Gekidnappte Detektive

In ihrem dritten Fall müssen Dennis Lehanes Ermittler Patrick Kenzie und Angela Gennaro alles wagen, um hinter das Geheimnis einer ruchlosen Entführung zu kommen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Beginn von Dennis Lehanes Schriftstellerkarriere stehen fünf Romane um das Detektivpärchen Angela Gennaro und Patrick Kenzie. Sie entstanden im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts. Nachdem der Autor mit den beiden – 2003 und 2009 von Clint Eastwood und Martin Scorsese kongenial verfilmten – Romanen Mystic River (2001) und Shutter Island (2003) seinen Bekanntheitsgrad noch einmal steigern konnte, legte er 2010 mit Moonlight Mile schließlich einen weiteren, den sechsten und bis dato letzten Kenzie-und-Gennaro-Thriller vor. Der nun von Peter Torberg für den Züricher Diogenes Verlag neu übersetzte Roman Alles, was heilig ist wurde im Original 1997 publiziert, ist der dritte Band der Reihe und erlebte ein Jahr später unter dem Titel In tiefer Trauer seine von Andrea Fischer als Übersetzerin verantwortete deutschsprachige Premiere. Torbergs Neuübersetzung nach 20 Jahren bringt erstmals den kompletten Text auf Deutsch und überzeugt mit coolen Dialogen und fein dosiertem Humor.         

Um in den Fall um die verschwundene Milliardärstochter Desiree Stone eingreifen zu können, müssen Kenzie und Gennaro erst einmal selbst entführt werden. Die beiden haben sich, nachdem sie in Band 2 der Reihe einen gefährlichen Serienmörder aus dem Verkehr gezogen hatten und dabei selbst nicht unversehrt geblieben waren, entschieden, für eine Weile zu pausieren. Doch dem schwerreichen und todkranken Trevor Stone stehen Mittel, Wege und vor allem genug Geld zur Verfügung, um die beiden aus ihrem selbst gewählten einstweiligen Ruhestand zurückzuholen. Und indem er sie nicht nur nach seiner verschwundenen Tochter suchen lässst, sondern auch nach Jay Becker – Patricks einstigem Lehrmeister bei der Detektei Hamlyn & Kohl –, den er bereits auf Desiree angesetzt hat und von dem seither ebenfalls jede Spur fehlt, verfügt er über ein zusätzliches Argument, dem sich die beiden, die er kurzerhand durch ein paar seiner willfährigen Handlanger von der Straße weg kidnappen lässt, nicht entziehen können.

Zunächst scheint es so, als ob Desiree Stone, aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht durch den gewaltsamen Tod ihrer Mutter, die Krebserkrankung ihres Vater und den gleichzeitigen Verlust eines früheren Collegefreundes, Zuflucht bei einer dubiosen Organisation gesucht hätte. Doch nachdem sie sich bei der „Trauer & Trost Inc.“ unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eingeschlichen haben, müsssen Kenzie und Gennaro feststellen, dass hier unter dem Deckmantel der Kummerbewältigung leichtgläubige Menschen zu einer sich „Kirche der Wahrheit und Offenbarung“ nennenden Sekte gelockt werden sollen, bei der man sie innerhalb kurzer Zeit einer kompletten  Gehirnwäsche unterzieht und um ihre Ersparnisse bringt. Allein Desiree hat es offenbar nicht lange bei den scheinheiligen Weltverbesserern ausgehalten. Zusammen mit Jeff Price, dem psychopathischen Chef der Trauerbegleiter, und rund zwei Millionen Dollar aus der Kirchenkasse hat sich das clevere Milliardärstöchterchen schnell wieder davongemacht.

Aber hat sich Price, von dem grausame Geschichten kursieren, tatsächlich bei erstbester Gelegenheit seiner Begleiterin entledigt? Und wo ist Detektiv Jay Becker abgeblieben, der den Ruf hat, einer der Besten seiner Branche zu sein? Lehane macht es Spaß, seine Leser immer wieder aufs Glatteis zu führen. Und während es für Angela Gennaro und Patrick Kenzie, die den drei Richtung Florida Verschwundenen im Privatjet ihres Auftragsgebers folgen, immer brenzliger wird – erzählerischer Höhepunkt ist die Beschreibung einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd bei Nacht und Regen über die spektakuläre, mit ihren fast 9 Kilometern Länge die Tampa Bay überspannende Sunshine Skyway Bridge –-, erscheint die Geschichte um die entführte Tochter und ihren besorgten, Himmel und Hölle in Bewegung setzenden Vater je nach dem personalen Blickwinkel, aus dem der Autor auf das Geschehen blickt, in immer wieder anderem Licht.

Eine geheimnisvolle Schöne, der jeder Mann augenblicklich verfällt, ein über unerschöpfliche Reserven verfügender Auftraggeber, der der Verschwundenen wieder habhaft werden möchte, zwei unerschrockene Detektive und ihr kleiner Kreis von nicht immer nur loyale Mittel einsetzenden Helfern – auf den Spuren der amerikanischen Altmeister des Hardboiled-Romans hat Dennis Lehane diesem in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Frischzellenkur verpasst. Tauchten Frauen bei den Klassikern des Genres von Dashiell Hammett bis Joseph Hansen in der Regel als verfolgte Unschuld oder teuflische Verführerin auf, erscheint mit Angela Gennaro nun eine weibliche Ermittlerfigur, die so cool sein darf wie ihr männliches Pendant, körperliche Gewalt durchaus nicht scheut und von political correctness meilenweit entfernt ist. Mit viel Freude an den ständig wechselnden Konstellationen zwischen Tätern und Opfern wird sie von ihrem Erfinder zusammen mit ihrem Partner in eine gefährliche Situation nach der anderen versetzt, um sich am Ende – nach einem Showdown, der so überraschend wie bizarr und befreiend ist – im Szenario einer Romanze wiederzufinden, das Lehane genauso gut in Szene zu setzen versteht wie all die statthabenden Irrungen und Wirrungen vorher.

Titelbild

Dennis Lehane: Alles, was heilig ist. Ein Fall für Kenzie & Gennaro. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
426 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783257300444

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch