ein weiterer, satirischer, aber unfreiwillig prophetischer, Roman erwähnt werden, in dem die geopolitische Neuorientierung Englands als Gradmesser für den Niedergang eines traditionellen Nationalbewusstseins fungiert: Speak for England (2005; bisher nicht in deutscher Übersetzung vorliegend) von James Hawes stellt eine satirische Behandlung der nostalgischen Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit‘ dar, einer Zeit, die sich im englischen Kontext oft mit Vorstellungen imperialer Großmacht und militärischer Vorrangstellung verbindet. Im Roman wird diese Nostalgie nach vergangener Größe und Bedeutung verkörpert durch eine Gruppe Eliteschüler, die 1958 mit dem Flugzeug abstürzten und seitdem, unberührt von jedem Einfluss von außen und unter der Führung ihres resoluten und patriarchalischen headmasters, mitten im indonesischen Regenwald eine englische Utopia mit striktem Regiment und den Wertvorstellungen der Nachkriegszeit leben.

Nachdem die Existenz dieser Kolonie durch eine Serie von, zum Teil höchst komischen, Zufällen ans Licht der postmodernen Öffentlichkeit kommt, kanalisiert sich in der Person des headmasters eine allgemeine Sehnsucht nach dieser ‚heilen‘ Welt. Er steigt in kürzester Zeit zum Premierminister auf und transferiert sein (sitten-)strenges Regiment ohne größeren Widerstand auf das gesamte Land. Da das neue Regime sich von der EU politisch und kulturell bevormundet sieht, kündigt es die Mitgliedschaft Englands auf (die übrigen Teile Großbritannien werden in die nationale Unabhängigkeit entlassen und bleiben in der EU) und tritt als Old England den Vereinigten Staaten von Amerika bei, die die alten Kolonialherren, angesichts des drohenden Niedergangs der anglo-sächsischen Hegemonialstellung dort, mit Kusshand empfangen.

States of the Nation: Post-Brexit in der Literatur

Während Barnes und Hawes ihre satirischen Visionen vom Austritt Englands aus der EU noch einigermaßen bedenkenlos in der Sphäre des Fiktionalen ansiedeln konnten, stellt der Brexit seit dem Schicksalssommer 2016 eine reale Gegebenheit dar, eine Gegebenheit, auf die die englische Gegenwartsliteratur bisher auf durchaus unterschiedliche Weise reagiert hat. Es scheint heute angesichts der fortdauernden Ungewissheit über Zeitpunkt, Form und Konsequenzen des Brexit arg verfrüht, diese unter dem Namen ‚BrexLit‘ firmierenden Aufarbeitungen systematisieren zu wollen (der Begriff wird unabhängig voneinander in der Zeitung Financial Time im Juli 2017 und von Kristian Shaw in der von Robert Eaglestone herausgegebenen Textsammlung Brexit and Literature (2018) verwendet). Trotzdem möchte ich im Folgenden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und kategorische Überlappungen anheimgestellt, versuchen, zuerst anhand ausgewählter Prosawerke drei Haupttendenzen der Post-Brexit-Literatur aufzeigen, bevor abschließend kurz auf lyrische und dramatische Reaktionen eingegangen werden soll. Vorab möchte ich noch kurz erwähnen, dass sich insbesondere im Medium des Films und des Fernsehens zusätzlich zu den unten aufgezeigten Entwicklungen eine glorifizierende Darstellung der englischen Vergangenheit beobachten lässt (Churchill, Dunkirk, The Darkest Hour, Downton Abbey…), die zwar nicht explizit mit dem Brexit in Verbindung steht, die aber dennoch symptomatisch ist für eine nostalgische und patriotische Neuorientierung, die für die Debatte um und nach dem Brexit von entscheidender Bedeutung ist und die gerade momentan oft als ‚Dunkirk spirit‘ beschworen wird.

