Hamlet – eine Reisebeschreibung?
Peter W. Marxʼ Studie über das „Sehnsuchtsstück“ der Deutschen
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVersprochen wird dem Leser eine Kulturgeschichte, geliefert wird am Ende eine Rezeptionsgeschichte. Sie gilt William Shakespeares Tragödie über den dänischen Königssohn Hamlet, der – wie so viele andere Theaterfiguren des großen Elisabethaners – längst zum Weltbürger geworden ist, aber von uns Deutschen in besonderer Weise in Anspruch genommen wurde und wird. Peter W. Marx ist mit seiner Studie aufgebrochen zu einer theaterhistorischen Tour d’horizon, um unser so wechselhaftes wie inniges Verhältnis zu dem zwischen Melancholiker und Tatmenschen changierenden Dänenprinzen einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Nicht zu übersehen ist das Bemühen, das spezifisch Deutsche an der Rezeption des Bühnenklassikers in einen sich wandelnden kulturgeschichtlichen Kontext einzupassen, was so viel bedeutet, als dass uns Marx immer wieder auf durchaus spannende politische und mentalitätsgeschichtliche Exkursionen mitnimmt. Dass dabei gelegentlich Hamlet aus dem Blick gerät und dafür andere Helden aus Shakespeares Theaterkosmos plötzlich auftauchen, so beispielsweise ein Coriolan oder ein Lear, das mag zunächst irritieren, aber Marxʼ von profunder Sachkenntnis befeuerter Erzähleifer entschädigt allemal für solche Um- und Seitenwege.
Marx, Professor für Theater- und Medienwissenschaften in Köln und Direktor der Theaterwissenschaftlichen Sammlung, tut, was sonst Archivare gerne tun: er zelebriert Archivalien, chronologisch sortiert und je rarer und kurioser, desto hingebungsvoller. Er hat sich jetzt nicht zum ersten Mal mit der Omnipräsenz des berühmten Zuwanderers im kollektiven Kulturgedächtnis befasst, erinnert sei an das 2014 erschienene dickleibige Hamlet-Handbuch, als dessen Herausgeber er fungierte. Es ist klar und jeder Theaterbesucher weiß es längst, Hamlet kommt einfach nicht aus der Mode, er bleibt ein Wiedergänger und Dauergast auf unseren Bühnen, obschon er uns immer wieder, dank der interpretatorischen Begabungen der Regisseure, als Novität annonciert wird. Marx versteht es, all die Masken- und Dekorationswechsel sowie die damit einhergehenden Wahrnehmungen und geistigen Verortungen, die uns seit mehr als zweihundert Jahren präsentiert wurden, in aller Anschaulichkeit zu rekonstruieren.
Womit sich auch die Frage stellt, was in Hamlets intellektueller und psychischer DNA mit der unsrigen und derjenigen früherer Generationen kompatibel oder verwandt sein mag, dass wir nicht davon ablassen wollen, stets aufs Neue in den Hamlet-Spiegel zu schauen, um uns dann selbst zumindest stückweise zu erkennen. Sind wir also alle irgendwie Hamlet und sogar noch genderübergreifend, wie uns die Bühnengeschichte mit männlichen wie weiblichen Hamlets vor Augen führt? Ständig passt sein Bild zu unseren Befindlichkeiten – Hamlet, ein Meister der Ambivalenz und Ambiguität? Seit er vor mehr als vierhundert Jahren zum ersten Mal die Bühne betrat, ist er eine Projektionsfläche für uns.
Shakespeare war nie völlig in Vergessenheit geraten, aber Ende des 18. Jahrhunderts erlebte er einen kometenhaften Aufstieg, um sogleich als Leitbild und Idol einer neuen literarischen Bewegung mit Namen „Sturm und Drang“ gefeiert zu werden. An Shakespeares Comeback hatte auch sein trauriger Held Hamlet einen erkennbaren Anteil. Jedenfalls war der Theaterspielplan fortan ohne Shakespeares Tragödien und Komödien nicht mehr denkbar. Wir Deutschen schlossen den Dramatiker (und nicht allein Hamlet) so sehr in unser Herz, dass wir ihn noch als einen der unsrigen reklamierten. Das besondere Interesse an Hamlet erklärt Marx so: „Hamlet, der Zweifler und Skeptiker, figuriert nachgerade idealtypisch als Prisma des Verlusts solcher Fraglosigkeiten und ist daher – so die Hypothese dieses Bandes – immer wieder an Kreuzungspunkten historischer Entwicklungen aufzufinden.“ Ist Hamlet also eine Art Lackmustest für Umbruchs- und Wendezeiten, für Zeiten allgemeiner Verunsicherung? Solche Verknüpfungen zwischen Bühne und zeitgeschichtlichen Wegmarkierungen gelingen Marx in einigen Fällen überzeugend, aber für die Zeit um 1800 scheint seine Hypothese nicht das rechte Futter gefunden zu haben. Denn zum einen erklärt sich Shakespeares triumphales Comeback, wie gesagt, aus damals aktuellen theaterästhetischen Gründen eines sich vom klassizistischen Drama abwendenden neuen Darstellungsstils, für den Johann Wolfgang Goethes Ausruf „Natur! Natur! Nichts so Natur als Shakespeares Menschen“ zum Emblem wurde; zum anderen scheinen sich in der Flut der Hamlet-Inszenierungen vor allem aufklärerisch dominierte Diskurse zu kreuzen, so die zwischen Faszination und Peinlichkeit schwankenden Geisterszenen.
Die Gespensterfrage nimmt bei Marx breiten Raum ein. Markiert sie ursprünglich noch einen religiösen Konflikt, so hat die Aufklärung daraus eine spiritistische Performance gemacht und Religion gewissermaßen durch Ästhetik ersetzt. Marx scheint ebenfalls das Theaterarchiv spiritistisch zu reanimieren, indem er mit minutiöser Ausführlichkeit berühmte Hamletdarsteller aus der Zeit um 1800 auftreten lässt. Bei seinen Erzählungen muss er sich naturgemäß auf das verlassen, was die Zeitgenossen darüber mitzuteilen hatten und als Überlieferung erhalten blieb. Historiker sind in dieser Hinsicht, mag die Quellenlage noch so opulent sein, auf die menschliche Kunst der Empathie angewiesen. Wie haben Hamletdarsteller auf ihr Publikum gewirkt? Wie würden sie auf uns wirken? Zum Vergleich sei hier Albrecht Dürers berühmter Holzschnitt eines Rhinozeros erwähnt. Der Künstler hatte sich auf die Berichte von Reisenden gestützt, selbst hatte er nie ein solches Tier gesehen. Wie ein Rhinozeros wirklich aussieht, wissen wir heute besser. Mit der tatsächlichen Bühnenwirkung eines Garrick oder Schröder in jenen Geisterszenen dürfte es sich ähnlich verhalten. Den kulturgeschichtlichen Wert schmälert das indes nicht.
Worin sich letztlich alle Rezeptions- und Inszenierungsgeschichten gleichen: Je ferner die zu betrachtenden Epochen liegen, desto klarer und auch mutiger fallen die Charakterisierungen und Urteile aus. Das Typische erlangt mit einem entsprechenden zeitlichen Abstand offenbar mehr Kontur, weshalb all das, was erst gestern geschah eher unübersichtlich und unentschieden bleibt. Das heißt, das längst Vergangene erscheint in der Rekonstruktion konziser, plastischer als die jüngste Vergangenheit. So auch bei Marx: Die Analysen und Beschreibungen der Hamlet-Inszenierungen der letzten drei Jahrzehnte bleiben im Vergleich zu den vorangegangenen Kapiteln ein wenig oberflächlich, wirken eher ausgefranst als kompakt. Aber die Rezensentin hat sie als Anreiz dankend angenommen, um sie mit eigenen Erinnerungen und Assoziationen aufzufüllen (was für die meisten der erwähnten Inszenierungen seit Heiner Müllers hypertropher Version am Deutschen Theater von 1989 gilt). Der durchweg elegant geschriebenen Studie ist jedenfalls ein großes Lesepublikum zu wünschen, weil sie nicht nur mit einer Detailfülle prächtig unterhält, sondern zugleich Lust macht auf die nächste Hamlet-Inszenierung, denn nur auf der Bühne lebt Hamlet wirklich.
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