Mantegna und Bellini zugleich – das gab es noch nie

Zwei Meister der italienischen Frührenaissance in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrea Mantegna wurde Giovanni Bellinis Schwager, er war mit dessen Halbschwester verheiratet. Schon früh galt er als Wunderkind, mit 10 Jahren ging er bei dem Maler Francesco Squarcione in Padua in die Lehre, mit 17 durfte er bereits allein Kirchen ausmalen. Bellini war der Sohn eines der wohlhabendsten Künstler in Venedig und lernte zusammen mit seinem Bruder Gentile das Malerhandwerk beim Vater. Während Mantegna zunächst in Padua blieb und als Hofmaler in Mantua in den Dienst der Familie Gonzaga trat, arbeitete Bellini während seiner gesamten Laufbahn in Venedig für Kirchen, private Mäzene und die Republik. Mantegnas Stärke lag in seinen Bildfindungen, seinem Talent als Geschichtenerzähler und der Fähigkeit, der längst vergangenen Welt der klassischen Antike neues Leben einzuhauchen. Bellini stand ihm an Innovationsgeist nicht nach: Sein Interesse für Licht, Farbe und Landschaft führte ihn zur Erfindung einer völlig neuen Art von Kunst, die bis heute durch ihre Schönheit besticht und den Betrachter berührt. Beide vermochten es, an Körpern Sinnesreize und Gefühle sichtbar zu machen, die sie in der Realität durch empathische Beobachtung entdeckten. Man denke nur an die zahlreichen Darstellungen der Passion oder die intime, zartfühlende, nicht selten von Melancholie durchdrungene Hinwendung der Madonna zu ihrem Kind. Hier wurde ein Reichtum an emotionaler Tiefe geschaffen, der sich in seinen vielfältigen Ausprägungen als etwas ganz Neues darstellt.

Die Arbeiten der beiden Künstler sind natürlich in Italien greifbar, sie sind aber auch in der ganzen Welt verstreut. Gerade die Sammlung in der National Gallery London und die in der Gemäldegalerie – wie auch im Kupferstichkabinett – Berlin verzeichnen einen reichen Bestand. Beide Museen haben sich zusammengeschlossen, um auf der einzigartigen Grundlage ihrer Sammlungen – und vieler hochdotierter Leihgaben – erstmals eine vergleichende Betrachtung der beiden Meister der Frührenaissance zu unternehmen. Umfangreiche Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten mussten vorher geleistet werden, was den Vorteil mit sich bringt, dass deren Ergebnisse nun auch in die Erforschung der Werke mit einfließen können.

Die aktuell in der Gemäldegalerie Berlin bis zum 30. Juni 2019 gezeigte Ausstellung des „unwahrscheinlichsten Traumpaares der italienischen Kunstgeschichte“, wie es Dagmar Korbacher, die Direktorin des Berliner Kupferstichkabinetts, ausdrückt, ist der Publikumsrenner des Jahres 2019. Es ist bemerkenswert, was zusätzlich zu dem Besitz der Londoner und Berliner Museen zusammengetragen werden konnte. Auch aus der Sammlung der englischen Königin stammen einzigartige Werke. Die Malerei hat natürlich den Vorrang, aber auch in der Zeichenkunst kommt man den beiden Künstlern nahe. Pulte überwinden die Distanz zum Betrachter, Zeichnungen und Gemälde werden nebeneinander gezeigt. In der Umgestaltung der großen Halle der Gemäldegalerie ist ausstellungsdramaturgisch Einzigartiges geleistet worden.