a) Europa-Nostalgie: Ali Smiths Autumn

Der Roman Autumn der schottischen Autorin Ali Smith erschien im Oktober 2016, also nur vier Monate nach dem Brexit-Referendum, und gilt allgemein als ‚erster Brexit-Roman‘. Smith stellt der insgesamt auf nationaler Mythologisierung, splendid isolation und Xenophobie basierenden realen Leave-Kampagne ihre eigene, fiktionale Trauerrede auf die Werte und Schönheiten von (europäischer) Integration entgegen. Diese britisch-europäische Vertrautheit manifestiert sich im Roman vor dem Hintergrund des gerade über die Bühne gegangenen Referendums in der Freundschaft von Elizabeth Demand (de monde), einer jungen Dozentin für Kunstgeschichte, zu ihrem alten Nachbarn Daniel Gluck, der über-hundertjährig träumend seinem Ende entgegensiecht. Smith kontrastiert kunstvoll die freudlose und von wechselseitiger Feindseligkeit geprägte englische Gegenwart nach dem Referendum mit der gemeinsamen (platonischen) Vergangenheit der beiden Protagonisten, die auf der beiderseitigen Wertschätzung pan-europäischer Kultur und Politik basiert. Mit Daniel, so ist zu implizieren, liegt auch ein auf Bilateralität und Offenheit fundiertes Selbstverständnis Englands in seinen letzten Zügen, dem Smith nur in offenkundig schockierter Verzweiflung ein Faust’sches „Verweile doch, Du bist so schön“ ins schon offene Grab hinterherrufen kann.

Autumn stellt den Auftakt einer geplanten Tetralogie dar. Deren zweiter Teil, Winter (2017), transponiert die Themen Entfremdung und (etwaige) Wiederannäherung auf die Ebene der dysfunktionalen Familie Cleves (die Schwestern Iris und Sophia, und Arthur, der Sohn der letzteren), in deren wechselseitigen Anfeindungen und Verständnislosigkeiten sich unschwer die aufgestauten nationalen Ressentiments der Brexit-Debatte erkennen lassen. Dass sich ein Zusammenleben der drei, unter dem katalytischen Einfluss der enigmatischen kroatischen Studentin Lux, immerhin wieder vorstellen lässt, ist als möglicher Hoffnungsschimmer zu werten, dass – entgegen aller momentanen Anzeichen – die Entzweiung zwischen England und Europa doch noch nicht endgültig sein könnte. Dementsprechend sind die beiden restlichen Bände von Smiths Jahreszeiten-Tetralogie mit Spannung zu erwarten.

b) Brexit-Allegorien: Jonathan Coes Middle England

Smith betrübt-verklärender Blick zurück auf ein scheinbar, und in der politischen und kulturellen Realität niemals tatsächlich so ungetrübt, freundschaftliches Verhältnis zwischen England und Europa stellt in der Zusammenschau der BrexLit einen Sonderfall dar. Die überwiegende Zahl der Romane, die sich literarisch mit dem Thema Brexit auseinandersetzen, betreiben entweder allegorische Ursachenforschung oder entwerfen dystopische Zukunftsszenarien. Erstere Variante versucht, den Riss in der englischen Gesellschaft symbolisch zu erfassen, der sich in der Brexit-Entscheidung und Debatte offenbart: Der Brexit ist, in dieser Lesart, nicht Ursache sondern primär Symptom einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, deren Gräben entlang diverser Gefechtslinien von Alter, Einkommen, Status, Bildung, Wohnort etc. verlaufen. Zu dieser Unterart der BrexLit zählen Amanda Craigs The Lie of the Land (2017), das den Versuch eines hippen Londoner Pärchens nachzeichnet, in der Provinz sesshaft, heimisch und glücklich zu werden; Anthony Cartwrights The Cut (2017), in dem die beiden Seiten der Brexit-Trennlinie auf die Figuren des ehemaligen Boxers Cairo Jukes aus den Midlands und der Londoner Dokumentarfilmerin Grace Trevithick heruntergebrochen werden; und Jon McGregors Reservoir 13, in dem das unaufgeklärte Verschwinden eines jungen Mädchens die Verwerfungen innerhalb einer Dorfgemeinschaft offenkundig werden lässt.

