Ein anderes Amerika

Das italienische Autorenkollektiv Wu Ming erzählt eine andere Geschichte des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs – doch auch sie endet mit Enteignung und weitgehender Vernichtung der amerikanischen Ur-Einwohner

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, es ist kein James Fenimore Cooper, den wir hier lesen, kein Lederstrumpf, aber es ist nah dran: In Manituana, im Italienischen bereits 2007 erschienen, taucht das Autorenkollektiv Wu Ming tief in die amerikanische Geschichte, und gerade in jene Phase, in der sich die zuvor britische Kronkolonie Ende des 18. Jahrhunderts in einem jahrelangen Krieg in die Selbständigkeit freikämpfte. Eine Gründungsgeschichte, die das US-amerikanische Selbstbewusstsein bis heute wesentlich bestimmt. Allerdings bleibt vom heroischen Freiheitskampf, vom Ideal der freien, selbstbestimmten Menschen, die das Recht darauf haben, ihr Glück zu versuchen, wenig übrig. Keine „edlen Wilden“, keine Freiheitskämpfer, keine Patrioten – die Absetzbewegung der britischen Kolonie ist im Wesentlichen eigennützigen Motiven geschuldet. Die Selbständigkeit ist das bessere Geschäft, was zwar die neuen Amerikaner und erst recht die britischen Kaufleute sehen, aber eben nicht die britische Krone und schon gar nicht der britische Adel, der in seiner selbstgefälligen morbiden Welt wenig von dem wahrnimmt, was um ihn herum geschieht. Mit anderen Worten, er ist längst kein wesentlicher Machtfaktor mehr. Es ist die „City“, wie sie heute noch heißt, das Finanzzentrum, das die Politik bestimmt.

Die Geschichte, die Wu Ming beinahe in Form eines klassischen Abenteuerromans erzählt, geht im Kern von Joseph Brant oder Thayendanedea aus, dem (historisch verbürgten) Kriegshäuptling der Mohawk und Assoziierten der Krone. Er führt Krieg gegen die Gegner Englands, die zwar vorgeben, um ihre Selbständigkeit zu kämpfen, aber zugleich die Existenzgrundlage der Mohawk und der anderen Stämme des Langen Hauses, wie sich der Völkerbund der Irokesen nennt, in Frage stellen. Sie bringen sich in den Besitz von Indianerland, sie rauben, sie morden, sie brechen Verträge. Für die Krone Partei zu ergreifen, ist aus dieser Sicht eine klare Entscheidung. Doch Brant muss diese Entscheidung nicht nur gegen den Widerstand der anderen Stämme durchsetzen, die dort mitgehen, wo der beste Preis geboten wird, sondern er muss auch die Krone selbst davon überzeugen, dass die Irokesen die richtigen Assoziierten im Kampf gegen die aufsässigen amerikanischen Kolonisten sind.

Dafür reist er zusammen mit dem Indianerkommissar Guy Johnson in einer kleinen Delegation nach London zu einer Audienz beim König, nicht um sich zu unterwerfen, sondern um sich als wertvollen Verbündeten vorzustellen. Die Reise der kleinen Gruppe aus Indianern und Weißen über den Atlantik dient dazu, den ernsthaften Kampf gegen den Aufstand zu ermöglichen und den Anspruch der Indianer auf Gleichwertigkeit zu demonstrieren.

Das Ergebnis könnte besser nicht sein und führt doch in den Untergang: Der Krieg, der bereits vor der Reise begonnen hat, mündet in seine Endphase und in die gründliche Vernichtung der Irokesenstämme. George Washingtons Befehl lautet, ihre Dörfer und Niederlassungen auszulöschen, sodass die, die übriggeblieben sein könnten, keine Überlebenschance mehr haben. Die paar, die es am Ende dieses atemberaubenden Romans sein werden, werden von Molly Brant, der geheimen Schlüsselfigur und Schwester Joseph Brants, zu jenem sagenhaften „Manituana“ geführt, das der letzte Zufluchtsort der einst so mächtigen Ureinwohner Amerikas sein würde. Alkohol, Missgunst, Gier, Verrat und eben auch Dummheit haben sie soweit gebracht. Aber dass sie der Aggression der weißen Eindringlinge unterliegen würden, war von Anfang an klar.

Manituana ist ein Roman, der keine gute Geschichte zu erzählen hat. Es gibt keine strahlenden Helden, und keine der Figuren, die einem ans Herz wachsen, überlebt bis zum Ende des Romans. Gleichzeitig zeichnet er sich durch unerhörte Dichte und Grausamkeit aus, die sich gegen die Leser richtet: Die Szenerie ist nicht nur düster, sondern sie ist mehr als das, wir tauchen in eine Geschichte ein, die dreckig ist, die stinkt. Es ist das Vorfeld einer Zivilisation, die so stolz auf ihre Errungenschaften ist. Es ist die Szenerie eines Krieges, in dem schmutzig gekämpft und grausam getötet wird. Das ist eindringlich und eben keine schöne Lektüre, vertieft aber den Eindruck, den diese Geschichte macht.

Wie tief im Dreck dieser Roman watet, wird in einer Szene auf einem Fest in der Londoner High Society erkennbar, in der eine fette Ratte durch die aufgedunsene, aufgetakelte und geschminkte Festgesellschaft hetzt, zerplatzt und ihr Gedärm über die Gäste verspritzt. Niemand ist verwundert darüber, wie eine Ratte in diese Gesellschaft gekommen ist. Das ist harsch an der Ekelgrenze, wenngleich ein Blick in Alain Corbins berühmte Studie Pesthauch und Blütenduft aus dem Jahr 1982 (in Deutschland seit 1984 verfügbar) vor Augen und Nase führt, wie nahe an der Realität Wu Ming sich hier bewegt. Der Roman geht aber noch weiter, er treibt von einem Extrem ins nächste und bei der Lektüre an die Grenzen der Geschmacks- und Geruchsnerven. Wir können noch so viel von der Vergangenheit wissen – wir werden nie wirklich nachvollziehen können, in welchem permanenten Ausnahmezustand unsere historischen Vorgänger leben mussten, egal wo. Es ist vielleicht das Verdienst dieses Romans nicht nur daran zu erinnern, dass es all das gegeben hat (unabhängig davon, ob hier eine reale Geschichte aus der Gründungszeit der Vereinigten Staaten erzählt wird), aber eben auch (vielleicht unwillentlich), dass es solche Zustände heute noch gibt. Wu Ming lässt einen, was das angeht, nicht aus den Fängen.

Titelbild

Wu Ming: Manituana. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold.
Assoziation A, Berlin 2018.
509 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783862414659

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