Verunsichernde Reisen in fiktionale Wirklichkeiten?

Christina Henss wandelt in „Fremde Räume, Religionen und Rituale in Mandevilles ‚Reisen‘“ auf den Spuren eines spätmittelalterlichen ‚Karl May‘

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Phänomen ‚Karl May‘ hat zwar in den letzten Jahrzehnten seine Bedeutung eingebüßt, das heißt die ‚Reiseerzählungen‘ des emsigen Sachsen gehört keineswegs mehr zur Grundausstattung der Bibliotheken Heranwachsender, gleichwohl ist das Ganze durchaus noch ein Begriff. Nun versuchte der Radebeuler ‚Reiseschriftsteller‘, nachdem klar war, dass diese Reisen von imaginärer Art waren, zumindest die Idee einer entsprechenden Herangehensweise an das Fremde als originell zu reklamieren – allerdings war dem bei weitem nicht so, denn ‚imaginäre Fahrten‘ sind bereits in der Antike überliefert worden.

Ein entsprechender ‚Vorläufer‘ solcherart entstandener Beschreibungen, die auf der geschickten Auswertung vorliegenden Textmaterials beruhten, war der spätmittelalterliche englische Ritter Hanns von Mandavilla (eben Mandeville), der im Prolog zu seinem Reisebericht behauptete, von den britischen Inseln aus die bekannte und weniger bekannte Welt bereist zu haben. In diesen Beschreibungen berichtete er von seinen Fahrten ins Heilige Land, den Pilgerstätten Palästinas und vor allem vom Fremden: Religionen, Sitten und unerhörten Fabelwesen.

Selbst aus gegenwärtiger Perspektive bieten die ‚Reisen‘ einen faszinierenden Ansatz, und angesichts des Umstands, dass erst im Laufe des 19. Jahrhunderts begründete Zweifel an der Authentizität des Beschriebenen aufkommen konnten, ist es sehr gut vorstellbar, inwieweit der zeitgenössische Kreis von Rezipientinnen und Rezipienten von den Beschreibungen dieser fremden Welten angetan war. Dies gilt trotz (oder gerade wegen) der keineswegs objektiven Herangehensweise. Eingenommen ist die Perspektive christlicher Weltsicht und Heilserwartung, die sich implizit wie explizit an einem göttlichen Plan orientiert. Präsentiert – und folgerichtig in vorliegender Publikation untersucht – wird eine vormoderne Sicht auf die Welt, die sich zunächst auf Jerusalem als Zentrum der Welt bezieht, das irdische Paradies unzugänglich im Osten verortet und die ‚Reisen‘ weniger als reale Fortbewegung denn als eine Art Erlösungsfahrt folgerichtig von Westen nach Osten führen lässt.

Bemerkenswert ist, dass das Interesse an dieser Art von Literatur im späten Mittelalter wie in der Neuzeit auch insofern vergleichbar ist, als die Zielgruppe für die entsprechenden Texte zwar durchaus über einen gewissen Bildungs- und Interessenhorizont verfügte, die entsprechenden Beschreibungen jedoch in keinem Falle nachvollziehen konnte. Für die Rezeptionsgeschichte der ‚Reisen‘ von Relevanz wäre überdies die Frage, ob die gelieferten Beschreibungen überhaupt als ‚authentisch‘ gelesen wurden oder ob nicht vielmehr – im Gegensatz zur Massenrezeption der May’schen ‚Reiseerzählungen‘ – von vornherein klar gewesen wäre, dass es sich um weitgehende Fiktion beziehungsweise ‚secondhand-Reisen‘ handelte.

Christina Henns geht solchen Rezeptionsfragen nur im weitesten Sinne nach und verbleibt damit im mediävistischen Kontext. In diesen Zusammenhang gehört aber natürlich auch die Frage der Verbreitung der ‚Reisen‘ im deutschen Überlieferungskontext oder ein Blick auf wesentliche Versionen, in denen Mandeville in deutscher Überlieferung vorliegt. Bei diesem Blick werden mittelalterliche Texte und ihre Verfasser beziehungsweise Übersetzer – Michael Velser und Otto von Diemeringen – vorgestellt werden. Eine wesentliche Ergänzung und Bereicherung hierzu ist der Umstand, dass zumindest die aussagekräftigsten Passagen der ‚Reisen‘ in einem synoptischen Anhang vorgestellt werden. Dies erleichtert nicht nur, den Argumentationsgängen der Autorin zu folgen, sondern bietet zumindest einen Anreiz, sich anhand der Textbeispiele intensiver mit jenen Mandeville-Adaptionen zu beschäftigen.

Dabei ist hervorzuheben, dass das Schema, mit dem die Verfasserin an die ‚Reisetexte‘ Mandevilles beziehungsweise eben seiner deutschen Adaptionen herangeht,  dessen Vorstellungen adaptiert hat. So werden nach den einleitenden Passagen ‚Textkorpus und Spezifika der Einzeltexte‘ vorgestellt, in denen die bereits erwähnten Grundlegungen und Vergleiche stattfinden. Expliziter auf die sich bietenden Probleme bezieht sich der zweite Hauptteil, in dem die relevanten ‚Forschungsfragen‘ gestellt werden. Gerade für die Adaption auch in aktueller, zeitbezogener Hinsicht relevant ist die von Christina Henss dezidiert thematisierte ‚Toleranz-Intoleranz-Debatte‘, in der sich mitunter zumindest irritierende Anklänge an aktuell anmutende Positionen finden lassen. Hierbei macht die Autorin deutlich, dass eine Betonung kulturell-religiöser Toleranz in Mandevilles ‚Reisen‘, wie sie insbesondere in der älteren Forschung erfolgte, sich offenkundig weit weniger von tatsächliche(n) Textgrundlage(n) als eher von wohlmeinenden Klischees ableiten lässt.

Dies weist die Verfasserin anhand der in den Texten erkennbaren Dämonisierung der Araber nach, in der die Verwendung unreflektiert übernommener Stereotype eben deutlich macht, dass zum einen keine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Fremden stattfindet, und es natürlich überdies keine authentische Reiseerfahrung ist, die sich auch in den hier thematisierten deutschsprachigen Adaptionen der ‚Reisen‘ niederschlägt.

Auch die in den erwähnten weiteren Großabschnitten behandelten Passagen beziehungsweise theologisch überprägten ‚Erfahrungen‘ erweisen sich eben nicht als ‚Er-Fahrungen‘ im Wortsinne, das heißt als die Niederschrift eigenen Erlebens, sondern folgen einer heilsgeschichtlich orientierten Meta-Ausrichtung, die die ‚Reisen‘ kennzeichnet, und die in ähnlicher Form als immer wieder zu beobachtende Scheinauseinandersetzung mit anderen Kulturen in den mittelalterlichen Literaturen quasi topisch aufgegriffen wurde. In erster Linie war in diesem Zusammenhang anscheinend die Verwendung von gewissermaßen ‚erkennungsritualisierten‘ Pattern von Bedeutung, durch die Erwartungshaltungen bedient werden konnten.

Dies wird auf Grundlage der ‚Reisen‘ (beziehungsweise. hier eben in erster Linie ihrer deutschsprachigen Adaptionen) immer wieder deutlich gemacht, und Christina Henss geht damit auf die von ihr in der Einführung monierten Desiderata der bisherigen Forschung dezidiert ein. So weist sie etwa darauf hin, dass die in den Texten immer wieder ins Zentrum gestellte Beschreibung fremder vornehmlich religiöser, aber im Kontext politischer Darstellungen auch staatstragender Rituale nicht im Sinne einen – zumindest bemühten – Objektivitätsansatz haben, sondern in den Rahmen einer heilsorientierten Abgrenzung des Heidnischen vom wahren Glauben zum Thema gemacht sind. Die Zweiteilung der ‚Reisen‘ aus dem Kernraum, der zugleich Heilsraum ist, in das Fremde und Bedrohliche, ist dementsprechend nicht im Sinne einer ethnologischen Exkursion angelegt, in der anhand der Matrix es Vertrauten womöglich Ähnlichkeiten mit dem dann nur anscheinend Anderen deutlich zu machen sind, sondern wird offenbar vollumfänglich der Idee von religiöser Rettung beziehungsweise Verdammnis unterworfen.

Wo das moderne Publikum vermutlich voller Spannung auf das Unvertraute und Neue warten würde, ging es – darauf weist die Verfasserin explizit hin – Mandeville und eben auch seinen deutschen Rezipienten in erster Linie darum, einen Abfall zu konstatieren. Dies wird anhand der ‚Übergangsepisoden‘ deutlich, deren Funktion einerseits durchaus in Binnenkritik an kirchlicher Realität (so wenn es um die Ungerechtigkeit dem Bischof Athanasius gegenüber geht oder um den ‚Hochmut‘ auf der ‚Sperberburg‘, die in diesem, auch geographischen Übergangshorizont verortet ist) besteht, in denen aber auch gänzlich Abstruses geschildert ist, wenn auf die unheilvolle Stadt ‚Toth‘, die irgendwo im Großraum Persien liegt, verwiesen wird, in der – quasi naturgesetzlich bedingt – Christen einfach sterben müssen. Hier ist zum einen die letzte Warnung im Wortsinne zu Stein geworden, darüber hinaus wird die Erwartungshaltung aufgebaut, dass es eigentlich dann noch schlimmer werden muss. Und nicht zuletzt und in erkennbarer Eitelkeit macht Mandeville mit dieser Grenzüberschreitung deutlich, welch unerschöpflichen Mut er doch besitzt. Und weitgehend unhinterfragt werden diese Wertungsmuster auch in den deutschsprachigen Bearbeitungen verwendet.

