Don’t mention Brexit

Wie wir jetzt nicht mehr miteinander reden

Von Petra RauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Rau

Petra Rau (geb. 1969 im damals grenznahen oberfränkischen Naila) studierte Anglistik und Germanistik in München. 1997 ging sie auf die Insel, um über Schriftstellerinnen der Moderne an der University of East Anglia zu promovieren, lehrte dann an der Open University, in Portsmouth und wieder an der UEA. Immer noch anglophil, ist sie trotz Ansiedlungsstatus inzwischen abreisefreudig.

In den Wochen und Monaten nach dem Volksentscheid haben wir alle noch energisch diskutiert, debattiert und analysiert, so als könnten komplexe Sätze den Schock mindern, der uns Kontinentaleuropäer bald in Kontinentalgastarbeiter verwandeln würde. Mit Freunden, Nachbarn und Kolleginnen forschten wir dem von uns bislang unbeachteten Missmut nach, den uns die 51,9% auf das Frühstücksbrötchen geschmiert hatten. Da war die Weltreichs-Nostalgie der älteren und ältesten Generation, die (wie einst im Zweiten Weltkrieg) mutig ganz allein gegen die EU-Nazis kämpfen wollte: Damals ging das ja auch gut. Da waren das seit Jahrzehnten unterfinanzierte öffentliche Verkehrs- sowie die Bildungs- und Gesundheitswesen, die bei steigender EU-Einwanderung vor Überlastung in manchen Landstrichen kaum noch funktionierten. Da waren der postindustrielle Norden Englands und Südwales, die sich noch nicht einmal von den strukturellen Umbrüchen der achtziger Jahre erholt hatten. Da waren die hartnäckigen Sparmaßnahmen im Sozialbereich und die nicht funktionierende neuzentralisierte Sozialhilfe, die immer mehr Bedürftige zu den karitativen Suppenküchen und in die Obdachlosigkeit abdrängte. Diese neue Armut fiel jedem auf, genauso wie die unübersehbare Abhängigkeit der Hotels und Gastwirtschaften, der Krankenhäuser, des Bauwesens und der Landwirtschaft von qualifizierten und willigen EU-Arbeitnehmern. Und natürlich waren da auch die sonst politisch Desinteressierten der untersten Bildungsschichten, lang ignoriert und nun besonders heiß umworben, die endlich Gelegenheit hatten, konsequent nein zu sagen: zur abgehobenen politischen Elite, zu Einwanderung, zu ihrer eigenen Unsichtbarkeit. Ein plakatives Nein zum Status Quo, ein lautes Ja zu Veränderung um jeden Preis. Wer so wütend und blind abstimmt, hat nichts zu verlieren.

Britischen KollegInnen war die ganze Angelegenheit peinlich, ein ungelenker Ausrutscher, wie ein besoffener Onkel zu Weihnachten. Einige fragten besorgt, ob ich die britische Staatsbürgerschaft hätte oder sie annehmen wollte. Jetzt erst recht nicht, habe ich knapp geantwortet (und daran hat sich nichts geändert). Ein bekannter Kollege und Schriftsteller hat mir auch gleich nach dem Volksentscheid zwinkernd die Hand auf die Schulter gelegt: „People like you will be alright. You’re one of us.“ Das war zweifelsohne gut gemeint: Bitte jetzt nicht überstürzt die Koffer packen. Aber was sollte das eigentlich heißen: Leute wie ich, einer von uns? Ich dachte an das Leitmotiv in Joseph Conrads Lord Jim, in dem die versagende Titelfigur genau mit diesem kolonialen Zunftgedanken Schwierigkeiten hat und sich deshalb der ganze Handlungsbogen des Romans zurückentwickelt, von der komplexen, verantwortungsgeladenen globalisierten Moderne in ein einfach gestricktes, romantisches Dschungelabenteuer. People like you, one of us: Das klappt ja noch nicht mal für die Inselbewohner. Die langwährende postkoloniale Identitätskrise besonders der Engländer warf auch für EU-BürgerInnen hierzulande die Frage auf, wer wir hier sein konnten und ob wir bleiben wollten, im baldigen EU-Ausland. Manche britischen Freunde waren so empört, dass sie sich selbst mit Auswanderungsgedanken trugen. Wahrgemacht hat sie bisher keiner.

Unter Kontinentaleuropäern war der Brexit zunächst das unvermeidliche und fast im Flüsterton angesprochene Thema in den abendlichen Kneipengesprächen bei Tagungen, Symposia und nach Prüfungssitzungen: Welche Pläne hast du? Willst du bleiben oder gehen? Kinder? Partner? Was sagt dein Kanzler, deine Dekanin? Und die Antworten waren immer die gleichen: Erst mal warten, keiner weiß was, keiner sagt was außer Plattitüden. Dabei müssen wir an den Hochschulen ja stets vorausplanen: Wir sollten EU-Fördermittel beantragen für Großprojekte mit KollegInnen auf dem Kontinent; wir sollten unsere DoktorandInnen in europäische Archive schicken; wir müssten Erasmusstudierende betreuen; wir werden auf Konferenzen und zu Vorträgen eingeladen und müssten Auslandsaufenthalte buchen. Entscheidungen täten not. An den Unklarheiten und dem Entscheidungsnotstand hat sich bis heute, fast drei Jahre später, nichts geändert. Das Kabinett tanzt, ab und an mit neuer Truppe; das Parlament stimmt ab, in inzwischen wöchentlichem Takt, aber es bewegt sich nichts.

Und die Studierenden? Wie immer war ihre Wahlbeteiligung gering gewesen. Was auf dem Spiel stand, schien so selbstverständlich, dass man es gar nicht mit EU-Freizügigkeit verbunden hatte: der schnelle Billigurlaub in Spanien, im Sommer drei Monate Englisch lehren in Mailand, ein Auslandssemester in Amsterdam oder Sofia, ein Praktikum in Paris – wird das jetzt anders? Geht das noch? Sie fühlten sich im Stich gelassen von einer vertrauensunwürdigen Politiker-Generation, die ihnen enorme Studiengebühren aufgebürdet hatte und ihnen nun auch noch den Kontinent als selbstverständlichen Arbeitsmarkt und Tummelplatz entzog. Aber Jahr um Jahr wurden auch sie stiller und wenn ich nachfragte, was sie zum Brexit dachten oder planten, kam immer häufiger eine Antwort wie: „I feel I should pay attention because this is the most important political event of our lifetime but whenever I engage with it, I am almost immediately overwhelmed and anxious. And then I feel so powerless I just switch off.”

Inzwischen frage ich nicht mehr und niemand fragt mich mehr. Vielleicht sind die Antworten zu vorhersehbar oder vielleicht sind sie allen zu peinlich. Das mag auch mit dem rhetorischen Verhalten der britischen Regierung zusammenhängen. David Cameron sitzt nach wie vor in seinem Schreibschuppen im Garten, fühlt sich angeblich schuldlos an der Misere und schweigt. Wie im nachhinein klar wird, hat sich seine Nachfolgerin Theresa May seit dem Volksentscheid meist an die EU-feindliche, und immer extremere Fraktion ihrer Partei gewendet. Anders kann man ihre dauernden Fehlleistungen gar nicht interpretieren. Ganze drei Wochen nach dem Volksentscheid verkündete sie, damals noch Innenministerin: „Brexit means Brexit.“ Die Tautologie zur Beschwichtigung der Hardliner wurde sofort ein satirisches Meme, in dem man bereits die anhaltende Planlosigkeit und Inkompetenz in den Verhandlungen innerhalb der eigenen Partei und mit der EU erahnen konnte. Aber die anderen Kandidaten um das Amt waren so haarsträubend, dass man sich stilistische Dünkel gar nicht leisten konnte. Und so ging es denn verlässlich weiter in den Nachrichtensendungen und -postings – eine Möbiusschleife der Inhaltslosigkeit, meistens eingeleitet mit einer leeren Phrase („Let me be clear“; „What I’m going to do“). Jedes Mal wenn die Premierministerin ans Podium rückte, konnte man ob der roboterhaft wiederholten Plattitüden getrost abschalten: The Maybot is at it again.

Im Oktober 2016 kam der nächste Patzer, als die frischgebackene Premierministerin bei der jährlichen Tagung der Konservativen verlauten ließ: „If you believe you are a citizen of the world, you are a citizen of nowhere.“ Das Vereinigte Königreich, erinnerte sie uns, bestand ja nun nicht aus atypischen Metropolen sondern aus Kleinstädten und Gemeinden, in denen sich die Einwohner britisch fühlen wollten, oder vielleicht sogar einfach nur englisch. Und das hieß eben nicht: kosmopolitisch, globalisiert, multikulturell. Jedenfalls nicht für die Pastorentochter wohnhaft in Maidenhead an der Themse, für die Freizügigkeit offenbar das gleiche war wie Heimatlosigkeit. Weltoffen wollten die Briten bleiben und handeln mit der ganzen Welt so wie ehedem im Kolonialzeitalter, nicht beengt von den pedantischen Regeln der EU, aber dies sollte doch die nationale Essenz nicht verwässern.

