Die unerreichbar gewordene Welt

Rainer Wieczorek diskutiert die fragile Position des Künstlers in der Gesellschaft und bedient sich hochinformiert am literarischen Gattungsarchiv

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man die Werke eines Schriftstellers in ihrer Gesamtheit als vor allem eigenständiges Universum begreift, dann ist dasjenige des Darmstädters Rainer Wieczorek eines, das zunächst einmal paradox wirkt: In seiner (bisher) zweiteiligen, im Dittrich Verlag publizierten Werkausgabe trifft man auf Texte, die zunächst einmal auf eingängige, leichtfüßige, fast simplifizierende Weise eine Sogwirkung der leichten Lesbarkeit entfalten, die misstrauisch machen sollte. Nach einiger Zeit tritt das ein, was der Autor unzweifelhaft beabsichtigen muss: eine Art kritischer Rückstoß und regelrechte Deutungslöcher, die den Leser irritieren und ein gehöriges Maß an Fragen aufwerfen. Dabei ist es weniger die sprachliche Hermetik oder die Erzählkonstruktion, die diese Unruhe hervorruft, sondern vielmehr das seine Ästhetik auszeichnende Motiv des Künstlers in den Paradoxien der gegenwärtigen, von ökonomischen Funktionslogiken durchdrungenen Welt. Um das literarisch zu illustrieren, entwirft er kleine, für sich abgeschlossene Textmodelle mit je eigenem Plot und Figureninventar, die als völlig eigenständige Spiel- und Möglichkeitsräume zu gewinnbringenden Diskussionen einladen.

Im ersten Werkteil Drei Künstlernovellen versucht sich ein ehemaliger Schriftsetzer am Aufbau eines Archivs und will die umfassende Sammlung eines befreundeten, recht unkonventionellen Künstlers einer allerdings maximal desinteressierten Öffentlichkeit zugänglich machen. Der Anspruch eines lebendigen „antwortenden“, aber räumlich begrenzten Archivs wird jedoch durch ein neues Klangprojekt, das die Geräusche der Natur technisch zu verstärken sucht, torpediert, was die grundsätzliche Frage der Archivierbarkeit von Kunst im digitalen Zeitalter aufwirft (Zweite Stimme). Auch die bereits als Hörspiel erschienene Tuba-Novelle fragt – anders akzentuiert – nach der Rolle der Kunst in der spätmodernen Gesellschaft und porträtiert einen Essayisten, der beim Verfassen eines Textes über Samuel Beckett von den Tönen einer Tuba in der Nachbarswohnung gestört wird. Anhand dieser Minimalsituation arbeitet sich Wieczoreks Text an der umfassenden Metaphorik dieser Störung ab und fragt auf einer Metaebene nach den Entstehungsbedingungen von Kunst in einer zerstreuungs- und ablenkungsaffinen Informations- und Konsumgesellschaft: Ist sie fruchtbar und bringt die Inspiration erst hervor, vernichtet sie den Schaffensimpuls oder ist beides auf dialektische Art und Weise miteinander verschränkt? Am Ende steht schlicht die rezeptionsbezogene Irritation, gehen Essaytext und die Interpretation des gehörten Musikstücks doch weitgehend fluent ineinander über und bringen gewissermaßen eine neue Form der Kunst hervor.

Diesen experimentellen Gestus verfolgt Wieczorek auch im dritten Text, der zwischen wissenschaftlichem Text und literarischer Bearbeitung changiert und der Möglichkeit eines Theaterstücks ohne Publikum nachgeht: Die durch ihr Sujet verstärkte Isolation der Dramatik Becketts wird so zum Vorbild einer privat gewordenen Kunst, die das Intime, Weltabgewandte will und sich der permanenten Außenbewertung durch fortwährende Besprechung zu entziehen sucht. Die daran teilhabenden und dies mit analysierenden Studierenden verweisen am Ende jedoch auf die performativen Widersprüche, die einen solchen Anspruch des Gesellschaftsausschlusses begleiten (Der Intendant kommt).

