Globaler Handel, die Einsamkeit der Insel und das englische Parlament

„Robinson Crusoe“ und „Der Consolidator“, zwei Romane von Daniel Defoe, liegen in neuer Übersetzung vor

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein Vater hat ihn gewarnt: „Er erklärte mir, dass nur besonders arme oder besonders begüterte Menschen das Abenteuer in der Fremde suchten, um dadurch aufzusteigen oder sich durch Unternehmungen abseits der ausgetretene Wege einen Namen zu machen; diese Dinge seien aber entweder zu weit über oder zu weit unter dem, was meinem Stand angemessen sei“. Und dieser Stand, der Mittelstand, sei sowieso der beste. Aber der Junge hört nicht auf ihn, er will zur See fahren. Und gerät damit auch gleich wieder in den Mittelstand, arbeitet sich zum Plantagenbesitzer hoch, lernt den globalen Handel zwischen Amerika, Europa und Afrika ziemlich schnell und wird schnell wohlhabend.

Aber dann hat er doch Pech: Auf einer Fahrt nach Afrika, wo er Schwarze kaufen wollte, erleidet er Schiffbruch auf einer einsamen Insel. Jetzt beginnt die Geschichte, die wir als Robinson Crusoe kennen: wie er sich einrichtet, sich eine Höhle ausbaut, mit Palisaden bewehrt, wie er sich eine Ziegenherde verschafft und mit nur wenigen Werkzeugen Tische und Stühle, Töpfe und sogar ein Boot baut. Wie er auch die Religion neu entdeckt und beginnt, sich mit seinem Schicksal anzufreunden und das Gute daran zu sehen – immerhin hat er den Schiffbruch überlebt, und die Insel beherbergt weder Kannibalen noch wilde Tiere.

Vor 300 Jahren, im April 1719, ist dieser Klassiker erschienen. Daniel Defoe, geboren als Daniel Foe, Sohn eines Schlachters, sollte Kaufmann werden, war aber nicht erfolgreich. Stattdessen schrieb er und gab zeitweilig eine eigene Zeitschrift, The Review, heraus, organisierte im Auftrag der Torys ein Netz von Geheimagenten im schottischen Parlament, um die Union zwischen England und Schottland voranzutreiben. Dann hörte er von Alexander Selkirk: Der Steuermann hatte 1704 auf einem Schiff des Freibeuters William Dampier angeheuert, der im Auftrag der Krone spanische Schiffe überfallen sollte. Selkirk wurde mit Muskete, Pistole, Schießpulver, Beil, Messer, Navigationsinstrumenten, Topf und einer Bibel auf einer einsamen Insel ausgesetzt, weil er dem Kapitän zu renitent war. Fünf Jahre später wurde er von britischen Seeleuten gerettet. Diese Geschichte schmückte Defoe aus, sie wurde sofort ein Bestseller, weil hier ein bürgerliches Individuum geschildert wird, das sich aus eigener Kraft ein kleines Reich erarbeitet, mit Fleiß und einem genauen Arbeitsplan – so etwas wie der amerikanische Traum, inklusive positivem Denken: „Ich lernte, die positiven Aspekte meiner Lage wichtiger zu nehmen als die negativen, mich an dem zu freuen, was ich hatte, statt darüber zu grübeln, was mir fehlte, und mitunter bezog ich daraus so viel Trost, dass ich es nicht in Worte fassen konnte.“

