Beinahe Dahlemisch

Ein Buch von Thomas Sparr über das deutsch-jüdische Jerusalem der 1920er bis 1980er Jahre

Von Oskar AnsullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oskar Ansull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mikrokosmos, Ausschnitt des geistigen, literarischen Lebens, wie es in der Dichte und Komplexität nur zu bedeutenden Umbruchzeiten stattfinden kann, zu einer Zeit, in der sich umfassend und durchlaufend eine Zweijahrtausendgeschichte und unmittelbare Jahrhundertgegenwart in eins ballt, die Thomas Sparr in seinem Buch Grunewald im Orient. Das deutsch-jüdische Jerusalem in einer fiktiven Szenerie auf eine Caféhausbühne zaubert, im Jerusalemer Stadtteil Rechavia, das heißt „Weide, Weite Gottes“.

Auf dieser Bühne führt er einige Protagonisten seines Buches zusammen, lässt sie ihre Grundpositionen andeuten, die in den dann folgenden Kapiteln detailliert aufgeblättert werden. Der Anlass des Caféhaustreffens ist der Abschluss der in den 1920er Jahren begonnenen und fünf Bände zählenden Bibelübertragung ins Deutsche von Martin Buber. Ein „Grabmal … ein Geschenk der Juden an die Deutschen“ befand Gerhard Scholem schon damals und der spätere Gershom Scholem bekräftigt es nun, Anfang der 1960er Jahre im Café Atara erneut: Ein bitter und mörderisch ausgeschlagenes Geschenk, wie die Geschichte gelehrt hat, und für die Juden braucht(e) es keine Übersetzung ins Deutsche.

Damit ist der Horizont dieses Jerusalembuches aufgezogen, vor dem sich Geschichten und Namen gruppieren. Zu den schon Genannten gehören Escha Scholem, Else Lasker-Schüler, Mascha Kaléko, Hannah Arendt, Lea Goldberg, Anna Maria Jokl, Ilana Shmueli, Walter Benjamin, Ludwig Strauss, George Lichtheim, Paul Celan, Peter Szondi, Tuvia Rübner. Als heimliche Hauptfigur durchzieht die Gestalt Werner Krafts, wie auch die Straße in der Erna und Werner Kraft wohnten, die Kapitel des Buches. Die Alfasiastraße 32 in Rechavia.

In der ursprünglichen Planung eine Gartenstadt an urbaner Peripherie als „preußische Insel im Orient“, wie einst Dahlem / Grunewald in Berlin. Doch nur beinahe, Mascha Kaléko bringt das in einem Brief auf den Punkt: „Von europäischem Wald keine Rede, die Bäume vorm Haus und auch wenn man mit Einholekorb umherwandelt in Talbiyeh und Rehavia […], ist es beinahe Dahlemisch.“

Der spätere Leiter des Jüdischen Verlages, Cheflektor des Siedler Verlages und heutige Editor-at-Large für den Suhrkamp Verlag, Thomas Sparr, der in den 1980er Jahren an der Hebräischen Universität und dem Leo Baeck Institut in Jerusalem gearbeitet hat, zieht mit diesem Buch eine Zwischensumme seiner Erlebnisse und literarischen Recherchen auf diesem immer ferner rückenden Gelände des einstigen Palestine und sich herausbildenden Israel. Er hat die Spuren des Verschwindens der sogenannten „Jecken“ Israels an den Straßenrändern gesehen und einiges davon aufgelesen: die zerfledderten, fortgeworfenen und fortgewehten Bücher der inzwischen verstorbenen deutschen Juden, die noch lang in der geflohenen Geistes- und Sprachwelt lebten. Sie waren Ausgewanderte, Exilierte, Fremde im Orient. Ihr Denken und Fühlen war allein noch in diesen Büchern aufbewahrt, in einer Sprache geschrieben, die dort heute nur wenige Israelis lesen können oder wollen. Eine Welt von Vorvorgestern. Zu ihr gehörten die hier oben aufgerufenen Namen. Sie sind, mit wenigen Ausnahmen, heutigen Lesern längst nicht mehr geläufig. Doch waren sie, genau genommen, in den zurückliegenden Jahrzehnten auch kaum bekannt. Wer sie kannte oder noch kennt, gehört zu einer exklusiven Gesellschaft von Literaturnärrinnen und -narren, von denen wahrscheinlich heute mehr im deutschsprachigen Raum leben als irgend anderswo. Für diese allerdings ist das Buch ein Geschenk.

Auf der Rückseite des Bucheinbandes, der ein ganzseitiges Foto aus Jerusalem im Anschnitt abbildet, tauchen am unteren Bildrand Arm in Arm zwei Schattengestalten mit Hüten auf. Ein älteres Paar, eine Frau und ein Mann, er auf einen Stock gestützt, strebt einen ungepflasterten Weg in einem noch ungestalteten Gelände hinauf. Sie halten auf ein großes öffentliches Gebäude zu. Das in der Bewegung angehaltene Schattenpaar steht bildlich für das von der ersten bis zur letzten Seite gelungene Unternehmen des Autors, einen fernen Ausschnitt jüdisch-deutscher Kulturgeschichte als Momentaufnahme vor dem Verlöschen noch einmal sichtbar, lesbar werden zu lassen, als, so schreibt er im Auftakt seines Buches, „als ließe sich das Verschwundene besser fassen und begreifen als das Verschwindende.“

Titelbild

Thomas Sparr: Grunewald im Orient. Das deutsch-jüdische Jerusalem.
Berenberg Verlag, Berlin 2018.
200 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334323

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