Welche gemeinsamen und doch unterschiedlichen Schwerpunkte beide Maler setzten, soll an einigen Beobachtungen konstatiert werden. Mantegnas Hl. Sebastian (um 1459/60) ist an einer der Geißelsäule Christi vergleichbaren Säule gefesselt, sein Körper von Pfeilen durchbohrt, doch das Heiligenbild ist in ein antikes Ambiente eingebunden, die linke Relieftafel zeigt sogar ein Bacchanal. Dagegen lässt Bellini den Hl. Franziskus in Ekstase (um 1476–1478) im Sinne des neuen Naturverständnisses, demzufolge sich Gott in der Natur offenbart, die Schönheit der Welt preisen. In seiner Orantenhaltung stimmt Franziskus gleichsam einen Hymnus an. Schon Bellinis Christus am Ölberg (Gethsemane) (1458–1460) zeigt Christus auf einer Anhöhe, abgesondert von den schlafenden Jüngern, im Zwiegespräch mit Gott, der sich in der lichtdurchfluteten Landschaft verkörpert. In Mantegnas Beweinung des toten Christus (um 1490) liegt der Körper Christi, in die Tiefe fluchtend, in Verkürzung auf dem Salbstein, auf dem er für die Grablegung bereitet werden soll. Die dem Betrachter entgegengestreckten Füße suggerieren Nähe, dagegen rücken die angeschnittenen Figuren der Trauernden in den Hintergrund. Es wird so die Vorstellung vermittelt, der Betrachter sei real zugegen und an die Stelle der Trauernden getreten.

Bellinis Pietà (um 1460), Toter Christus, gehalten von Engeln (1480–85) oder auch Beweinung Christi (um 1500) sind dagegen nicht erzählerisch aufgefasst, ihre Frontalität fordert den Betrachter zur mystischen imitatio auf, zur meditativen Versenkung in die Leidensgeschichte Christi. Trotz der gelungenen Landschaft steht Christus in Bellinis Auferstehung und Himmelfahrt Christi (1475–79) zwar auf einer kleinen Wolkenbank; doch dass er im Aufsteigen begriffen ist, konnte Bellini noch nicht darstellen. Die Darbringung Christi im Tempel (1453) von Mantegna, das ihn und seine Frau Nicolosia an den Rändern des Bildes darstellt, ist 20 Jahre später von Bellini abgepaust worden. Dieses Bild befindet sich in der Fondazione Querini Stampalia in Venedig und wird nun zusammen mit dem Berliner Bild von Mantegna gezeigt. Schon Mantegna bezog auf bisher beispiellose Weise den Betrachter ins Geschehen ein. Bellini reproduzierte aber das Werk seines Schwagers keinesfalls mechanisch, sondern nahm entscheidende Veränderungen vor. Könnte es sich bei der Figur rechts wirklich um ein Selbstbildnis Bellinis handeln? Doch die spektakulärste Gegenüberstellung ist wohl Der Sieg der Tugend über die Laster von Mantegna (um 1500/02) mit dem Fest der Götter von Bellini (1514–1529, das Werk wurde teilweise von Tizian 1529 übermalt). Bei Mantegna flüchten die Allegorien der Laster – Dummheit, Wollust und Faulheit – vor der waffenschwingenden Göttin der Weisheit. Bellini war wohl in Fest der Götter vom klassisch antiken Konzept Mantegnas beeinflusst und man muss es deshalb als eines der frühesten großformatigen venezianischen Gemälde mit diesem Sujet anerkennen. Das berühmte Porträt des Dogen Leonardo Loredan (um 1501/02) in strenger Profilansichtigkeit von Bellini in London ist noch nie ausgeliehen worden. Es steht Mantegnas frühem, gut vier Jahrzehnte vorher entstandenem Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisan (1459/60) in Dreiviertelansicht gegenüber. Beide Bildnisse weisen die Dargestellten nicht nur als Repräsentanten ihres jeweiligen Amtes, sondern als psychologisch charakterstarke Individuen aus.

Der von Caroline Campbell, Dagmar Korbacher, Neville Rowley und Sarah Vowles herausgegebene Katalog Mantegna + Bellini. Meister der Renaissance wird über die Ausstellung hinaus die Grundlage für weitere Forschungen bilden. Caroline Campbell erzählt von den beiden verschwägerten Meistern, ihren Familien und ihren Heimatstädten Padua und Venedig – eine eng verflochtene Geschichte über Kunst, Rivalität, Heirat, Pragmatismus und Persönlichkeit. Die Schwager waren zwar Konkurrenten, hegten aber füreinander Respekt und Bewunderung. Mantegna war der Inbegriff des intellektuellen Künstlers, Bellini hingegen Landschaftsmaler, der mit Landschaften Gefühle vermittelte. Andrea de Marchi setzt mit Mantegna und Bellini Invention und Atmosphäre gegenüber.

