Von der patriarchalen Klein- zur matriarchalen Clanfamilie

Mariam Irene Tazi-Preve erläutert „das Versagen der Kleinfamilie“ und schlägt eine Alternative vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Innerhalb nur eines Jahres eine zweite Auflage zu erlangen, das gelingt nicht vielen Fachbüchern. Mariam Irene Tazi-Preves Buch über Das Versagen der Kleinfamilie hat es geschafft. Das ist umso erstaunlicher, als es sich um ein dezidiert feministisches Werk mit einigen gewagten Thesen handelt. Dabei ist die Kritik der Kleinfamilie nicht einmal so neu. Bereits in den 1970er Jahren führte sie dazu, dass neue Formen des Zusammenlebens erprobt wurden, um die Gesellschaft und das bürgerliche Individuum zu revolutionieren, wie es damals hieß.

Nun, ein halbes Jahrhundert später, versteht sich Tazi-Preve als „Sprachrohr der an den Familienverhältnissen leidenden Generationen“, und auch sie will die Verhältnisse revolutionieren, deren grundlegendes Übel sie, wie schon etliche der damaligen KommunardInnen, in der Kleinfamilie ausmacht. So ist ihr Buch „dem Hinterfragen und Neudenken dieser Organisation privater Beziehungen gewidmet“. Das Ziel ihrer „patriarchatskritischen“ Arbeit ist nicht nur ein analytisches. Sie möchte die Lesenden zur „Abkehr vom ‚Glaubenssystem Kleinfamilie‘“ bewegen. Dabei versteht sie unter Patriarchat nicht einfach nur die „Dominanz von Männern über Frauen“. Vor allem handele es sich um eine „Funktionsweise“, welche die „gesamte Zivilisation“ kennzeichne und zu deren Merkmalen „herrschaftliche Machtausübung durch hierarchische Gliederung“, „das Prinzip ‚Teile und Herrsche‘“, „die Ablehnung der Verantwortlichkeit gegenüber dem Lebendigen“, die „Ausbeutung von Mensch und Natur“, die „Akzeptanz von Gewalt, besonders gegenüber von Frauen und Kindern“ zählten. Das „natürliche Hervorbringen durch die Mutter und die Natur“ gelte der patriarchalischen Zivilisation hingegen „als nichts“. Nicht alle diese Vorwürfe sind wirklich überzeugend. So sind in unserer patriarchalischen Zivilisation etwa Vergewaltigungen und Missbrauch nicht nur unter Strafe gestellt, sondern werden auch gesellschaftlich geächtet.

Patriarchale und matriarchale Macht unterscheiden sich der Autorin zufolge jedenfalls grundlegend voneinander. Während „patriarchale Macht ein äußeres Herrschaftsinstrument“ sei, bei der es um „Macht […] über andere“ gehe, „verbindet sich“ der Autorin zufolge mit der „‚matriarchalen Macht‘ nicht das Verfügen und die Herrschaft über andere, sondern natürliche Autorität, Stärke und Kompetenz“.

Zwar „arbeiten“ der Autorin zufolge „Forschung, Rechtsprechung und Politik zusammen, um die Kleinfamilie als politisches und individuellen Leitbild zu stabilisieren“, doch sei sie keineswegs die „Idylle“, als die sie allerorten propagiert werde, sondern vielmehr der „Ort der Zurichtung des Menschen in die patriarchale Zivilisation“.

Mutterschaft, moniert sie weiter, sei heute zur „patriarchalen Mutterschaft“ verkommen, die „auf dem historischen Muttermord basiert“. Das klingt keineswegs so, als sei es metaphorisch gemeint wie bei Sigmund Freud wohl der Vatermord durch den Brüderclan. Auch die Formulierung, die Mutter solle „buchstäblich ausgemerzt werden“, legt eine wörtliche Interpretation nahe. Denn anders als radikale FeministInnen der 1970er Jahre wie Shulamith Firestone setzt sie nicht darauf, dass Reproduktionstechnologien die Frauen von der Last der Schwangerschaft und des Gebärens befreien, sondern fürchtet, sie zielten darauf ab, „mutterloses Leben zu erschaffen“, und zwar mittels „Abschaffung ihres Körpers“. An anderer Stelle spricht die Autorin von einem bloß „symbolischen Muttermord“, der ein „Kunstprodukt“ sei, „dessen Ziel die technologische Abschaffung der Mutter ist“.

Selbstverständlich kritisiert sie die „Vereinbarungslüge“ von „Beruf und Familie“ sehr zu Recht. Sie bestehe darin, „dass die Kompatibilität zweier divergierender Systeme propagiert wird, die einander per se ausschließen“. So werde „Müttern im Patriarchat nie etwas anderes als die Option zwischen unakzeptablen Möglichkeiten offeriert“. Allerdings trifft dies nicht nur auf die Mütter zu, sondern auf Frauen überhaupt, die gemeinhin zwischen Karriere und Kind wählen müssen. Die von der Autorin beklagte „Mutterfalle“ ist somit eigentlich eine Frauenfalle. Ansonsten ist ihre diesbezügliche Kritik vollauf berechtigt, ebenso wie ihre Ablehnung von Leihmutterschaft und Prostitution. Auch wenn ihr in diesem Zusammenhang schon einmal eine Formulierung missglückt, wenn sie schreibt: „Die – männlichen – ungelebten sexuellen Wünsche und Phantasien werden zur Ware und in Prostitution und Pornographie entgeltlich ausgelebt.“ Letzteres trifft zwar zu, Waren aber sind die sexuellen Wünsche und Phantasien der Männer mitnichten. Denn das Wesen von Waren ist es, zum Kauf feilgeboten zu werden. Wer aber sollte schon für die nicht ausgelebten sexuellen Phantasien der Männer zahlen.

