Variablen der Sehnsucht

Saša Stanišićs brillant geschriebenes Buch „Herkunft“ dreht sich um Erinnerung und Erinnerungsverlust

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Großmutter, die aus Nierenbohnen die Zukunft liest, Drachen und Drachentöter, Nationalismus, Roter Stern Belgrad, eine Ziege, die in die Umlaufbahn des Mondes geschossen wird, Krieg, ein Land, das es nicht mehr gibt, eine Aral-Tankstelle in Heidelberg, eine Sprache, „die einen Kern hatte, hart wie der einer Pflaume“, ein Zahnarzt namens Dr. Heimat, das Verlöschung von Erinnerung. Die Antwort auf die Frage, um was es in Saša Stanišićs Autofiktion Herkunft geht, ist einfach und schwierig zugleich. Einfach deshalb, weil man lapidar antworten könnte: Natürlich geht es darin um Herkunft, Heimat, die Identitätssuche des Autors. Schwierig deshalb, weil Stanišić immer nur andeutet, was er mit dem Begriff „Herkunft“ verbindet – und das kann vieles sein. Eine eindeutige Antwort darauf kann und will er wohl auch nicht geben. Das aber macht seinen Text so sympathisch. Er tastet sich voran, springt vor und zurück und umkreist das Thema mal auf enger, mal auf weiter Umlaufbahn.

Obwohl er unglaublich farbenfroh und mitreißend erzählt, kommt die Reflexion nie zu kurz. Stets ist er sich beim Schreiben darüber bewusst, dass die Beschäftigung mit der eigenen Herkunft schnell in Heimattümelei abdriften kann. Fast schämt er sich, sich damit zu befassen: „Es erschien mir rückständig, geradezu destruktiv, über meine oder unsere Herkunft zu sprechen in einer Zeit, in der Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmale dienten, Grenzen neu befestigt wurden und sogenannte nationale Interessen auftauchten aus dem trockengelegten Sumpf der Kleinstaaterei. In einer Zeit, als Ausgrenzung programmatisch und wieder wählbar wurde.“ Obwohl Stanišić in die Vergangenheit zurückgeht, um mehr über seine Herkunft zu erfahren, hat er doch stets auch die Gegenwart im Blick, gegen deren Verwerfungen – vor allem hinsichtlich des Erstarkens nationaler Bestrebungen – er anschreibt.

Geboren wurde Stanišić 1978 in Višegrad im damaligen Jugoslawien, heute gehört die Stadt zu Bosnien und Herzegowina. Seine Mutter ist Serbin, sein Vater Kroate. Als 1992 der Bosnienkrieg ausbricht, flüchtet er mit seiner Mutter nach Deutschland, sein Vater und seine Großeltern kommen später nach. Der Neubeginn in Heidelberg ist schwer, doch die Familie ist froh, überhaupt noch am Leben zu sein. Halt geben Stanišić die Treffen mit anderen emigrierten Jugendlichen an einer Aral-Tankstelle: die „soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte“, wie er ironisch bemerkt. „Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch und wie man Autoradios wieder einbaut.“ Die neue Sprache ist sperrig, aber Stanišić saugt sie begierig auf; sie wird ihm mehr und mehr zur Heimat und er beginnt, erste Geschichten zu schreiben. Während er langsam Fuß im neuen Land fasst, befinden sich seine Eltern am Rand des sozial und körperlich Erträglichen. Seine Mutter „stirbt tausend heiße Tode in der Wäscherei“, sein Vater schuftet auf Baustellen in ganz Deutschland und ist nur an den Wochenenden zu Hause. 1998 müssen seine Eltern das Land wieder verlassen – sie gehen in die USA, weil ihnen die Abschiebung droht. Stanišić darf in Deutschland bleiben, weil er inzwischen an der Universität Heidelberg Slawistik studiert und deshalb eine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Seine Familie indes lebt heute über den ganzen Erdball verstreut: „Wir sind mit Jugoslawien auseinandergebrochen und haben uns nicht mehr zusammensetzen können.“

Besonders große Bedeutung kommt in Herkunft Stanišićs Großmutter Kristina zu, die er auf der Suche nach seinen Wurzeln mehrfach in Bosnien besucht. Von ihr erhofft er sich Auskunft über die Vergangenheit seiner Familie, vor allem über seine Großeltern und Urgroßeltern und die Orte, die prägend für sie waren. Das Problem dabei: Seine Großmutter leidet an Demenz und kann ihm nur noch spärlich die Informationen geben, die er sich von ihr erhofft. Herkunft ist in diesem Sinne auch eine Geschichte über die Unzuverlässigkeit und letztlich den Verlust der Erinnerung – und darüber, welche zum Teil tragischen Auswirkungen die Krankheit auf die Betroffene und ihr Umfeld hat. In den Worten Stanišićs: „Meine Erinnerungen sind Variablen der Sehnsucht. Großmutters Erinnerungen Variablen der Krankheit.“ Das Porträt der Großmutter ist brillant gezeichnet und gehört zum Eindrucksvollsten dessen, was Stanišić bisher geschrieben hat. Nie reduziert er sie auf die Krankheit, sondern er bewahrt stets seinen respekt- und liebevollen Blick auf sie als Person. Wie viel die Großmutter dem Autor bedeutet, zeigt auch die ausgekoppelte fiktionale Geschichte Der Drachenhort auf den letzten 60 Seiten des Buches, in der sie die Hauptrolle spielt. In ihr können die Leser zwischen zwei Varianten wählen, welchen Fortgang die Handlung nimmt. Die Machart erinnert ein wenig an Julio Cortázars Roman Rayuela, in dem man ebenfalls vor die Wahl gestellt wird, wie die Geschichte weitergeht.

Liest man Herkunft, mag man kaum glauben, dass Stanišić erst im Alter von 14 Jahren Deutsch gelernt hat, so funkelnd, farbig und brillant ist seine Sprache. Er setzt sie souverän ein und spielt mit ihr wie auch mit seinen Lesern. In seinem Roman Vor dem Fest (2014) oder den Erzählungen Fallensteller (2016) war das nicht anders. Eine Freude ist es außerdem, dem Autor in seinen zahlreichen Volten und Hakenschlägen zu folgen; Stanišić erzählt nicht linear, sondern springt munter zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin und her. Fast schon eine Poetologie seines bisherigen Schreibens liefert er mit den Worten: „Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“

Ein ganz klein wenig getrübt wird die Lesefreude einzig durch die zuweilen etwas unvermittelt eingeschobenen Sätze, in denen Stanišić die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Gegenwart kommentiert. Da heißt es unter anderem: „Welten vergehen, stellt man sich denen, die sie vergehen lassen wollen, nicht früh und entschieden in den Weg. Heute ist der 21. September 2018. Wäre am nächsten Sonntag Bundestagswahl, käme die AfD auf 18% der Stimmen.“ Das kommt, vor allem im Hinblick auf das eher poetisch angelegte Gesamtgefüge, dann doch etwas zu oberlehrerhaft und platt daher. In Anbetracht des restlichen herausragend formulierten Textes ist das jedoch leicht zu verschmerzen.

Titelbild

Saša Stanišić: Herkunft.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
356 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874739

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