Neville Rowley untersucht die zwei kunstgeschichtlich herausragenden Ausstellungen 2008 im Musée du Louvre, die Mantegna, und der Scuderie del Quirinale in Rom, die Bellini gewidmet war. Es waren Konkurrenz-Ausstellungen, auch die Beziehungen zwischen beiden Künstlern wurden radikal verschieden interpretiert und bargen Konfliktstoff. Robert Longhi, der berühmte italienische Kunsthistoriker, dessen stilistisch brillante Studien zur Geschichte der italienischen Malerei weltweite Anerkennung gefunden haben, sollte in Rom vom Sockel gestoßen werden, während er in Paris weiterhin als unbestrittene Autorität galt. Die wahre Geburt der venezianischen Kunst, so Longhi, habe erst unter der Ägide Piero della Francescas stattgefunden. Ob man nun Longhi als großen Kunsthistoriker bewunderte oder sich an seinen Werturteilen störte, seine Vorliebe für Bellini zulasten Mantegnas war Indikator eines allgemeinen Wandels in der Wahrnehmung der beiden Künstler. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt das Interesse nicht mehr der Linie Mantegnas, sondern den Pinselstrichen Bellinis. Ein Jahrhundert nach diesem „Wandel im Sehen“ bietet nun die Berliner Ausstellung endlich Raum für ein gleichberechtigtes Nebeneinander der beiden Maler von so außergewöhnlicher und einander ergänzender Begabung.

Die gegensätzlichen Herangehensweisen Mantegnas und Bellinis in der Maltechnik erörtern Jill Dunkerton und Babette Hartwig mittels der Infrarotreflektografie. Mantegnas und Bellinis Christus am Ölberg deuten auf einen gewissen Austausch hin. Die Technik des Aufspritzens von Farbe hat Bellini hier – in seiner Fassung der Ölbergszene – von Mantegna übernommen, er greift aber später nicht mehr darauf zurück. Bellini war einer der ersten italienischen Maler, der die traditionelle Eitempera aufgab und sich die Vorteile der Ölmalerei zueigen machte. Eine Materialanalyse von Bellinis Toter Christus von Engeln gestützt (um 1465–1470) in der National Gallery bestätigte, dass schon hier Ölfarbe zum Einsatz kam – also noch bevor Antonello da Messina, dem traditionell die Einführung der Öltechnik in Venedig zugeschrieben wird, in die Stadt kam.

Dem mit großer malerischer Sicherheit ausgeführten Toten Christus in London liegt eine ausführlich ausgearbeitete Unterzeichnung zugrunde, wie man ihr bei Bellinis Tafelbildern immer wieder begegnet. Während Bellini besonderes Augenmerk dem Lichteinfall und der Schattenwirkung widmete, legte Mantegna in seinen Unterzeichnungen nur gelegentlich Schattierungen an. Als Bellini seine Version der Darbringung Christi im Tempel malte, waren mindestens zwei Jahrzehnte nach Entstehung des Vorbildes Mantegnas vergangen. Bellini malte seine Fassung – keine Kopie! – auf Holz, nicht auf Leinwand. Der Unterschied im Farbauftrag zwischen Mantegnas und Bellinis Fassung der Darbringung Christi ist eklatant, vor allem in den Köpfen der männlichen Figuren. Das Flüssige von Bellinis Öltechnik und die geschmeidige, suggestive Art, in der er die Gesichter zeichnet, erscheinen fast wie ein kritischer Kommentar zur kleinteiligen, trockenen Malweise in Tempera seines Schwagers. Bellini hat ganze Bilder nach Entwürfen seines Schwagers gemalt, so seine gemalte Fassung des Christus in der Vorhölle (um 1475–1480). Mantegna war auch in seinem späteren Schaffen wenig geneigt, die von ihm bevorzugte Eitempera für seine Tafelbilder zugunsten der Öltechnik aufzugeben. Zum Zeitpunkt, als sein Schwager starb, hatte sich Bellinis Malweise und -technik bereits in eine Richtung entwickelt, die seiner Persönlichkeit eher entsprach. Auch im hohen Alter stellte er noch seine Fähigkeit unter Beweis, einer neuen Generation von Malern Anstöße zu vermitteln und selbst von ihr zu lernen.