Dieser Klassiker ist jetzt in einer neuen, seit langer Zeit erstmals wieder vollständigen Übersetzung auf dem Markt. Wer ein Kinderbuch oder eine Abenteuergeschichte erwartet, wird enttäuscht: Das Buch, aus Robinsons Perspektive geschrieben, ist für beides zu langweilig, denn es passiert nicht viel – die meisten Abenteuer geschehen vor oder nach dem Inselaufenthalt (Sklaverei, Stürme, Kampf gegen 60 Wölfe). Es ist vielmehr ein erstaunliches Buch der Reflektionen: über Gott und die „Wilden“, über das tätige Dasein und die Zufriedenheit. Zwar ist vieles davon zeitgebunden, wenn er zum Beispiel Freitag seinen neuen Namen zuweist und ihm die englische Sprache und die christliche Religion aufzwingt. Aber gleichzeitig relativiert er seine Stellung, wenn er über die Kannibalen nachdenkt: „Was hatten sie mir getan, und woher nahm ich mir das Recht, mich in ihren Streit einzumischen? Oft war ich mit mir selbst uneins, so auch über die Frage, wie ich wissen konnte, wie Gott in diesem speziellen Fall urteilen würde, denn offenbar sehen diese Menschen ihre Taten nicht als Verbrechen an.“ In den Versuchen, die einzig wahre Religion zu erklären, verheddert er sich so oft in seinen Satzkonstruktionen, dass man als Leser nicht weiß, ob darin nicht eine subtile Ironie versteckt ist. Bei Defoe, dem Satiriker, der sich vehement für die Religionsfreiheit einsetzte und dafür auch an den Pranger gestellt wurde, läge das nah.

Eine dieser Satiren ist Der Consolidator. Ganz in der Tradition von Ariost und Cyrano de Bergerac erzählt der politisch engagierte Defoe hier von einer Reise zum Mond und den Zuständen dort und in China – eine deutliche Reihe von Hieben auf das englische Parlament. 2016 ist das Buch schon einmal erschienen, in einem kleinen Verlag, das war die erste deutsche Übersetzung. Jetzt wurde es im Rahmen der Anderen Bibliothek neu übersetzt und in bekannt schöner typografischer Manier publiziert.

Der Consolidator oder Erinnerungen an allerlei Vorgänge aus der Welt des Mondes ist der Entwurf einer Gegenwelt zur Erde. „Consolidator“ ist der Name des etwas schwerfälligen Raumschiffs, mit Federn bestückt: 513 exakt identische, 256 links und 256 rechts und einer Steuerfeder in der Mitte. Was jedem damaligen Leser sofort klar machte, was dieses Buch war, denn das britische Unterhaus hat 512 Abgeordnete und einen Präsidenten – eine genaue, satirische Allegorie jener Zeit. Viele weitere Anspielungen sind versteckt, die erläuternden Anmerkungen versuchen sie aufzuschlüsseln, aber es ist doch recht mühsam, immer wieder nachschlagen zu müssen, und hemmt das Lesevergnügen ganz erheblich: Anders als bei Jonathan Swift ist diese Satire doch sehr zeitgebunden geblieben. Auch seine Übertragungen, wenn etwa die Anglikaner zu „Solunariern“ werden, die Katholiken zu „Abrogatziern“, die Dissenter (Protestanten, die sich wie Defoe von der Staatskirche distanzierten) zu „Crolianern“ und die große Revolution und der Spanische Erbfolgekrieg in ermüdender Parallelität stattfinden, mag man kaum noch weiterlesen. Zwar erfährt man einiges über die frühe Globalisierung, Probleme bei politischen Verhandlungen und diplomatische Logik, aber leider ist das Buch weder eine Satire, die, wie bei Swifts Gullivers Reisen, ins Allgemeinmenschliche geht, sodass sie noch heute frisch wirkt und mit Gewinn und Genuss zu lesen wäre, noch ist sie eine spannende Geschichte wie Robinson Crusoe. Der Consolidator ist nicht einmal ein richtiger Roman, sondern eher ein politischer Essay, mühsam in einer Geschichte versteckt, in Satzkonstruktionen, die kompliziert, lang und abstrakt sind. Warum die Andere Bibliothek ausgerechnet dieses Buch von Defoe übersetzt und herausgibt, ist nicht ganz klar.

Titelbild

Daniel Defoe: Robinson Crusoe.
Übersetzt aus dem Englischen von Rudolf Mast.
Mare Verlag, Hamburg 2019.
412 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482913

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Daniel Defoe: Der Consolidator. Oder: Erinnerungen an allerlei Vorgänge aus der Welt des Mondes.
Übersetzt aus dem Englischen, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Rolf Schönlau.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2018.
299 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783847704072

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