Auch Wieczoreks zweiter Werkteil Zwei komplementäre Novellen verzichtet keineswegs auf die literarische Darstellung von tiefgreifenden Widersprüchen: Er beginnt mit der Geschichte eines deutschen Schriftstellers, der – wohlsaturiert seinen Ruhestand genießend – auf einem englischen Anwesen seinen scheinbar asketisch-reduzierten Lebensabend einleitet. In der Sorge um den Fortbestand und das Wirken der Literatur über seinen Tod hinaus – ein weiteres Grundmotiv Wieczoreks – sucht er nach konkreten Mitteln und Wegen, um das kollektive Gedächtnis zu retten. Auf der Grundlage seines Reichtums, mit dem er das Deutsche Literaturarchiv in Marbach und die technische Entwicklung neuer digitaler Speicherformate unterstützen will, wirft der Text grotesk wirkende Fragen auf: Abgekoppelt durch die eigene ökonomische Position und den damit einhergehenden privilegierten Status, geschützt von der festen Gartenform von „Kreis und Quadrat“ gegenüber einem unberechenbaren Außen soll er zum gesellschaftsintegrierenden Akteur werden? Oder ist es gerade seine unabhängige, wirtschaftlich potente Rolle, die das Überleben von Kunst und Literatur erst möglich macht?

Die Auswirkungen des Ökonomischen auf den Kunstbetrieb weiter diskutierend, skizziert die zweite Novelle Form und Verlust das Leben einer Künstler-WG, in deren Zentrum der bildende Künstler und Maler Senckmann als Förderer von Nachwuchskünstlern stand. Mit seinem Tod und dem Auszug seiner ehemaligen Mitstreiter greifen Sorgen vor dem Verfall und der Übernahme des Hauses durch die Stadt um sich. Die scheinbare Rettung des Hauses durch einige Musikstudenten – als Gedenkstätte –entpuppt sich allmählich als profitorientiertes Vorhaben; das Haus wird für Touristen zugänglich gemacht, die Kunstwerke Senckmanns verkauft.

Tritt man einen Schritt zurück, ist Wieczoreks übergreifendes Formenspiel mit der Novellengattung keinesfalls ein reines Anspielen mit dünnem methodischen Fundament, sondern ein vielmehr ausgereiftes ganzheitliches Abarbeiten an ihrer Form: Alle Texte zeichnet so das für die Novelle charakteristische Kreisen um ein thematisches Zentrum und die exemplarische Bedeutung ihrer Geschichte aus. Wieczoreks Texte sind in diesem Sinne subtile, hochgradig durchkomponierte und parabelhafte Erzählmodelle, die sich – Form und Inhalt verschränkend – um das Widersprüchliche von Kunst und Gesellschaft drehen und neue Möglichkeitsräume der Interpretation zu öffnen versuchen. Diese ambitionierte Auseinandersetzung mit künstlerischen Lebensformen greift dazu auf eine Sprache zurück, die in äußerster Klarheit und dennoch mit diversen Hallräumen der Offenheit ausgestattet die skizzierten Widersprüche als Widersprüche zur Geltung bringt – ohne selbst die Lösung der Dissonanzen vorwegzunehmen. Verbunden mit der von Verlagsseite vorgenommenen sorgfältigen und hochwertigen typografischen Realisierung der Texte, die Wieczoreks Werkausgabe auch zu einer visuell und haptisch überzeugenden Leseerfahrung machen, ist man hier mit Literatur im besten, Unruhe stiftenden Sinne konfrontiert.

Titelbild

Rainer Wieczorek: Werke 1. Drei Künstlernovellen. Zweite Stimme / Tuba-Novelle / Der Intendant kommt.
Dittrich Verlag, Berlin 2018.
338 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783943941791

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Titelbild

Rainer Wieczorek: Werke 2. Zwei komplementäre Novellen. Kreis und Quadrat / Form und Verlust.
Dittrich Verlag, Berlin 2018.
336 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783943941807

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