Gemischtes Doppel

Julian Barnes hat mit seinem neuen Roman „Die einzige Geschichte“ zu den Themen seiner großen Erfolgsbücher zurückgefunden

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er, Paul Roberts, ist 19 Jahre alt, als er eine Affäre mit der knapp 30 Jahre älteren Susan Macleod beginnt. Die ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und einen Mann, Gordon, der in den Träumen der jungen Susan vom zukünftigen Leben und Glück zu keiner Zeit die Hauptrolle spielte. Ein Zufall hat die beiden so unterschiedlichen Menschen zusammengeführt und nach zwei gemeinsamen Kindern gehört es sich in der englischen Mittelklasse der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts nicht, sich wieder zu trennen.

Also harrt Susan an der Seite des von ihr spöttisch „Mister Elefantenbuxe“ genannten Mannes aus, findet gelegentlich Trost in den Gesprächen mit ihrer unkonventionellen Freundin Joan – in deren Leben ihr eigenes zukünftiges Schicksal sich bereits angedeutet findet – und begründet ihr gescheitertes Leben mit dem Argument, zu einer  „abgehalfterten Generation“ zu gehören, der der Krieg noch in den Knochen steckt. Bis ihr mit Paul, der ihr als Doppelpartner im Tennisclub des kleinen Fleckens 15 Meilen südlich von London zugeteilt wird, ein Mann begegnet, mit dem sie sich in der Folge auf eine Beziehung einlässt, die sich zunächst so anfühlt, als ließe sich nun mit einem Schlag alles bisher Versäumte nachholen.

Nach dem Schostakowitsch-Roman Der Lärm der Zeit (2016), in dem es um das Verhältnis von Kunst und Macht in totalitären Systemen ging, ist Julian Barnes mit Die einzige Geschichte wieder zurückgekehrt zu Themen und Motiven, die sein umfangreiches und vielfach preisgekröntes Erzählwerk seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in je unterschiedlicher Stärke prägten. Es geht um die Differenz zwischen kollektivem und individuellem Erinnern, das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit, die Suche nach Wahrheit und Sinn im Erlebtem, individuelle Freiheitswünsche und ihnen im Wege stehende gesellschaftliche Konventionen und schließlich um die Liebe als einzig akzeptablen Ausweg aus einem als verwirrend empfundenen irdischen Labyrinth, in das weder Religionen noch Weltanschauungen, weder Philosophien noch weltgeschichtliche Chronologien eine akzeptable Ordnung zu bringen vermögen. Dargeboten wird das Ganze in einem so kunstvoll schlichten wie ironiedurchsetzten Erzählstil.

Dass die Liebe zwischen Paul und Susan, die am Beginn weder Rücksicht auf die Familie der 48-Jährigen noch auf die Eltern von deren jugendlichem Liebhaber nimmt, nicht von Bestand sein wird, ahnt der Leser schnell. Kollidiert sie doch mit den Konventionen einer Gesellschaft, über die sich hinwegzusetzen bedeutet, sehenden Auges ins Unglück zu laufen. Auch wenn es am Anfang so aussieht, als könne das ungleiche Paar in einer Zeit, in der, wie es im Roman heißt, „starke Lust und emotionale Leichtigkeit“ angesagt sind, seine Beziehung gegen alle Widerstände von außen verteidigen: Es mehren sich die Anzeichen, dass dies in der kleinbürgerlichen Umgebung, in der man lebt, nicht lange aufrechterhalten werden kann.

Nachdem die Affäre ruchbar geworden ist, werden Paul und Susan aus dem Tennisclub ausgeschlossen. Er bekommt es mit einem Elternhaus zu tun, das alles unternimmt, um dem rufschädigenden Verhalten des Sohnes so schnell wie möglich Einhalt zu gebieten. Sie muss sich der zunehmend aggressiver werdenden Attacken ihres Ehemanns erwehren, der nach außen hin den honorigen Bürger gibt, im Inneren aber zerfressen wird von Neid, Missgunst und dem Gedanken, vom Leben stets betrogen worden zu sein. Als Susan ihn schließlich verlässt, um mit Paul nach London zu gehen, wo man sich aus dem „Weglauffonds“, den sie sich hinter dem Rücken ihres Ehemanns eingerichtet hat, ein kleines Haus kauft, das sie in Ordnung hält, während er seine juristische Ausbildung in Angriff nimmt, scheint dem gemeinsamen Glück endlich nichts mehr im Wege zu stehen. Allein der Ich-Erzähler des ersten Romanteils – es ist der gealterte Paul, der auf die Geschichte seiner, wie er Jahrzehnte später weiß, einzigen Liebe zurückschaut – lässt dem Leser bereits an dieser Stelle wissen, dass sowohl Susan als auch Paul an den Anforderungen, die ihre Liebe an sie stellt, scheitern werden. Ein einziger lakonischer Absatz, mit dem er den ersten Romanteil enden lässt, genügt Julian Barnes, um den Leser auf das Kommende einzustimmen: „Und ich würde auch alles andere in guter Erinnerung behalten, wenn ich könnte. Aber das kann ich nicht.“

Was folgt, ist ein doppelter Abstieg: der von Susan in Alkoholismus und schließlich Demenz und der von Paul, der an der Aufgabe, die Verantwortung für die alternde und kranke Geliebte zu übernehmen, letzten Endes scheitert. Wenn er sie schließlich in ein Pflegeheim gibt und später, nach ihrem Tod, „eine angenehme Routine“ in sein Leben einkehrt, sein „Gefühlsleben“ zum „Sozialleben“ wird und „bescheidenes Behagen“ seine Tage dominiert, wird er zwar noch mehrere Versuche, erneut zu lieben, unternehmen, aber nie mehr das empfinden, was ihn die Welt einst als so leicht empfinden ließ.  

Erzählt Barnes jugendlicher Held übrigens im ersten Teil des Buches aus einer unverfälschten Ich-Position heraus und lässt den Leser damit unmittelbar teilhaben an dem ihm widerfahrenden Wunder der ersten Liebe, geht Teil Zwei nach wenigen Seiten unversehens zum „Du“ einer inneren Ansprache seiner selbst über, die, je klarer die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren in eine Abwärtsspirale gerät, fast selbstanklägerische Züge annimmt: „Und so hast du es am Ende mit liebevoller Nachgiebigkeit und liebevoller Strenge versucht, mit Gefühl und Verstand, mit Wahrheit und Lüge, Versprechungen und Drohungen, Hoffnung und Gleichmut.“

Für den dritten und kürzesten Romanteil schließlich hat der Autor die distanziertere personale Perspektive gewählt. Ein in die Jahre gekommener Erzähler erinnert noch einmal alle Höhen und Tiefen der Beziehung, um den Fokus anschließend auf den mehr als 40-jährigen „Rest“ seines Lebens zu richten, in dessen Verlauf er genau zu dem Menschen wurde, der er als 19-Jähriger nie sein wollte und dessen Zukunft aus „wachsender gesellschaftlicher Akzeptanz gepaart mit langsamer emotionaler Verarmung“ besteht. Die letzten vier Seiten des Romans schließlich wechseln wieder zur Ich-Perspektive des Beginns. An Susans Sterbebett stehend, kommen Paul erneut all die verlorengegangenen Momente des Glücks in den Sinn. Er glaubt inzwischen, sämtliche „Schuldgefühle […] wohl hinter“ sich zu haben. Entsprechend abgeklärt und ohne einen Funken Emotionalität fallen auch seine den Roman beschließenden Sätze aus: „Auf dem Weg nach draußen ging ich zum Empfang und erkundigte mich nach der nächstgelegenen Tankstelle. Der Mann war mir sehr behilflich.“

„Es ist eine alte Geschichte, / Doch bleibt sie immer neu, / Und wem sie just passieret, / Dem bricht das Herz entzwei“, hat Heinrich Heine 1822 in einem seiner in das Buch der Lieder eingegangenen Gedichte gereimt. Knapp 200 Jahre später bestätigt Julian Barnes Roman Die einzige Geschichte die Gültigkeit dieser Erkenntnis, indem er die „alte Geschichte“ in das England der 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts verlegt, die Zeit, in der Jugendrevolten und konservative Rückzugsgefechte das moralische Klima prägten. Doch noch bevor er seinen Lesern von einer tragisch scheiternden Liebe erzählt, stellt er ihnen die Frage nach ihrer eigenen Risikobereitschaft: „Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?“ Die eigene Antwort legt er Susan gleich zu Beginn ihrer Beziehung zu Paul in den Mund. Ein paar hundert Seiten später wiederholt der sie als eine Art Vermächtnis der einstigen Geliebten. Und natürlich lautet sie, dass die Liebe jedes Risiko wert ist, auch das des Scheiterns – denn sie ist nicht mehr und nicht weniger als „die einzige Geschichte“.

Titelbild

Julian Barnes: Die einzige Geschichte. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Gertraude Krueger.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
304 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051544

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