Zum grafischen Werk von Mantegna und Bellini äußern sich Sarah Vowles und Dagmar Korbacher. Die Diskussion um Mantegna und Bellini führte gern beide Künstler als Beispiele für unterschiedliche Traditionen in der Malerei an. Mantegna als Künstler des grafischen Ausdrucks, Bellini als Maler von Farbe und Atmosphäre, für den das Zeichnen wenig Reiz besaß. Erst im 20. Jahrhundert wurde die zentrale Bedeutung der Zeichenkunst für beide Künstler erkannt.

Als Mantegna seine Laufbahn als selbständiger Künstler begann, verwendete er bereits die Technik der Parallelschraffur, die zum Markenzeichen seines reifen zeichnerischen Stils werden sollte. In den 1490er Jahren schuf Mantegna seine klassischsten Werke. Zarte Schattierungen mit dem Pinsel ersetzen die üblichen Schraffuren mit der Feder. Noch kontroverser als die Zuschreibung mancher Zeichnungen wird Mantegnas Tätigkeit als Kupferstecher diskutiert. Es spricht viel dafür, die Kupferstiche als Ergebnis einer künstlerischen Partnerschaft zwischen Mantegna und einem begabten Kupferstecher anzusehen. Anders als für Mantegna besaß die Druckgrafik für Bellini offenbar keinerlei Reiz. Möglicherweise sah Bellini, der in der Malerei feinste Schattierungen und Farbnuancen herausarbeiten konnte, wenig Potenzial in dem damals vor allem als Medium der Linie begriffenen Kupferstich. Campagnolas Experimente mit der Technik des Punktierstichs, die eine atmosphärische Darstellungsweise ermöglichte, kamen für Bellini zu spät. Doch das Zeichnen spielte in Bellinis Schaffensprozess eine große Rolle, viele seiner Gemälde weisen mit Pinsel oder Kreide ausgeführte Unterzeichnungen auf, die den Schlüssel zum Verständnis von Bellini als Zeichner darstellen.

Datierungen der Zeichnungen Bellinis werden vorgenommen, so des Kopfes eines alten bärtigen Mannes (um 1460–1466) oder des Mannes mit Turban. Seine rätselhaftesten Zeichnungen sind die drei Grisaille-Studien von Männern in antiker Kleidung. Die Zeichnungen im British Museum und im Louvre – die eine Mantegna, die andere Bellini zugeschrieben – zeigen die Schwierigkeit, Werke der beiden Künstler aus der von wechselseitiger Beeinflussung geprägten Zeit um 1460 auseinanderzuhalten. Damals schufen beide ihr Gemälde Christus am Ölberg und sie widmeten sich gemeinsam voll auch anderen Themen. Das Porträt des Francesco Gonzaga in Dublin stammt wohl von Mantegna. Mantegna entwickelte einen eigenständigen Stil in der Zeichnung, gekennzeichnet durch Parallelstrukturen und deutliche Konturen. Bellini eignete sich eine fließende Technik an, bei der er mit vielen kleinen Strichen arbeitete, um die Formen weich zu modellieren. Der reich illustrierte Katalog enthält weitere Beiträge zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden beider Maler.

Titelbild

Caroline Campbell / Dagmar Korbacher / Neville Rowley / Sarah Vowles: Mantegna + Bellini. Meister der Renaissance.
Hirmer Verlag, München 2018.
304 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783777431734

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