Als hervorragendes Beispiel für die allegorisierende Bearbeitung des Brexit-Themas und, nach der Meinung dieses Autors, bislang gelungenstes Werk der BrexLit ist Jonathan Coes Roman Middle England (2018) zu bewerten. In diesem breit angelegten Gesellschaftspanorama verwebt Coe die politischen Entwicklungen der Zeit zwischen April 2010, als David Cameron das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU als Wahlkampfversprechen ins Feld führt, bis März 2019, dem zunächst anvisierten Datum des Brexit, mit den familiären, beruflichen und emotionalen Verstrickungen der Familie rund um den Protagonisten Benjamin Trotter. Wie bei Cartwright steht auch bei Coe im Auge des Brexit-Sturms ein junges Paar: die Kunstgeschichtsdozentin Sophie und ihr Ehemann Ian. Trotz der zweifellosen emotionalen Anziehung und Kompatibilität der beiden, führen ihre gegensätzlichen Meinungen zum Thema Brexit (Sophie ist vehement dagegen; Ian dafür), die auch hier als Folge der unterschiedlichen Herkunft (geographisch wie sozial) gezeichnet sind, zum Zerwürfnis. Was Coes Roman auszeichnet, ist, neben der eleganten zeitlichen Konstruktion des Romans, die ausgewogene Figurenzeichnung (außer Ians offen rassistischer Mutter Helena schafft es der Autor trotz seiner offenkundigen Europhilie, jeder seiner Figuren ein Maß an Sympathie und Verständnis entgegenzubringen) und der breite gesellschaftliche Entwurf, der Vertreter vieler Generationen, Hintergründe, Lebensentwürfe und Weltanschauungen miteinander in, nicht immer reibungsfreien aber immerhin stattfindenden, Dialog bringt. Dementsprechend stimmt es leidlich zuversichtlich, dass der Roman mit der guten Hoffnung auf ein „beautiful Brexit baby“ der wieder versöhnten Eheleute Sophie und Ian endet, als dessen Geburtstermin, wie könnte es anders sein, der 29. März 2019 errechnet ist.

c) Post-Brexit Dystopien: Sam Byers‘ Perfidious Albion

Während sich in den Romanen von Smith und Coe immerhin Ansätze einer möglichen Überwindung der momentanen Spannungen erkennen lassen, gilt dies für die dritte Unterform der BrexLit-Romane in keinster Weise. Diese entwirft als Reaktion auf den Brexit dystopische Szenarien, die die gespaltene Gesellschaftsstruktur des zeitgenössischen Englands quasi konsequent zu Ende denken. Das in dieser Hinsicht am intensivsten diskutierte Buch ist John Lanchesters The Wall (2019), das die geschichtsträchtige Floskel von der splendid isolation in Form einer Mauer Wirklichkeit werden lässt, die, in Folge einer nicht näher beschriebenen sozialen Umwälzung (the change), die gesamte Küste der britischen Insel ‚umfriedet‘ und Schutz bieten soll gegen einen gesichtslosen, aber scheinbar bedrohlichen Feind, der nur als ‚die Anderen‘ (the Others) in Erscheinung tritt. Wenn in diesem fiktionalen Projekt unweigerlich Donald Trumps wesentlich konkretere Version eines Grenzwalls zu Mexiko mitschwingt, ist dies sicher kein Zufall; Trumps Wahl zum Präsidenten im November 2016 wird standardmäßig in einem Atemzug mit dem Brexit-Referendum als Todesstunde der Hegemonie eines modernen demokratischen, aufgeklärten und aufgeschlossenen Weltbilds genannt.

