Schmerzmetaphern en gros

Marina Perezaguas Weltkarte des Leidens

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Muss sich Literatur dem Modus von TV-Kanälen angleichen, die jede Minute eine Katastrophe melden, um Einschaltquoten für sich verbuchen zu können? Mit Marina Perezaguas Roman Hiroshima hat sich das Haus Klett-Cotta für ein Buch entschieden, das Schmerzmetaphern und Szenarien menschlicher Qual in so großer Fülle enthält, dass damit sogar das Sensationsfernsehen ins Hintertreffen geraten würde. Die Autorin passt die persönlichen Leiderfahrungen der Protagonistin H. in eine Weltkarte des Schmerzes ein, die sich zeitgeschichtlich von 1945 bis 2014 erstreckt. H., die als Kind der Atombombe von Hiroshima ausgesetzt war, hat zudem das Schicksal zu tragen, als Hermaphrodit geboren und vielfach diskriminiert worden zu sein.

H. repräsentiert als hibakusha die Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und zudem die Minorität derjenigen, deren sexuelle Identität nicht eindeutig ist. Ihr späterer amerikanischer Lebensgefährte Jim leidet unter den Traumata seiner Gefangenschaft in japanischen Kriegslagern. Im Laufe der langjährigen Suche nach Jims Tochter Yoro (angelehnt an das spanische Wort „lloro“ für „ich weine“) wird H. in Afrika mit den Brutalitäten der Klitorisbeschneidung und den menschenverachtenden Bedingungen in den Minen für Uranabbau konfrontiert. Dort stößt sie schließlich auch auf die Fährte Yoros. Während sie vom Elend in den Kriegsgebieten erfährt und vom perfiden Treiben der UNO-Blauhelme, die sich an Kindern und Frauen vergehen, gewinnt H. am Ende der Erkundung traurige Gewissheit über Yoros Tod. Hoffnung keimt auf, als sie Kenntnis davon erlangt, dass die Verstorbene selbst eine Tochter geboren hat, deren Name ebenfalls Yoro lautet. H. spürt dieses aus der Vergewaltigung durch einen Afrikaner entstandene Mädchen schließlich in Goma auf. In einem von Kriegswirren zerstörten Zoo hilft die Enkelin, soweit sie es vermag, den zurückgelassenen Tieren. Die junge Yoro war zunächst als Touristenattraktion und Prostituierte im Zoo gehalten worden, als seltsame „Giraffenfrau“ mit Ringen um den Hals. Am Ende rächt sich H. an dem für Yoros Unbill schuldigen Blauhelmsoldaten. Sie setzt seine Zeltunterkunft, in der er mit zwei Kameraden Musik hört und Karten spielt, in Brand. Um ihr Gewissen zu besänftigen, visioniert die Protagonistin das Bild des vietnamesischen Mönchs Quan Duc, der sich aus Protest auf einer Straße in Saigon selbst anzündete.

H. erzählt ihre Geschichte aus der Perspektive einer Person, die angesichts der Grausamkeiten, die ihr und anderen Repräsentanten der ‚Schwachen‘ angetan wurden, den Vergeltungsschlag nicht bereut. Sie hat ihrer Enkelin Yoro eine Zukunft ermöglicht. Wie sie sagt, lag ihren Handlungen stets Liebe zugrunde. Gefasst sieht das einstige Opfer dem Urteil einer nicht näher bekannten Instanz entgegen, unterwirft sich dabei innerlich keiner Gerichtsbarkeit. Sie stellt die Legitimation der Einrichtung in Frage, sind doch viele Institutionen der Welt durch ihre Verstrickungen mit dem kapitalistischen System nicht immer vertrauenswürdig.

Die kurze Inhaltsbeschreibung verdeutlicht das Problem des Texts: Er ist überfrachtet. Wenn jedes Kapitel mindestens ein bekanntes tragisches Geschehen enthält, bei dem die Protagonistin meist persönlich anwesend war, fällt es dem Leser irgendwann schwer, echtes Mitgefühl zu entwickeln. Perezaguas Gräuelszenarien beschreiben zum einen die Krisen- oder Unrechtssituation als solche und zum anderen die Problematik der Macht- und Geschlechterverhältnisse. Zudem kommentieren sie die besondere Lage der H. als Hermaphrodit. Das ambitionierte Vorhaben der Autorin, eine Weltkarte des Leidens zu gestalten, die sich räumlich und zeitlich vom „Japan der Kriegszeit“ bis zum „Afrika von heute“ erstreckt, wirkt zu arrangiert. Ebenso überzeugt H. auf ihrem Rachefeldzug mit dem spektakulären mesolithischen Dildo kaum als schlüssiges Portrait einer hibakusha. Die Protagonistin hält an einer Stelle fest: „Die Geschichte ist nichts wert, wenn sie nicht aus einem Gefühl universellen Schmerzes heraus geschrieben ist.“ Anderenorts werden Maßnahmen der Vereinten Nationen einer Generalkritik unterzogen, denn „diese Missionen schicken Soldaten in den Kongo, die nur dafür da sind, Tote zu zählen und zuzuschauen. Sie sind die größten Gaffer der Welt, die Voyeure des Todes, im besten Fall und im schlimmsten Fall Macher der Perversion.“

Perezagua hat im Roman Hiroshima wohl alle ihr wichtigen Fakten, Leseeindrücke und Rechercheergebnisse zu einer Globalgeschichte des Unrechts, der Menschenverachtung und der Vernichtung zusammengeführt, um der Erkenntnis des Leids Nachhaltigkeit zu verleihen. Ihre Liste ist lang und reicht von der Atombombe über Kriegsverbrechen bis hin zur Psychiatrie und zum Missbrauch von Tieren. Das fast schon maßlose Aneinanderreihen von Schrecknissen und das Stakkato verstörender Metaphern verhindern die Immersion des Lesers. Ihm muss es widerstreben, solche wenig dem literarischen Format anverwandelten Fakten aufzunehmen, wie sich wahrscheinlich einige auch gegen die voyeuristische Tendenz sträuben, die dem Text innewohnt, obwohl er den Voyeurismus verdammt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Marina Perezagua: Hiroshima. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Silke Kleemann.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
374 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783608981360

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