Prostitution und Leihmutterschaft sind allerdings nur randständige Themen in Tazi-Preves  Argumentation, in deren Zentrum die Kritik der patriarchalen Kleinfamilie und – als Alternative – ein Plädoyer für matriarchalische Clanstrukturen stehen, die auf Matrilinearität basieren. Denn diese besitze „eine inhärente Logik, die historisch durch die künstliche Vaterlinie ersetzt worden ist“.

Politik bedeute im „matrilinearen Kontext“ einen „Entscheidungsfindungsprozess in Rückbindung an die Familie, die Sippe, den Stamm“, wobei der die politische Entscheidungen treffende „Clanrat“ von der „Clanmutter“, also der ältesten Frau des Clans, geleitet werde. Sie sei „die prägende Person aller Matriarchate“ in Geschichte und Gegenwart. „Die Liebe und Achtung für sie“ habe „mythische, historische, sakrale und zutiefst persönliche Bedeutungen“. Tazi-Preve verweist auf die real existierenden Matriarchate der Sami in Finnland, der Minangkabau auf Sumatra, der Mosuo in Südchina, die Matri-Clans der Hopi und der Dakara in Burkia Faso, um „den Blick zu schärfen, Offenheit zuzulassen, die Normalität zu demontieren und andere Möglichkeiten aufzuzeigen, die für uns Vorbild sein können“.

An die Stelle der Kleinfamilie soll den Vorstellungen der Autorin gemäß das „mütterliche Clanhaus“ treten, das den Frauen „nicht nur ökonomische und emotionale Sicherheit“ garantiere, sondern auch „die freie Liebeswahl“ erlaube. Zumal die Frauen nur sexuelle Beziehungen zu Männern außerhalb des Clanhauses eingehen und „erotische Partnerschaften“ als „Besuchsehen“ verstanden werden können. Beide sind „nicht Teil der Familie“. In dem von der Autorin propagierten Clanhaus sind die Mütter „stets durch die Anwesenheit der Schwestern, der eigenen Mutter und der Brüder und Onkel entlastet“. Die Erziehung der Kinder ist „niemals“ die „alleinige Angelegenheit der biologischen Mutter“, vielmehr werden sie „im Verband“ erzogen. Oft wissen sie nicht einmal, „welche der Mütter ihre leibliche Mutter ist“. Denn „in der Matrilinearität sind alle Frauen einer Familie die Mütter aller Kinder“. Biologische Vaterschaft spielt keine Rolle mehr, wohl aber die soziale Vaterschaft. Die „soziale Rolle“, die in der patriarchalen Kleinfamilie dem biologischen Vater eines Kindes zukommt, wird im matriarchalen Clanhaus von dem „der Mutter nahestehenden Mann“ übernommen, also vom „Mutterbruder“. Mit anderen Worten von einem Onkel des Kindes.

Die von Tazi-Preve angestrebte matriarchale Gesellschaft betreibt auf ökonomischer Ebene eine „Subsistenzwirtschaft“, der Privatbesitz unbekannt ist. Ihre „sozialen Muster“ beruhen auf der „Bildung von Clans, die durch Matrilinearität und Matrilokalität zusammengehalten werden“.

Der von Tazi-Preve angestrebte „Paradigmenwechsel“, von patriarchalen zu matriarchalen Gesellschafts- und Familienstrukturen kann der Autorin zufolge „leicht im Hier und Jetzt umgesetzt werden“, indem „die Mütter die nächste Generation von Kindern nicht mehr dazu [erziehen], als Erwachsene das Haus sofort verlassen zu müssen“. Wenn sie selbst erwachsen sind, übernehmen die Kinder „ökonomische Verantwortung gegenüber der familialen Gemeinschaft und nicht gegenüber dem/der Liebespartner/in“. Denn sie „müssen nicht mehr aus dem Mutterhaus ausziehen, um als erwachsen und autonom zu gelten, sondern können dort ihren emotionalen und sozialen Rückhalt haben“. Im Mutterhaus großgezogen, wissen sie dann „auch nichts mehr vom patriarchalen Liebes- und Ehemythos“. Darum sind sie sich „mit der Muttergeneration“ einig, „dass die Partner/innen nicht im gleichen Haushalt leben sollten“.

Tazi-Preves Kritik an der patriarchalen Kleinfamilie hat einiges für sich (im Grunde sogar ziemlich viel). Ob ihr Alternativvorschlag einer matrilinearen Clanfamilie tatsächlich bessere Verwandtschaftsbeziehungen zeitigen würde und gesellschaftlich erstrebenswert ist, ist eine andere Frage. Sind die Clanfamilien nicht ebenfalls Zwangsverbände, die zudem – nicht zuletzt hinsichtlich der von den „Mutterbrüder“ zu übernehmenden sozialen Vaterschaft – auch noch biologisch begründet sind, gerade so wie die soziale Vaterschaft in der Kleinfamilie dem biologischen Kindsvater zufällt? Wäre beiden familialen Strukturen, der patriarchalen Klein- wie der matriarchalen Clanfamilie nicht ein Konzept freier Wahlverwandtschaften vorzuziehen? Fragen, die sich letztlich nur praktisch beantworten lassen.

Titelbild

Mariam Irene Tazi-Preve: Das Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat.
2., durchgesehene Auflage.
Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2018.
225 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783847421962

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