Politik in Zeiten des Postfaktischen

In Douglas Boards Roman „Time of Lies” ist der Brexit nur der Auftakt zu viel größerem Unheil

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist das Jahr 2019. Großbritannien hat sich in einem Referendum vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren dazu entschlossen, die EU zum Stichtag, dem 29. März, zu verlassen und damit für beträchtliche Verwerfungen in den diplomatischen Beziehungen zum Kontinent gesorgt. Das Vorhaben aber, dieses Datum einzuhalten, scheitert, der Brexit wird vorerst verschoben.

Das sind nicht nur die europapolitischen Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, mit denen man sich beinahe täglich in sämtlichen Medien konfrontiert sieht, sondern auch der Beginn von Douglas Boards Time of Lies. Der bereits 2017 – und damit zwei Jahre vor den jüngsten Entwicklungen – in ebenjenem Brexit-benommenen Großbritannien erschienene Roman skizziert ein dystopisches Land, für das sich der Brexit lediglich als Ausgangspunkt für noch größeres Unheil entpuppt.

Nach dem Einstieg des Romans zu Beginn des Jahres 2019, spielt Time of Lies – unterbrochen von einigen Rückblenden – hauptsächlich im Jahr 2020. Die Hauptfiguren Zack Parris, ein zunehmend antriebs- und auftragsloser Schauspieler und Komiker (der eigentlich Jack Grant heißt), und seine Frau Kathy, die einen Offiziersposten in der Royal Navy innehat und an hoher Stelle im Verteidigungsministerium arbeitet, wohnen im Süden Londons und führen ein sozial recht vereinzeltes Leben, bis auf einige Treffen mit ihrem pensionierten Nachbarn Alan, mit dem sie besorgt über das seit dem Brexit zunehmend populistisch werdende politische Klima diskutieren.

Größte Sorge ist dabei der Aufstieg der Partei Britain’s Great (BG), die von dem Trump-ähnlichen Macho und Multimillionär Bob Grant angeführt wird, der mit markigen Sprüchen und prahlerischer Zurschaustellung nicht vorhandener Bildung und Haltung die ehemals großen Parteien Labour und Conservative, die mittlerweile beide in je zwei kleinere Splitterparteien zerfallen sind, vor sich hertreibt. Dieser aber, so erfahren wir bald, ist Zacks verhasster jüngerer Bruder. Zacks Abneigung ihm gegenüber wird zudem dadurch verstärkt, dass die beiden Geschwister sich äußerlich sehr ähneln, er also bei jedem Blick in den Spiegel mit dem Bruder konfrontiert ist (auch einer der Gründe für die Namensänderung).

Selbstredend gewinnt BG die Wahl und der aufbrausende Bob Grant wird zum Schrecken Vieler Premierminister und damit Oberbefehlshaber der Nuklearmacht Großbritannien. Dies gelingt ihm nicht zuletzt durch ein volkstümelnd nationales Programm: britische Immobilien nur für Briten (und nicht für ausländische Investoren); Beschränkung der Immigration auf ein Minimum (auch aus der EU); eine neue Klasse der Staatsbürgerschaft – in Großbritannien von britischen Eltern Geborene –, die Vorrang u.a. bei Bildungseinrichtungen und Versicherungen erhält und dafür ein besonderes Abzeichen tragen darf usw. Zusätzlich wird eine Jugendorganisation der Partei ins Leben gerufen, die zunehmend gewaltbereit Repressionen gegen Parteifeinde umsetzt und wie eine Mixtur aus HJ und SA erscheint. BG ist zudem Partei und Medienunternehmen in einem, selbstverständlich aber nur, um den Medienanstalten, die sämtlich ausschließlich „Fake News“ verbreiten, etwas entgegenzusetzen und mit „Shock News“ den Bürgern die „Wahrheit“ zu präsentieren.

Damit bewahrheiten sich die schlimmsten Befürchtungen der Protagonisten und Kathy sieht sich gemeinsam mit ihrem smarten Chef Patrick mehr und mehr der Aufgabe gegenüber, das Vaterland vor sich selbst und seinem aufbrausenden Staatschef zu schützen, der jeden Moment wegen einer Nichtigkeit einen Atomkrieg auslösen könnte. Hierzu wird eine riskante Intrige geschmiedet, in der auch Zack eine Rolle zu spielen haben soll.

Derweil stehen die Dinge auf dem Kontinent auch nicht viel besser. Marine Le Pen ist inzwischen Präsidentin Frankreichs und die EU-Kommission kämpft politisch mit ebenfalls populistischem Odeur gegen den drohenden Frexit. Board gelingt es, diese beiden Entwicklungen auf der Insel und auf dem europäischen Festland miteinander kurzzuschließen und die Lage auf diese Weise eskalieren zu lassen. Die Ereignisse überschlagen sich und der britische Machtkampf wird bis zum Äußersten getrieben. Lüge wird mit Lüge gekontert und bald kann sich niemand mehr sicher sein, was wahr ist, und mithin gar was überhaupt Wahrheit sein soll. Letzten Endes kollabiert der Begriff unter seinem eigenen Gewicht, das Post-Faktische obsiegt und alles ist – ja, was nun eigentlich? – ziemlich aussichtslos.

Es ist eine politische Gemengelage aus Nationalismus, Populismus, Provokation, Überdruss, Eigenbrötlerei und Unkenntnis, die Board hier gekonnt persiflierend aber dennoch alarmiert auf die Spitze treibt. Das alles hätte man in dieser Intensität vor vier oder fünf Jahren wohl noch als überzogen und realitätsfern bezeichnet, wohingegen man mittlerweile zahlreiche Wendungen und Idiotismen leider nur allzu gut aus der Realität kennt.

Diese immer düstere dystopische Handlung wird vom Erzähler immer wieder durch (nicht weniger düsteren) Humor aufgelockert, sodass die treffenden Beschreibungen gerade des größten Unfugs Bob Grants oder seiner Partei mitunter besonderes morbides Vergnügen bereiten. Die Entscheidung jedoch, die Geschichte sowohl aus personaler als auch aus der Ich-Perspektive zu erzählen und insbesondere letztere sowohl für Bobs als auch Zacks Passagen zu verwenden, kann man dem Autor ankreiden. Wenn auch aus ersichtlichen ästhetischen Gründen auf diese Weise konzipiert sorgt die Herangehensweise für unnötige Komplexität, die ihren stilistischen Mehrwert überragt. Zusätzlich verwirrend ist dies, da die Erzählstimme in Bobs wie auch in Zacks Ich-Passagen spürbar derselben Feder entspringt. Nichtsdestoweniger ist das aber nur ein kleines Manko.

Aus heutiger Perspektive ist Time of Lies insbesondere deswegen packend, weil sich bislang wöchentlich weitere Teile vom Beginn des Romans zu bewahrheiten scheinen und damit einen gleichsam unheilvollen Schatten werfen. Zum anderen aber ist Time of Lies gerade heute auf skurrile Weise tröstend, denn so furchtbar, wie das Großbritannien und Europa bei Douglas Board ist die Realität Gott sei Dank noch nicht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Douglas Board: Time of Lies. A Political Satire.
Englisch.
Lightning Books, Rickmansworth 2017.
304 Seiten, 10,79 EUR.
ISBN-13: 9781785630347

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch