Raum ist im kleinsten Ärmel

Der tschechische Schriftsteller Michal Ajvaz widmet sich vergessenen Sphären auf den Hinterhöfen der Existenz und trifft auf ein wunderbar buntes Leben

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1949 in Prag geborene Michal Ajvaz zählt zu den eindrucksvollsten Schriftstellern der zeitgenössischen tschechischen Literatur. Unbeirrt ist er über Jahrzehnte seinem eigenwilligen Weg eines magischen Realismus gefolgt. Zur Zeit des „real existierenden Sozialismus“ in seinem Land hatte Ajvaz so gut wie keine Möglichkeiten, seine Bücher zu veröffentlichen. Er verdingte sich als Hausmeister und Nachtwächter, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

In Die Rückkehr des alten Waran sind 21 kürzere aber auch längere Geschichten versammelt, die allesamt lediglich mit einem Substantiv betitelt sind. Die Schlagworte als denkbar knappe Überschriften heben sich diametral ab von der atemberaubenden Phantastik, die sich in sämtlichen Erzählungen unverzüglich zu entfalten beginnen.

Der Ausgangspunkt dieser phantastischen Exkursionen liegt zumeist im grauen Alltag. In „Der Gartenwinkel“ etwa spaziert der Erzähler ganz unspektakulär in einer Prager Straße, als er aus einer Wohnung im Erdgeschoß Hilferufe vernimmt. Kurzentschlossen steigt er durch das geöffnete Fenster in die Wohnung ein und mit diesem der Not geschuldeten Übertritt beginnt die Dynamik einer völlig neuartigen Konstellation. Dem überraschten Flaneur bietet sich der Ringkampf einer jungen Frau in schwarzer Abendrobe mit einem Komodowaran (Varanus komodoensis). Beherzt greift er ein und es dauert etwas, bis er begreift, daß es der Waran war, der um Hilfe gerufen hatte. Es folgen abenteuerliche Begebenheiten in dichter Abfolge. Dabei spielen ein bislang unbekanntes Buch sowie eine unfreiwillige Reise eine Rolle. Letztlich endet die Erzählung in einer frappierenden Inversion, in einem unvorhersehbaren Rollentausch der Schicksale.

Von Ajvaz’ Texten geht eine schleichende Beklemmung aus, die dadurch noch verstärkt wird, dass keinerlei kommuniziertes Erstaunen über die unglaublichsten Konstellationen vorliegt. Vorkommnisse, die es eigentlich gar nicht geben kann, sind in organischer Weise mit der vertrauten Umgebung verbunden. Lakonisch erzählt und ohne affektierten Überschwang werden phantastische Begebenheiten in die Wirklichkeit eingebettet. Es beginnt sich eine Verschiebung von Raum und Zeit einzustellen. Geheimnisvolle Welten und Zusammenhänge tun sich auf, von denen der oberflächliche Zeitgenosse nichts ahnt.

In der kurzen Erzählung Die Welle wird diese unheimliche Doppelbödigkeit eindrucksvoll in Szene gesetzt. Ohne jegliche Hintergrundinformationen beginnt der Text mit einem nächtlichen Schiffbruch. Verzweifelt greift der Erzähler nach irgendwelchen Planken und schafft es, sich an einem Polstersofa festzuhalten. Er findet sich in einem bürgerlichen Zimmer wieder. In der Mitte des Wohnzimmers „sitzt der Stellvertreter Vosáhlo mit seinen Kindern und erzählt ihnen Albernheiten über das Leben“. Dem Ertrinkenden können sie nicht helfen, da sie ihn gar nicht wahrnehmen: „Wer achtet schon darauf, was in dunklen Ecken geschieht, wohin das Lampenlicht über dem Tisch nicht reicht, hinter den Sofalehnen?“. Und so bleibt der Hilfesuchende seinem Schicksal überlassen und treibt hinaus auf das Meer.

Diese originelle Verarbeitung von Räumlichkeiten bildet eines der zentralen Elemente in den Erzählungen aber auch Gedichten von Ajvaz. Dann kann ein bösartiger Fisch wie in Die Schreibmaschine die Wohnung heimsuchen und sich dort an allen möglichen Orten breit machen: „Dann kriecht er irgendwohin, ins Schuhregal, hinter die Kommode, in den Ärmel eines Pelzmantels im Kleiderschrank“.

Immer wieder begegnen dem Leser bekannte Schauplätze aus Prag wie etwa der Veitsdom, das Haus „Zu den zwei Sonnen“ in der Nerudová-Straße oder das Café Slavia. Ganz nebenbei fallen zuweilen Stichworte aus der Welt der Philosophie, werden Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Immanuel Kant bemüht. In der Erzählung Das Nichts philosophiert ein Prager Dandy und verrät gleichsam die gedankliche Konzeption des Schriftstellers Michal Ajvaz, der an der Philosophischen Fakultät der Prager Karls-Universität Ästhetik studierte: „Das ‚Nichts‘ ist für uns eine dunkle Sphäre hinter den Grenzen dieses ‚Etwas‘. Doch ist diese vergessene Sphäre tatsächlich Leere? Treffen wir nicht vielmehr in diesen übersehenen Ecken des Seins, auf den Hinterhöfen der Existenz auf ein wunderbar buntes Leben, dessen tote Schale das ‚Etwas‘ ist?“

In Ajvaz’ Erzählungen sitzt Franz Kafka an einem Tisch im Gespräch mit dem argentinischen Meister des literarischen Labyrinths Jorge Luis Borges. Und es scheint, als habe sie kein geringerer als der für seinen Hang zum Okkultismus und zur Magie bekannte Kaiser Rudolf II. persönlich geladen.

Es ist kaum zu glauben, dass im deutschen Sprachraum bislang keine Übersetzung wenigstens eines der Werke von Ajvaz vorgelegt wurde. Umso erfreulich ist es, dass sich mit Veronika Siska eine begabte Übersetzerin tschechischer Literatur dieser längst überfälligen Aufgabe angenommen hat.

Zu danken ist auch der gelungenen Kooperation des Klagenfurter Wieser Verlages und des Brünner Verlages Větrné mlýny (Windmühlen), die mit ihrem Gemeinschaftsprojekt der zehnbändigen Reihe Tschechische Auslese ihr Augenmerk auf weniger bekannte sowie bislang übersehene Autoren richten.

Titelbild

Michal Ajvaz: Die Rückkehr des alten Waran.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Veronika Siska.
Wieser Verlag, Klagenfurt 2018.
152 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783990293300

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