Schrift und Bild gesellt sich gern

Boris Roman Gibhardt und Johannes Grave verschieben mit ihrem Sammelband lohnenswert den Fokus von der Produzenten- und Artefakt- auf die Rezipientenseite

Von Nils LehnertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Lehnert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schrift und Bild? Schrift als Bild? Schriftbild? Bild(in)schrift? Dass sich zwei so große Themenkreise notwendigerweise mehrere Schnittflächen teilen müssen, liegt auf der Hand. Und da in einer generell primär visuell organisierten Gegenwart spätestens seit dem iconic turn die Forschungslandkarte gespickt ist mit Reißzwecken, auf denen Fahnenworte wie etwa die allenthalben diskutierten ‚Text-Bild-Relationen‘ prangen, ist die vorgenommene Fokussierung wichtig, richtig und konsequent. Boris Roman Gibhardt und Johannes Grave, die Herausgeber des – so viel sei vorab verraten: äußerst lohnenswerten – Sammelbands Schrift im Bild. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf Text-Bild-Relationen in den Künsten, machen nun jedoch diese spezifische In-Bezug-Setzung vielleicht etwas zu stark.

Denn zum einen stellen sie zwar deutlich und wortreich heraus, dass und warum es ihnen um Schrift im Bild zu tun ist. Auch, was sie genau darunter verstehen, legen sie einwandfrei offen – aber in der Folge unterlaufen sie selbst diese ‚religiös‘ gesetzte Grenzziehung doch hin und wieder. So ist etwa im letzten Absatz der Einleitung folgender Satzbeginn zu lesen: „Wenn Schrift im Bild und damit als Bild erscheint […].“ Das würde dem geneigten Leser vermutlich nicht einmal der Rede wert sein, wäre er nicht zuvor getriezt worden, diese beiden Lesarten und mithin Rezeptionsmodi strikt voneinander zu scheiden. Und auch von den Beiträg(erInn)en erwartete man sich nach dieser Eröffnung ein wenig mehr Elan, den eng gesteckten Vorüberlegungen nachzueifern – wiewohl damit die Produktionsbedingungen eines Sammelbands natürlich geflissentlich gegen den Strich gelesen werden. Da es letztlich erfrischend ist, dass auch die Beiträge diese Unterscheidung relativieren, fällt es nicht schwer ins Gewicht, dass von den dreizehn Artikeln, deren Gros sich der Tagung vom 3. bis 5. Dezember 2015 am Bielefelder Zentrum für Interdisziplinäre Foschung (ZiF) verdankt, nur sechs bezüglich der ‚Aufgabenstellung‘, Schrift im Bild zu thematisieren, ins Schwarze treffen (Cornelia Ortlieb, Friedrich Weltzien, David Ganz, Bernard Vouilloux, Sabine Mainberger, Martina Dobbe). Vielmehr künden schon die Titel der anderen Beiträge davon, dass sie lieber das produktive Spiel mit und, als, in oder auch den Ad-hoc-Kompositionen weitertreiben möchten, statt sich in die Schublade pressen zu lassen, die außen auf dem Cover steht: „Schriftbild und Bilderschrift“ (Günter Oesterle), „Schrift und Bild“ (Britta Hochkirchen) oder „Schriftbildlichkeit“ (Birgit Mersmann). Sybille Krämer macht in ihrem Beitrag „Das Bild in der Schrift“ überhaupt keinen Hehl daraus: „Die diesem Band zugrundeliegende Frage nach der ‚Schrift im Bild‘ wollen wir also umkehren, indem wir nach dem ‚Bild in der Schrift‘ fragen.“

Zum anderen wird mit dieser strikten Abgrenzung allerhand eingekauft – etwa ein äußerst enger Schriftbegriff mit der Festlegung auf scheinbar konstitutive Linearität, die Unterscheidbarkeit von Wichtigem und Unwichtigem sowie dem Vorliegen von grundlegend anderen Modi der Rezeption –, was jedoch – weitete man die Begriffsextension – beispielsweise für grafisches Erzählen selbst in ‚stummen‘ Einzel-Comicpanels (qua Bewegungslinien, Schattierungen etc.), definitiv aber spätestens dann, wenn klang- oder lautnachahmende Wörter (sogenannte ‚Onpos‘; häufig typografisch auffällig gestaltet) ins Spiel kommen, nicht gelten muss – auch diesen Einwand bringen mehrere Beiträge.

Was dem Band sein Alleinstellungsmerkmal und mithin seine herausgehobene Relevanz in den skizzierten Diskursen verleiht, ist daher weniger seine spezifische Verknüpfung der Haupttitelkomponenten, als vielmehr seine Zuspitzung auf die Rezeptionsästhetik. Denn obwohl sich auch diese Vorgabe nicht wirklich umfassend in allen Beiträgen spiegelt (s.u.) – erneut: aufgrund der Genese eines vieldimensionalen Sammelbandes absolut verzeihlich –, scheint mir durch die Einbeziehung der RezipientInnen ein Desiderat eingelöst zu werden. Wenn man sich nämlich für die strukturellen, analytischen etc. Bezugnahmen zwischen Text und Bild interessiert, wird man auf dem nahezu schon übersättigten Markt schnell fündig; auch wenn das Erkenntnisinteresse darauf zielt, wie individuelle KünstlerInnen beide Modalitäten verknüpfen, wird einem in der gut sortierten Bibliothek unverzüglich geholfen. Den Blick nun graduell von der Produzenten- und Artefakt- auf die Rezipientenseite eines behelfsmäßig simplen Sender-Empfängermodells zu verschieben, macht den Reiz aus.