Dies aus dem Mund der ehemaligen Innenministerin, in deren Amtszeit die berüchtigten ‚Go home‘ Busse auf den Straßen Londons gesichtet wurden, die illegale Einwanderer dazu bewegen sollten, ebendies zu tun; die den Beamten Ziele setzte für Zwangsausweisungen; die darauf bestand, die internationalen Studierenden in die Einwanderungsstatistik einzubeziehen und sie strikten Anwesenheitskontrollen zu unterziehen; die sich gegen die europaweite Erklärung der Menschenrechte aussprach; die hohe Einkommensschwellen gegen Familienzusammenführung einrichtete; die verbissen die Politik des „hostile environment“ verfolgte, das den Aufenthalt so unbequem wie möglich machen sollte. Versucht man, „hostile environment“ ins Deutsche zu übersetzen, fallen einem ähnliche Begriffe aus einer ganz anderen Zeit ein, wohlanalysiert von dem Romanisten Viktor Klemperer: „Schutzhaft“ etwa, oder „Rassenhygiene“.

Auch in der englischen Boulevardpresse griff man schon mal auf Stalinismen zurück, zum Beispiel beschimpfte die Daily Mail drei Richter als „saboteurs“ und „enemies of the people“, als sie zugunsten Gina Millers Zivilklage entschieden, dem britischen Unterhaus Abstimmungsrecht über den Austrittsvertrag zu geben. Der Demokratiebegriff wurde nicht nur enger, er wurde auch zunehmend engstirniger. Neulich wurde die Parlamentsangehörige Anna Soubry, eine stete Kritikerin Mays und des Brexits, vor dem Palast von Westminster von Radikalen belästigt und vor laufender Fernsehkamera als „Nazi“ und „Verräterin“ beschimpft. Wenn die Argumente gegen die oft beklagte Verhandlungshärte der EU ein bisschen dünn werden, greifen die Hardliner auch gerne nach Vergleichen mit dem Zweiten Weltkrieg. („Haben wir ja schließlich auch gewonnen, gell.“)

Für die ganz Naiven unter uns machte eine weitere Fehlleistung der so plattitüdenreichen Premierministerin im November letzten Jahres glasklar, dass Brexit-Hardliner in ihrer Partei ihr eigentliches Publikum waren: In einer Rede vor der Föderation der britischen Industrie (CBI) bemerkte sie, dass nach dem Brexit EU-Bürger nicht mehr an der Einwanderungsschlange vorbeischlüpfen könnten, sondern dass ihre Regierung plane, ein Qualifikationspunktesystem mit Einkommensschranke von £30,000 zu implementieren:

„It will no longer be the case that EU nationals, regardless of the skills or experience they have to offer, can jump the queue ahead of engineers from Sydney or software developers from Delhi. Instead of a system based on where a person is from, we will have one that is built around the talents and skills a person has to offer.”  

Prompt meldete sich hierauf Miriam Gonzáles Durántez zu Wort, die spanische Gattin Nick Cleggs, des früheren stellvertretenden Premierministers und liberalem Koalitionspartner Camerons: Sie verbitte sich diese Respektlosigkeit. Auch im Unterhaus traf dieser Ausspruch auf Fassungslosigkeit, denn einige Parlamentsmitglieder sind ja nun mit steuerzahlenden EU-Bürgern liiert, verwandt, verheiratet. Frau May musste die Bemerkung als unklug zurücknehmen, aber sie zeigte uns doch wieder, wie sie wirklich dachte (provinziell und ohne wirtschaftliches Kalkül), wer ihr am wichtigsten war (die Partei) und in welch rosarot-optimistischen spätkolonialen Sphären die post-Brexit Fantasien abdriften (Hope and Glory, Hope and Glory). Die als zweitklassig eingestuften Talente und Fähigkeiten vieler EU-Einwanderer liegen weit unter der Einkommensschwelle von £30,000: Als Altenpfleger und Krankenschwestern, Kellner und Zimmerpersonal, als Bauarbeiter, Busfahrer, Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft oder Veterinärassistent im Schlachthof verdient man weniger – wird aber dringend gebraucht. In diesen Branchen klaffen seit dem Volksentscheid immer größere Lücken: Seit Jahren hat man keine Schlangen gesehen. Und falls Sie sich wundern: Das akademische Anfangsgehalt erreicht £30,000 nur für die Protegiertesten, der Rest krebst mit befristeten Teilzeitverträgen herum.