So begegnet uns Trump dann auch nur bedürftig verhüllt in der Figur des Bob Grant in Douglas Boards Roman Time of Lies (2017). Nicht unähnlich wie der headmaster in Speak for England schafft es der ehemalige Hooligan Grant als Anführer der Partei Britain’s Great in kürzester Zeit zum Premierminister und verwandelt sein Land ohne allzu großen öffentlichen Aufschrei in eine faschistische und hurrapatriotische Ödnis des Geistes.

Wie The Wall und Time of Lies entwirft auch Sam Byers Roman Perfidious Albion (2018), wie der Name schon vermuten lässt, eine Zukunftsversion von England, die von Misstrauen und Gehässigkeit geprägt ist. Auch hier schließt die dystopische Vision beängstigend nahtlos an die gegenwärtige politische Lage an: Eine aus den Diskussionen um den Brexit hervorgegangen Partei namens England Always, deren Aushängeschild der scheinbar joviale Populist Hugo Bennington ist, der deutlich auf Nigel Farage basiert, macht gemeinsame Sache mit dem Medienunternehmen Green. Zusammen verwandeln sie das Städtchen Edmundsbury, das in seiner für England als typisch angesehenen Austauschbarkeit als ideales Testobjekt dient, in einen postdemokratischen Überwachungsstaat, in dem sich, aufgehetzt durch die manipulative Macht von Bildern, Shitstorms und Fake News, jede Form von Gemeinsinn problemlos für die Interessen von Kapitalismus und Patriotismus instrumentalisieren lässt.

Wie diese kurze Zusammenschau wichtiger BrexLit Romane zeigt, lässt sich (noch) kein klarer Trend konstatieren, wie das Thema literarisch verhandelt wird. Zu groß ist wohl noch der Brexit-Schock im intellektuellen Milieu (dem die Autor*innen insgesamt ausnahmslos zuzuordnen sind). Dennoch lassen sich ein paar bemerkenswerte Parallelen zwischen den einzelnen Werken beobachten, die hier wenigstens kurz genannt werden sollen. Alle Romane siedeln das Geschehen in fiktiven oder realen Gegenden an, die mit Coe paradigmatisch als ‚middle England‘ bezeichnet werden können, soll heißen, Orte (wie die Midlands oder Greater Manchester), die eigentlich aufgrund ihrer Geographie und/oder Geschichte im Herzen des Landes und dem Land am Herzen liegen sollten, die aber demographisch und in Sachen gesellschaftlicher Repräsentation unter dem Radar der öffentlich proklamierten und dargestellten Leitkultur laufen. Durch diesen Zwiespalt verläuft in allen Büchern der gesellschaftliche Riss zwischen Leavern und Remainern. Die anderen beiden Befunde sind weniger allgemein, aber möglicherweise dennoch nicht bedeutungslos: In zwei Romanen (Winter und Middle England) sind es Mutterfiguren, in denen sich die kompromissloseste Form von Fremdenhass und Patriotismus verkörpert. Sowohl Sophia Cleves wie Helena Coleman lassen sich als bizarres Zerrbild der ehemals mächtigen Britannia (ruled the waves) lesen, die in Verkennung der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeiten einer untergegangen Zeit das, oft politisch inkorrekte, Wort redet und dadurch das private, aber wohl auch weltgeschichtliche Glück der nachkommenden Generationen ernsthaft gefährdet. Als Gegenentwurf darf in beiden Fällen die Kunst und das Interesse an ihr gelten. Sowohl Elizabeth Demand in Autumn wie auch Sophie Potter in Middle England unterrichten – idealistisch und unterbezahlt – Kunstgeschichte und repräsentieren damit im doppelten Wortsinn eine Form von Vergangenheitsbewusstsein, die auf verbindende Zusammenhänge, wechselseitige Einflussnahmen und Übersetzungen statt auf Misstrauen, Isolierung und Patriotismus setzt.

Brexit in Dichtung und Drama

Obwohl mittlerweile Prosaerzählungen als Leitgattung in der literarischen Behandlung des Brexit anzusehen sind, bedurften diese einer gewissen gattungsspezifischen Vorlaufzeit. Folglich standen unmittelbar nach dem Brexit-Referendum lyrische und dramatische Reaktionen im Vordergrund, von denen einige wenige hier noch exemplarisch benannt werden sollen. In Sachen Lyrik waren es dabei keine genuinen Werke, die in den öffentlichen Diskurs Eingang gefunden haben, sondern eher etwas, was man als lyrisches Event bezeichnen könnte: Am Abend nach dem Brexit-Referendum unterbrach PJ Harvey ihre Performance während des Glastonbury Festivals, um ein Gedicht von John Donne aus dem Jahr 1624 vorzutragen, das mit der berühmten Zeile „No man is an island“ beginnt und im weiteren Verlauf die Behauptung aufstellt, „every man is a piece of the continent“. Harvey, die schon mit ihren beiden letzten Alben Let England Shake (2011) und The Hope Six Demolition Project (2016) als kritische Analystin und Kommentatorin der zeitgenössischen sozialen und politischen Verwerfungen in England in Erscheinung getreten war, stellt sich mit ihrem umjubelten Vortrag klar auf die Seite eines zwar traditionsbewussten, aber offenen und aufgeschlossenen Umgangs mit nationaler Identität, wie ihn in der Folge literarische Figuren wie Sophie Potter und Elizabeth Demand verkörpern sollten.

Nicht ganz so direkt wie PJ Harvey, aber immer noch erstaunlich zeitnah reagierte das National Theatre auf das Brexit-Referendum. In den Tagen nach der Abstimmung schwirrten Abgesandte des Theaters in alle Landesteile Großbritanniens aus, um ein möglichst umfassendes Meinungsbild zur Lage der Nation einzuholen. Die Ergebnisse dieser Befragungen wurden schließlich, in der Tradition des sogenannten verbatim theatres, bei dem reale Dialoge von Schauspielenden nachgesprochen werden, von der Dichterin Carol Ann Duffy und dem Regisseur Rufus Norris unter dem Titel My Country: A Work in Progress im Februar 2017 auf die Bühne gebracht. Obwohl die Form der Darbietung – Botschafter der einzelnen Landesteile bringen ihre jeweiligen Anliegen einer stilisierten Britannia mit Dreizack und Union Jack dar – sich keiner ungeteilten Wertschätzung erfreute, kann das Stück doch als sehr authentische, umfassende und ausgewogene Reaktion auf ein politisches Ereignis gelten, das – so lässt der momentane Stand der BrexLit schon erahnen – auch die kommenden Jahre und Jahrzehnte des literarischen Diskurses in Großbritannien beherrschen dürfte.

Weitere Literatur:

Julian Barnes: England, England. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999.

Douglas Board: Time of Lies. Lightning Books, Rickmansworth 2017.

Anthony Cartwright: The Cut. Peirene, London 2017.

Amanda Craig: The Lie of the Land. Little, Brown, London 2017.

Carol Ann Duffy; Rufus Norris: My Country: A Work in Progress. In the Words of People across the UK. Faber & Faber, London 2017.

Robert Eaglestone (Hg.): Brexit and Literature. Critical and Cultural Responses. Routledge, London 2018.

James Hawes: Speak for England. Vintage, London 2006.

John Lanchester: The Wall. Faber & Faber, London 2019.

Jon McGregor: Reservoir 13. Harper Collins, London 2017.

Ali Smith: Winter. Hamish Hamilton, London 2017.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Ali Smith: Autumn.
Penguin, London 2017.
272 Seiten, 9,05 EUR.
ISBN-13: 9780241973318

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Titelbild

Jonathan Coe: Middle England.
Englisch.
Penguin, London 2018.
432 Seiten, 18,38 EUR.
ISBN-13: 9780241309469

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Titelbild

Sam Byers: Perfidious Albion.
Englisch.
Faber and Faber, London 2018.
400 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9780571336296

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