Hysterie schlägt Historie

Hanno Rauterberg über Kunst und Kulturkampf in der Digitalmoderne

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gegenwartskunst als Schlachtfeld aktueller Kulturkämpfe – das ist das Thema von Hanno Rauterbergs Essay Wie frei ist die Kunst? Der Zeit-Journalist stellt eine fundamentale Verschiebung in der Bewertung von Kunstwerken fest. In der Moderne, behauptet der Autor, habe es eine Allianz zwischen bildender Kunst und progressiven gesellschaftlichen Vorstellungen gegeben, auch wenn sie nicht immer eingestanden wurde. Kunst und liberale politische Konzepte, besonders wo sie universalistischen Ansprüche formulierten, seien Hand in Hand gegangen: „Kunst war Aufbruch, Aufbruch war Befreiung, und so hatte die Kunst notwendig schrankenlos zu sein“. Und zwar für alle – Museen waren für eine allgemeine Öffentlichkeit da. Die gezeigten Kunstwerke wurden darum nach allgemein verbindlichen Kriterien ausgewählt, und das hieß: nach ihrem künstlerischen Wert und danach, wie sehr sie den erwünschten Aufbruch unterstützen konnten.

In der Digitalmoderne – unserer Gegenwart also – sei all das nicht länger der Fall. Wo früher ästhetische Maßstäbe angelegt wurden, um Kunstwerke zu beurteilen, reduziere man sie jetzt auf ethische. Noch dazu auf partikulare, formuliert aus dem Bewusstsein des Individuums oder einer besonderen Gruppe, die sich durch das Dargestellte verletzt fühle. Objektiv seien diese Kriterien nicht, argumentiert Rauterberg. Was wen verletze, reduziere sich auf das Element der persönlichen „Betroffenheit“. Das Fundament der Kritik sei „eine somatische Kunsterfahrung, uneinholbar von semantischen Einwänden“. Die Kunstwerke werden demnach nicht länger aus ihrem (kunst)geschichtlichen Kontext verstanden, sondern aus der jeweiligen Befindlichkeit der eigenen Person oder Gruppe heraus abgelehnt: Hysterie schlägt Historie.

Es bleibe aber nicht bei der Ablehnung der Kunstwerke. Die Kritik reiche bis zu Rufen nach einer „Zensur von unten“ und dem Verlangen nach geradezu stalinistischer Selbstkritik der Künstlerinnen und Künstler für ihre „Verfehlungen“. Überraschend daran ist für Rauterberg, dass ein Gutteil der Kritik keineswegs aus dem konservativen Lager kommt, von wo man sie seit jeher erwartet, sondern von Kräften, die sich selbst als progressiv und liberal verstehen, und die mit einem emanzipatorischen Anspruch auftreten.

Seine Diagnose macht Rauterberg an einigen spektakulären Beispielen fest, die noch aus Medienberichten der letzten Jahre präsent sind: Das Gemälde Open Casket der weißen US-Malerin Dana Schutz, die dafür attackiert wurde, dass sie den 1955 ermordeten schwarzen Jugendlichen Emmett Till porträtierte; ein Bild des verstorbenen Künstlers Balthus, auf dem – mit deutlich erotischen Untertönen – ein Mädchen am Rand der Pubertät zu sehen ist; der US-Schauspieler Kevin Spacey, der nach zahlreichen Vorwürfen sexueller Belästigung die Serie House of Cards verlassen musste und sogar aus dem schon fertig gestellten Film All the Money in the World herausgeschnitten wurde; das Gedicht ciudad (avenidas) des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer, das wegen Sexismus-Vorwürfen von einer Wand der Berliner Alice-Salomon-Hochschule entfernt werden musste.

Natürlich hat Rauterberg besonders bekannte Fälle gewählt, aber er sieht sie als symptomatisch, als Ausfluss einer auf die Spitze getriebenen Identitätspolitik, wie sie in jüngster Zeit auch von Francis Fukuyama und anderen kritisch diskutiert wird. Er bleibt aber nicht bei Kritik aus einem (mehr oder weniger) progressiven Spektrum stehen. Im letzten Kapitel werden auch islamistische Angriffe gegen Kunst und eine rechtspopulistische Verteidigung der Kunstfreiheit – eine Art „Das wird man doch wohl noch malen dürfen“ – thematisiert. Mehr noch: Es lasse sich beobachten, wie eine rechte Publizistik schon länger Strategien adaptiere, mit der in den 1960er bis 1980er Jahren eher die Linke operiert habe.

So weit, so evident. Oder? Einerseits leuchten die von Rauterberg angeführten Beispiele ein. Andererseits ist seine Argumentation löchrig. Die Moderne war kein Goldenes Zeitalter für die bildende Kunst. So monolithisch, wie der Autor sie macht, war die Kunst nie. Ein durchgehendes Bündnis der modernen Kunst mit dem Linksliberalismus hat es vielleicht in der alten Bundesrepublik und ein paar anderen westlichen Ländern gegeben. In Italien dagegen war der Futurismus sich nicht zu schade, ein Bündnis mit Benito Mussolini einzugehen, und dass die sowjetische Plakatkunst der frühen Jahre nicht länger wirken durfte, lag nur am Dogma des Sozialistischen Realismus. Beide Strömungen verstanden sich durchaus als politisch progressiv, und künstlerisch waren sie es allemal. Linksliberal waren sie nicht. Zudem ist es schlicht wahr, dass die Kunst – und die Museen als ihr Ausstellungsort – Frauen und Minderheiten lange einfach ausblendete oder kommentarlos unter „Allgemeinheit“ subsumierte. Ob die Einschränkung der Kunstfreiheit im Namen eines nebulösen „Wohlbefindens“ berechtigt ist, ist eine andere und durchaus berechtigte Frage.

Über dem „Regime der unguten Affekte“ gerät noch etwas beinahe aus dem Blickfeld – nämlich die mediale Basis, die den neuen Anfeindungen ihre Brisanz verleiht. Dass die Digitalisierung auch zur Bildung von Mikroöffentlichkeiten führt, zur Kritik in Echtzeit und dazu, dass die Beteiligten sich eher auf ihre Emotionen berufen als auf objektive Kriterien, beobachtet er zwar, aber diese Erregungsdynamiken gibt es nicht nur im Umgang mit Kunstwerken. Ein Shitstorm ist ein Shitstorm ist ein Shitstorm, ob er nun Dana Schutz trifft, die letzte Trainerentlassung bei Hannover 96 oder den Haarschnitt irgendeines C-Promis. Die rechte Vereinnahmung der Kunstfreiheit, die Rauterberg zu Recht beklagt, kalkuliert zudem bereits ein, wie digitale Öffentlichkeiten funktionieren. Sein Buch steht mindestens zwei Schritte dahinter zurück, weil es nur betrauert, dass nichts mehr ist, wie es war.

Wie frei ist die Kunst? kritisiert den Status quo, ohne den Hauch einer echten Lösung aufzuzeigen. Zwar endet Rauterberg mit der Beschwörung eines vagen utopischen Potenzials: „Die Kunst muss daran erinnern, dass ihre Freiheit anders ist als die ökonomische, politische, soziale. Ihre Freiheit ist eine die zu nichts verpflichtet und die nicht hilflos macht: eine Freiheit ohne Zwang“. Nun, wie soll das genau gehen, wenn die Digitalmoderne so ist, wie das Buch sie beschreibt? Darüber schweigt Rauterberg sich aus. So berechtigt und engagiert sein Buch ist, so ratlos lässt es die Leserinnen und Leser zurück.

Titelbild

Hanno Rauterberg: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
142 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127254

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