Ich könnte die Liste der May‘schen Fehlleistungen ruhig weiterführen, sie hat unseren Erwartungshorizont so weit gesenkt, dass sich selbst die glänzenden Satiriker des Guardian, John Crace und Marina Hyde, nicht mehr anstrengen müssen und mittlerweile zu wahren Journalisten geworden sind, denn die Satire ist inzwischen Realpolitik. Und letzthin legte auch Frau May ihre Karten auf den Tisch. Als im März klar wurde, dass es im britischen Unterhaus keine Mehrheit für Mays Austrittsvertrag geben würde, wie oft sie ihn den Abgeordneten auch vorsetzte – lau aufgewärmt und immer pampiger – und sie Donald Tusk um eine Verlängerung bitten musste, wandte sich die Premierministerin an ihr Volk mit einer Rede, die an populistischer Arroganz kaum zu überbieten war. Sie sprach von den Abgeordneten und damit von der britischen Demokratie wie von einem renitenten, verzogenen Primanerhaufen, der das Klassenziel verfehlt hatte. Sie hingegen sei ganz auf der Seite des ungeduldigen Volkes und würde weiterhin ungetrübt ihr Ziel verfolgen und den Brexit-um-jeden-Preis anstreben. Zielsicher erreichte diese Rede ihr angestrebtes Gegenteil. Jenseits der banalen Rhetorik fällt auch dem Begriffsstutzigsten der krasse Mangel an Führungsqualitäten auf: geistige Unbeweglichkeit, Kompromisslosigkeit, ohne jedes Ohr für Nuancen und Stimmungen. Sturheit überzeugt selten; noch nicht einmal Frau Mays Rücktrittsangebot hat ihrem Vertrag Gewicht verliehen. Hätte sie von Anfang an überparteilich am Brexit gearbeitet, hätte sich das Unterhaus vielleicht nicht in dieser endzeitlichen, frenetischen Abstimmungswut festgefahren: Es gibt keine Mehrheit für irgendetwas. Das Alarmierendste an diesem Prozess ist die zunehmende Demokratieverdrossenheit.

Nun ist Anfang April und die Uhr tickt immer lauter. (Erinnern wir uns: Dies ist ja erst der Anfang der Verhandlungen. Das Schwierigste – die zukünftigen Handelsabkommen – liegen noch vor uns.) Seit Februar kommt jeden Tag eine neue Schauermeldung: Die japanische Autoindustrie zieht ab, Dyson geht nach Singapur; die Medikamentenversorgung nach dem Brexit ist ungewiss; man befürchtet leere Regale in den Supermärkten; kleinere Fluggesellschaften gehen pleite; für Nordirland gibt es keine Lösung; Kabinettsmitglieder treten zurück; Fraktionsvorsitzende geben auf; Parlamentsmitglieder verlassen ihre Parteien. Ganz am Rande geht den Schulen und den Gemeinden das Geld aus und die Immobilienbranche kriegt die Panik. Das sickert alles so durch, ohne großen Effekt: Wir sind es leid. Zum Brexit gibt es inzwischen Romane, Fernsehspiele, Dokumentationen. Ich wünsche mir ein Brettspiel für die ganze Familie: Monopoly wurde ja auch während der Weltwirtschaftskrise erfunden.

Es ist schwer zu sagen, wann genau wir damit begonnen haben, den Kopf wegzudrehen und wegzuhören; wann genau dieses Brexitgetrommel unerträglich geworden ist. Wir, das sind inzwischen schon fast alle, ob Leavers oder Remainers, ob EU-Bürger oder Einheimische. Wir sind Brexit-müde und Brexit-taub. Das Schweigen und Weghören macht so einiges leichter, man muss um dieses Thema nicht mehr herumtanzen, denn das war monatelang ein umständliches Menuett in Familien, Freundeskreisen, Arbeitsstätten oder Sportvereinen. Sobald jemand das Thema Brexit ansprach, teilte sich die Gruppe wie die Wogen des Roten Meeres beim Auszug der Israeliten in der Bibel in Leavers und Remainers. Man war erleichtert, wenn man sich unter Gleichdenkenden befand und misstrauisch unter Andersgesinnten.

Obwohl nun die komplexen Gründe, die sich in der knappen Mehrheit für den EU-Ausritt manifestiert haben, längst klar sind; obwohl nun auch überdeutlich ist, dass der Austritt hochkomplizierte Folgen und nicht auszudenkende wirtschaftliche und zivilrechtliche Nachwirkungen haben wird, ist die allgemeine Brexit-Diskussion erschöpft. Da der ideologische Riss nach wie vor die Bevölkerung entzweit, will man erst recht nicht mehr reden oder zuhören. Die breite und inzwischen ungehaltene Öffentlichkeit ist mit den Details heillos überfordert. So notwendig ein längerer Verhandlungsaufschub und so rückversichernd ein zweiter Volksentscheid wären; der Schaden am Demokratieverständnis ist angerichtet. Daran ändern weder Petitionen noch Protestmärsche etwas, denn die Minderheitsregierung nimmt sie nicht zur Kenntnis.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz