Die infernale Kunst des Menschenbackens

Über Oskar Panizzas phantastische Kurzgeschichte „Die Menschenfabrik“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Reisende in der Fremde auf merkwürdige, ja unheimliche Orte stoßen, ist ein beliebter Stoff nicht nur von Horrorstories, sondern auch der literarischen Science Fiction, ja der phantastischen Literatur überhaupt. Und nicht nur dort, sondern selbstverständlich auch in anderen erzählenden Kunstformen wie beispielsweise dem Spielfilm. So bittet etwa das frisch verheiratete Paar Brad und Janet nach einer Autopanne in einem abgelegenen Schloss, telefonieren zu dürfen. Das beeindruckende Bauwerk stellt sich als Raumschiff heraus, in dem Aliens vom in der Galaxis Transsylvanien gelegenen Planeten Transsexual hausen und der Außerirdische Frank N. Furter gerade dabei ist, einen frankensteinschen Lustknaben zu erschaffen. Rund ein Vierteljahrhundert, nachdem der Kultfilm Rocky Horror Picture Show 1975 auf die Leinwand kam, verschlägt es die Ich-Erzählerin in Jutta Heinrichs Roman Unheimliche Reise in eine unbekannte Kleinstadt, in der merkwürdige Wesen ihr Unwesen treiben. Wie sich herausstellt, handelt es sich um gentechnisch erzeugte Mensch-Tier-Hybride. Und bereits gut 100 Jahre zuvor traf ein einsamer Wanderer des Nachts auf ein „riesengroßes, schwarzes Gebäude“, bei dem es sich seinem Besitzer zufolge um eine Menschenfabrik handelt. Sie stiftet den Titel für eine kurze Erzählung Oskar Panizzas, der sich den nächtens wandernden Ich-Erzähler ausgedacht hat.

Die drei Werke haben nicht nur gemein, dass Reisende auf unheimliche Orte treffen, sondern auch, dass künstliche Menschen beziehungsweise im Falle Heinrichs Tiermenschen erschaffen werden. Ebenfalls ein lange bekannter Stoff. War es in der antiken Mythologie noch eine Göttin, die einer von Pygmalion kunstfertig geschaffenen Statue Leben einhauchte, so ist es spätestens seit dem Homunculus in Johann Wolfgang Goethes Faust die Wissenschaft, die sich an diesem Unternehmen versucht.

Hatte die Autorin der Unheimlichen Reise ihr Ohr am Puls der Zeit, so kann davon bei Goethe und Panizza keine Rede sein. Menschen zu fabrizieren lag 1890, dem Erscheinungsjahr von Panizzas kurzer Erzählung noch ganz im Bereich der Fantasie. Eine Horror-Geschichte ist sie trotz der unheimlichen Fabrik und der in ihr produzierten Menschen nicht. Sie werden so „wie man Brot macht“ hergestellt und sind von vielfältiger Art. Kinder, die nicht altern, finden sich ebenso unter ihnen wie Chinesen oder ein wunderschönes Mädchen, das sofort das Begehren des Ich-Erzählers weckt. Als Sexsklavin taugt sie allerdings mitnichten. Denn ihre Kleidung wurde gleich mitgeschaffen, oder „gebacken“, wie es in dem Text heißt. Sie und ihre Kleidung sind daher fest miteinander verwachsen, wie das bei allen diesen Kunstmenschen der Fall ist. Auch besitzen sie alle einen zwar eigenen, doch stets gleichen unwandelbaren Gesichtsausdruck, können weder denken oder fühlen, noch sind sie ethische Wesen.

Gründe genug eigentlich, dass sich die Lesenden grausen. Das dürfte allerdings gar nicht in Panizzas Absicht gelegen haben. Dafür hat er die Kurzgeschichte zu sehr mit humoristischen Elementen gewürzt. Vor allem aber dient die kleine Erzählung dazu, den Protagonisten allerlei Reflexionen anstellen zu lassen. Etwa darüber, ob die Willensfreiheit überhaupt nur ein „Hirngespinst“ ist, über die mögliche Überlegenheit der „neuen Rasse“ gebackener Menschen den „alten Erdenbewohnern“ gegenüber und was das für letztere bedeuten mag. Dies wiederum führt ihn zu der Frage, ob es nicht besser sei, den Kunstmenschen einen moralischen „Trieb“ einzupflanzen, sodass sie nicht anders können als ethisch zu handeln. Die aber, belehrt ihn der auf seinen Profit erpichte Fabrikbesitzer, wären „absolut unverkäuflich“. Hingegen ist das fabrizierte „sklavische, des Namen Menschen unwürdige Geschlecht“ bei den KundInnen „sehr beliebt“. Auch versichert er: „Wir statten unsere Menschen bei der Geburt  mit einer nach den besten Mustern hergestellten Kollektion geistiger und leiblicher Vorzüge aus.“ 

Mag sich der Erzähler angesichts der „infernalen Kunst“ des Menschenbackens auch noch so exaltiert geben, so kann das doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch er selbst eine Kunstfigur ist, und zwar eine recht inkonsistente.

Am Ende vollzieht die Kurzgeschichte einen überraschenden Perspektivwechsel und nimmt die Sicht der künstlichen Wesen auf den alten Menschen ein. Jedenfalls so, wie der Ich-Erzähler ihre Sicht auf ihn und Seinesgleichen imaginiert. Ganz zum Schluss wird ihr Geheimnis gelüftet: Es gibt sie nämlich wirklich, die Menschen, die wie Brot gebacken werden, und zwar schon zu Panizzas Zeiten.

Der kurze Text über die „Menschenfabrik“ ist zwar nicht eben ein Kleinod literarischer Kunstfertigkeit, aber doch ein eigentümlich gebildetes Kristall, das Interesse weckt, es näher in Augenschein zu nehmen.

Titelbild

Oskar Panizza: Die Menschenfabrik. Erzählung.
Mit einem Vorwort von Joachim Bessing.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019.
64 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783455005813

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