Damit ist freilich nicht gemeint, dass es etwas genuin Neues wäre, die Rezeptionsgewohnheiten hinsichtlich Schrift und Bild zu eruieren – Derartiges als Pionierarbeit zu verkaufen, ist spätestens seit Gotthold Ephraim Lessings Abhandlung Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) überholt, auf die mehrere Beiträge implizit oder explizit zurückgreifen. Indem Lessing auf die Spezifika von Bild (gleichzeitiges Nebeneinander im Raum) und Text (Nacheinander in der Zeit) hingewiesen und damit die Literatur geadelt hatte, zementierte er zugleich eine folgenschwere Grenzziehung zwischen beiden Kunstdistrikten, die von der tatsächlichen Kunstproduktion aber immer wieder unterlaufen wurde und zumal in der Gegenwart permanent unterlaufen wird. Zeitstrukturen in der vermeintlich statischen Malerei, die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem und die Selbstreflexivität von zeitlich basierter Rezeption werden dabei allzumal dann interessant und forschungswürdig, sobald Schrift und Bild eine Synergieeffekte zeitigende Verbindung eingehen.

Genau deswegen verspricht die dezidierte Aufweichung der harten Grenze zwischen Horaz und Lessing Erkenntnismehrwert; und hier kommt auch die Titelgebung des hier rezensierten Bands wieder ins Spiel: Wenn Schrift im Bild in Erscheinung tritt, mischen sich nicht nur zwei ‚Künste‘, sondern notwendigerweise auch voneinander zumindest im Detail unterscheidbare Wahrnehmungsweisen, obwohl viele Beiträge genau dies auch wieder in Frage stellen. Wie sich nun die Rezeptionsbedingungen wandeln, wenn schon das jeweilige Kunstwerk selbst multimodale Anteile vereint, dieser impliziten Fragestellung trotz einer Schwerpunktsetzung um 1900 vom 15. Jahrhundert (etwa bei David Ganz auch früher) bis ins digitale Zeitalter nachzuspüren, dabei nicht eurozentrisch zu verfahren sowie eine immens breite Palette an behandelten Künsten, KünstlerInnen und methodischen Herangehensweisen einzubeziehen, sind die eigentlichen Verdienste des Arrangements von Gibhardt und Grave. Der ausgegebene Katalog an Fragen, auf die zu antworten der Band eingeladen hatte, umfasst etwa die folgenden, obgleich doch recht weitgefassten und damit hinter die Beschränkung („im“) zurückweichenden:

Gibt es vorgezeichnete Spuren und Richtungen, die darüber entscheiden, wie verschiedene Elemente des Bildes und der Schrift zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, oder eröffnen Schrift-Bild-Konstellationen kaum kontrollierbare Spielräume? Wie löst der Rezipient die Aufgabe, auf sinnvolle Weise zwischen den Rezeptionsmodi des Sehens und des Lesens hin- und herzuwechseln? Und wie kann das Zusammenspiel von Bildbetrachtung und Schriftlektüre den Rezipienten dazu anregen, die Temporalität seiner eigenen Wahrnehmung bewusst zu erfahren?

Wenn man nun vor diesem Hintergrund Haare in der Suppe (der Anlage des Sammelbands!) suchte, könnte man dreierlei anführen: erstens die doch relativ starke Verwurzelung der einzelnen Beiträge in den Artefakten. So spielt der Rezipient nur selten eine Haupt- (etwa bei Julie Ramos, Sabine Mainberger oder Britta Hochkirchen), bisweilen eher eine untergeordnete Rolle im Erkenntnisinteresse (etwa bei Helga Lutz). Freilich haben auch die Herausgeber diese Heterogenität auf dem Schirm und fügen um Kohärenz bemüht hinzu: „Neben den rezeptionsästhetischen Implikationen, die das gemeinsame Interesse der in diesem Band versammelten Aufsätze markieren, sind dabei auch andere Erscheinungsformen und mögliche Wirkungen hervorgetreten.“ Weiterhin, zweitens, die großflächige Aussparung kognitionswissenschaftlicher Erwägungen, obwohl sich langfristig vermutlich keine Rezeptionsforschung denken lässt, die sich der vermehrt aus diesem Forschungsparadigma sich speisenden Erkenntnissen verschließt. Und drittens die Beschränkung auf größtenteils zumindest aus heutiger Sicht ‚hochkulturelle‘ Untersuchungsgegenstände (Tobias Vogts Beschäftigung mit Marcel Duchamps stellt gewissermaßen eine popkulturelle Ausnahme dar) – so fehlt etwa die Sparte Comic/Graphic Novel komplett, obwohl sich dort sowohl hinsichtlich der Ästhetik als auch der Forschung zu grafischem Erzählen insbesondere in Hinblick auf Zeitstrukturen noch einiges Potenzial hätte bergen lassen.

Ungeachtet dieser Eintrübungen stellt die kursorische wie chronologische Gesamt-Lektüre der ausnahmslos auf höchstem wissenschaftlichen Niveau rangierenden Beiträge eine große Bereicherung dar – der Leser wird sich ob der Kurzweil nur in Ausnahmefällen der „Temporalität seiner eigenen Wahrnehmung bewusst“.

Titelbild

Boris Roman Gibhardt / Johannes Grave (Hg.): Schrift im Bild. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf Text-Bild-Relationen in den Künsten.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.
335 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783865256003

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