Der Platz im Zuschauerraum der Geschichte

In „Gegenlauschangriff“, einer Sammlung von Anekdoten aus dem letzten halben Jahrhundert, erinnert sich Christoph Hein an deutsch-deutsches Gegen-, Neben- und gelegentlich auch Miteinander

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor allem mit seinen  Romanen hat Christoph Hein, der am 8. April 2019 75 Jahre alt geworden ist, die deutsche Geschichte der letzten einhundert Jahre kritisch begleitet. Werke wie Horns Ende (1985), Der Tangospieler (1989), Landnahme (2004), Weiskerns Nachlass (2011) oder – in jüngster Zeit – Glückskind mit Vater (2016), Trutz (2017) und Verwirrnis (2018) sind beredte und berührende literarische Zeugnisse einer Zeit, in der es sich für Menschen als schwer erwies, ihre Individualität zu behaupten. Denn immer wieder sahen sie sich Ideologien gegenüber, die allesamt aufs Ganze der Menschheit gingen – ein Ganzes, dessen Glück zu wollen all jene „Ismen“ vorgaben, auch wenn sich ihre Vorstellungen von den Wegen in das zukünftige Paradies und dessen letztendliche Beschaffenheit deutlich voneinander unterschieden.

Nur eines war ihnen allen gemeinsam: Mit denen, die sich durch ihre großspurigen Heilsversprechen nicht davon abbringen ließen, ihren je eigenen Weg ins Leben zu suchen, kannten sie kein Erbarmen. Wer nicht für sie war, war gegen sie und wurde mit einem – gelegentlich paranoide Züge annehmenden – Hass verfolgt. Heins literarisches Interesse wandte sich immer wieder diesen Einzelgängern zu, ihrem Kampf mit den Grenzen, die ihnen ihre jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit setzte, ihren kleinen Siegen und großen Niederlagen. Mit der vorliegenden Sammlung Gegenlauschangriff, in die 28 Anekdoten Eingang fanden, liefert der Berliner Schriftsteller nun ein schmales, im eigenen Erleben oder im von Freunden und Bekannten ihm Berichteten wurzelndes Seitenstück zu der Jahrhundertchronik, die seine Romane, Erzählungen und Dramen darstellen.

Natürlich spielt der Untertiteltitel der Sammlung, Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Krieg, auf Heinrich von Kleists Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege an, die 1810 in dessen Berliner Abendblättern erschien und sich auf die Niederlage Preußens gegen Napoleon in der Doppelschlacht von Jena und Auerstädt bezog. Eine über die literarische Reverenz hinausgehende inhaltliche Korrespondenz zu dem mehr als 200 Jahre alten Text lässt sich freilich nicht feststellen. Hein bezieht sich mit seinem der Überschrift des Kleisttextes korrespondierenden Diktum vom „letzten deutsch-deutschen Kriege“ auf die Konfrontation der Supermächte im Kalten Krieg, dessen Frontlinie die beiden deutschen Staaten vier Jahrzehnte lang voneinander trennte.

Dass diese Trennung auch Auswirkungen auf den Gesellschaftsbereich hatte, in dem der Autor selbst überwiegend tätig war, wird in all jenen Texten des Bandes deutlich, die davon erzählen, welch wichtige Rolle Schriftstellern in einem Land zukam, dessen Informationsmedien staatlich gesteuert und damit höchst unzuverlässig waren. Dass die kritischen Autoren des östlichen Deutschland nach Wende und Wiedervereinigung sich nur widerstrebend in ihre neue Rolle fanden – die des Unterhaltungskünstlers, dem nun alles zu sagen erlaubt war, der aber kaum mehr hoffen durfte, mit seinen sprachlichen Einmischungen ernst genommen zu werden –, verdarb ihnen, die in der DDR von ihren Lesern genauso geschätzt wie von den staatlichen Organen gefürchtet wurden, nach 1990 für eine ganze Weile den Spaß an der errungenen Freiheit.

Und so finden sich neben Anekdoten, die sich mit den immer wiederkehrenden Schwierigkeiten eines die Verhältnisse nicht einfach hinnehmenden Autors beschäftigen, seine Bücher an der Zensur vorbeizubekommen, auch solche, die zeigen, dass es selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch Missverständnisse und Irritationen genug gibt im deutsch-deutschen Binnenverhältnis. Hatte Christoph Hein Anfang der 1990er Jahre noch prophezeit, dass der Prozess des Zusammenwachsens von Ost und West seiner Meinung nach Jahrzehnte benötige, so äußerte er jüngst in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung, wer seine damaligen Sätze heute wiederlese, dem müsse er als „verträumter Optimist“ gelten. Sein Fazit 2019 lautet: „Es geht derzeit überhaupt nicht voran, wir resignieren im Stillstand.“

„Die beidseitige Abneigung und der gereizte Widerwille wichen einem gleichgültigem Desinteresse“, ist deshalb sein Schluss bezüglich des gegenseitigen Verhältnisses von Westdeutschen und Ostdeutschen in der Gegenwart, zu dem er in der den Band beschließenden Anekdote kommt. Der kleine Text behandelt das Erlebnis einer Freundin, die während eines Kuraufenthalts mit zwei literarisch interessierten älteren Damen aus dem Südwesten Deutschlands Bekanntschaft geschlossen hatte. Die Antwort auf ihre an die beiden eifrigen Leserinnen gestellte Frage, ob man sich in deren kleinem Lektürekreis auch über ostdeutsche Autorinnen und Autoren austausche, war lapidar und sprach Bände: „Nein, so etwas interessiert uns nicht.“

Gegenlauschangriff hat schon vor seinem Erscheinen für einige Aufregung gesorgt. Inzwischen ist klar, dass die Sammlung von Erinnerungen an ein gutes Vierteljahrhundert deutscher Geschichte – zum Teil im geteilten, zum Teil im wiedervereinigten Land spielend – in der vorliegenden Form kein zweites Mal erscheinen wird. In zwei Fällen nämlich – der Aufarbeitung einer Begegnung mit dem Regisseur und Oscar-Preiträger Florian Henckel von Donnersmarck und Heins eigener Rolle, die er bei der Vorbereitung von dessen Film Das Leben der anderen (2006) spielte, sowie einem Spiegel-Gespräch, das er fälschlicherweise ins Jahr 1993 datierte, obwohl es erst 1998 stattfand – hat den Autor sein Gedächtnis wohl ein wenig im Stich gelassen. So sah sich Hein letztlich zu einer Korrektur seiner Äußerungen veranlasst, die auch in jede weitere Auflage der vorliegenden Anekdotensammlung Eingang finden wird. An der literarischen Qualität der vorliegenden 28 kurzen Texte sowie der Tatsache, dass sie deutsch-deutsche Befindlichkeiten der letzten Jahrzehnte pointiert zugreifend zum Ausdruck zu bringen vermögen, ändert das freilich nichts.

Titelbild

Christoph Hein: Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
123 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518469934

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