Grenzüberschreitungen sind in gewisser Hinsicht das Meta-Thema der ‚Reisen‘, wie die Autorin der Untersuchung immer wieder – explizit wie implizit – betont. Ziel ist allerdings eben nicht die Grenzüberschreitung um des Erkenntnisgewinns, sondern eine Selbstvergewisserung, die dann statuskonsolidierend sein soll. Dabei, und darauf weist Christina Henss immer wieder deutlich hin, waren die Reisen nicht so stupide angelegt, dass nicht doch immer wieder auch Aspekte der Offenheit bisweilen sogar Anerkennung des Anderen erkennbar wären. Sowohl der mongolische Großkhan als auch der Kalif von Bagdad etwa werden durchaus differenziert dargestellt; ein Kunstgriff, durch den nicht zuletzt auch der Langeweile des Publikumskreises vorgebaut werden kann. Damit steht zu vermuten, dass das Unterhaltungsbedürfnis zumindest eine nicht unwesentliche Teilmotivation gerade auch für die verschiedenen Bearbeitungen der ‚Reisen‘ dargestellt haben dürfte.

Und somit weisen auch diese in der vorliegenden Publikation untersuchten deutschsprachigen Bearbeitungen der ‚Reisen‘ auf erhebliche Nachfrage für diese Art von ‚Erkenntnisliteratur‘ hin. Eines der Motive für Bearbeitung wie auch passive Rezeption war dementsprechend zwar wohl auch im Staunen an der fremden Welt begründet, nicht zuletzt aber auch darin, die eigene Weltsicht in gewissermaßen überdimensionaler Ausprägung bestätigt zu finden und über diese vermeintliche Authentizität des Fremden das Eigene zu manifestieren.

Derlei ist zurzeit auch gesellschaftspolitisch überraschend aktuell, und zwar in einer Weise, die zumindest vor dem Jahrtausendwechsel kaum für möglich gehalten worden wäre. Publikationen wie die vorliegende sind damit – ob gewollt oder doch eher zufällig – ‚zeitgeistig‘ und können damit auch den Blick auf die Wertungen vom ‚Anderen‘, in welcher Weise dieses auch auftreten mag – in den Kontext einer weiter reichenden Geistesgeschichte stellen. Das ist allerdings ein nur sekundärer Effekt, der gleichwohl nicht zu gering zu achten ist.

Die Komplexität der Reisen ist daher wohl auch ein wesentlicher Anreiz sowohl für die verschiedenen bearbeitenden Übertragungen als auch die moderne Beschäftigung mit diesen Texten gewesen. Zuvorderst verdeutlicht Christina Henss, dass die Parameter der Bewertungen von Andersartigkeit sich in den entsprechenden mittelalterlichen Texten sehr wohl greifen und darstellen lassen, und dass diese einem Muster folgen, das durch manche der literarischen ‚Annäherungen‘ eher im Sinne einer paradoxen Kontrastierung verstärkt werden. Interessant auch, auf welches (weitgehend) zeitgenössische Echo Mandevilles gestoßen ist. Die hier untersuchten deutschsprachigen Adaptionen eines englischen Texts machen deutlich, wie hoch das Interesse an diesem Sujet gewesen sein muss. Bemerkenswert auch, dass – wenngleich unter anderen Aspekten – diese beziehungsweise vergleichbare Interessenskonstellationen immer noch greifbar sind. Der eingangs bemühte Karl May folgt ja weitgehend, ohne dass von einer Kenntnis der ‚Reisen‘ oder vielmehr ihrer deutschen Be- und Überarbeitungen auszugehen wäre, den Mustern, die bei Mandeville angelegt sind. Literatur als Vehikel der Selbstvergewisserung durch einen Kontrast mit dem Fremden war anscheinend (und ist es wohl noch immer) ein durchaus probater Weg.

Es geht hier aber nicht um Karl May, sondern um die Präsentation eines interessanten Textkonvoluts, das erkennbar mehr über die eigene, europäische Welt(sicht) als über die tatsächlichen Verhältnisse im vorder- beziehungsweise zentral- und ostasiatischen Raum aussagt. Der Verweis auf die Forschungslage, aber eben auch die Desiderate machen das Buch zu einem lesenswerten Phänomen. Die gewählte Herangehensweise lässt – wie bereits angedeutet – durchaus auch einen Blick in die Gegenwart zu. Die Synopse ausgewählter Textstellen macht den Zugang zum Thema leichter und ist einer der Pluspunkte des Buches. Die umfangreiche Bibliographie sowie ein adäquates Register steigern den ‚Gebrauchswert‘ in dankenswerter Weise. Und für die optische Auflockerung des doch recht umfangreichen Werks sorgen die Abbildungen originaler Manuskriptseiten. Das Buch wird also – nicht nur für ‚Reiselustige‘ – seinen Wert nicht nur grundsätzlich haben, sondern durch wiederholtes zu-Rate-Ziehen sicherlich noch steigern.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christina Henss: Fremde Räume, Religionen und Rituale in Mandevilles Reisen. Wahrnehmung und Darstellung religiöser und kultureller Alterität in den deutschsprachigen Übersetzungen.
De Gruyter, Berlin 2018.
613 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110537529

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