Leonardos Leben in einer nahezu klassischen Biografie

Bernd Roeck zeigt, was man über den Renaissance-Meister wissen kann und was nicht

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Biografien über Leonardo da Vinci gibt es viele. Der Mann und seine vielfältigen Werke faszinierten schon seine Zeitgenossen. Dies machte ihn zum begehrtesten und teuersten Künstler seiner Zeit, neben Michelangelo und Raffael. Und das hat sich bis heute kaum geändert. Der 500. Todestag des linkshändigen Universal-Kritzlers, Technik- und Bildpioniers wird nun als großes Jubiläum begangen mit Ausstellungen, Publikationen und Sendungen aller Art. Dabei sind doch Todestage eigentlich eher keine Jubelfeieranlässe, vielleicht eher Tage stilleren Erinnerns. Doch unsere von großen runden Zahlen angeturnte Mediengesellschaft nimmt, was sie bekommen kann, um große Männer zu feiern oder sich bestenfalls ihrer kulturellen Ressourcen und Anknüpfungspunkte zu versichern. Und so erschien jüngst, wenig überraschend, ein Schwung neuer Leonardo-Biografien. Die damit ins Rennen gegangenen Autoren und Verlage versuchen meist, sich im Aufmerksamkeitsgedrängel mittels griffiger Untertitel eine unique selling proposition zu verschaffen.

Volker Reinhardt, der im schweizerischen Freiburg wirkende Renaissancehistoriker, setzt auf das Auge als empirisches Zentralorgan des sinnesverhafteten Künstlers im weithin übersinnlichen Zeitalter und stilisiert seinen Leonardo zudem als Rebell gegen damaligen Mainstream. Kia Vahland, Kunstkritikerin der Süddeutschen Zeitung, fokussiert auf die Frauendarstellungen des Künstlers, den sie als Protofeministen erkennen möchte. Der amerikanische Biografien-Spezialist Walter Isaacson, der schon Steve Jobs, Benjamin Franklin und Albert Einstein biografisch zu Leibe rückte (fraglos allesamt Big Names aber gewiss keine Renaissancemenschen), macht es nicht unter Die Biografie und frönt dabei einem eher antiquierten Geniekult.

Schon in Titelwahl und Einführung merkt der Leser, dass er mit Bernd Roecks Leonardo-Buch wenig falsch macht: Der Mann, der alles wissen wollte trifft diesen Suchenden ziemlich gut, der so vieles anfing und so weniges zu Ende bringen konnte, dann freilich meist höchst vollendet. Und ebenso wie Reinhardt ist Roeck, emeritierter Geschichtsprofessor der Zürcher Universität, ein Spezialist für die Renaissance, besonders für die Mäzenats- und Patronageverhältnisse in der damaligen Kunstwelt. Beste Voraussetzungen also für ein wissens- und faktengesättigtes Buch zu einer Persönlichkeit, über die trotz ziemlich umfassenden historischen verbürgten Daten und überlieferten Schriften doch zugleich reichlich Legenden und nicht belegbare Mythen im Umlauf sind. Nun werden die Leser in Roecks Buch auf angenehm reflektierte Weise, unter Verwendung nur weniger Superlative (was angesichts dieses Gegenstands nicht so einfach zu sein scheint) von einem ausgezeichneten Kenner der Sozial- und Wissensgeschichte der Renaissance an die Hand genommen und durch Leonardos Leben geführt.

Wie es sich für einen Historiker vom Fach gehört, werden eingangs die Forschungslage und die offenen Fragen auf knappstem Raum referiert. Wobei natürlich bei einer dermaßen viel beforschten Figur wie Leonardo der Forschungsstand keinesfalls in Einzelreferate ausufern darf, sondern nur ganz grob kartiert werden kann. Es folgen, wie man es von einem literarischen Porträt erwarten darf, die Erzählungen der Hauptereignisse einzelner Lebensphasen, bevor zum Abschluss versucht wird, das Besondere, Einzigartige und Charakteristische dieser Persönlichkeit gewissermaßen synthetisch aus dem vorhergehenden narrativen Curriculum zu extrahieren. Roeck, eminenter Connaisseur der italienischen Renaissance, über die er vor zwei Jahren eine gewichtige Gesamtdarstellung Der Morgen der Welt publizierte, führt sein Portrait in diesem Sinne souverän und mit großer Gelassenheit aus.

Leonardo ist zugleich derjenige Renaissance-Künstler, über den man am meisten weiß, von dessen Schaffen aus eigener Feder wie von Zeitzeugen wohl am meisten überliefert ist – und über den zugleich aufgrund seiner in so viele Gebiete ausgreifenden Bilder, Skizzen, Reflexionen und Entwürfe, vielleicht auch aufgrund seines Humors und womöglich auch wegen seiner wahrscheinlichen Homosexualität, die zu eigenen und fremden Couvrierungen geführt haben könnte, doch so viele Rätsel und Spekulationen überliefert sind, wie über kaum einen anderen Künstler. Seine Werke hat er weder signiert noch mit Jahresangaben versehen, sodass schon im Hinblick auf Zuschreibungen und Datierungen viel Raum für Ungewissheit und Vermutungen eröffnet wurde.

Die Proportionen von Roecks Leonardo-Biografie überzeugen. Umsichtig eingebettet in seine Epoche wird Leonardos Wirken, und doch auch markiert, wo er exzentrisch, idiosynkratisch aus dieser herausragte oder quer zu ihr stand. Roecks Balance von Gestalt und Hintergrund möchte man als klassisch ausgewogen bezeichnen. Ihm gelingt hier gleichsam eine Art goldener Schnitt der Künstler-Biografik, wenn er seinen 370 Textseiten 30 Seiten knapper Anmerkungen, 30 Seiten mit bunten Hochglanz-Bildtafeln (dazu kommen noch einige Schwarz-Weiß-Abbildungen auf dem Normalpapier) und 15 Seiten Literaturverzeichnis beifügt.

Progammatisch deklariert gerade der Kenner seiner Materien als Ausweis seiner wissenschaftlichen Darstellung, wie sein Gegenstand von Wissen beleuchtet gleichwohl auch von Unwissen verschattet werde: „Wir wollen nicht nur berichten, was man weiß, sondern ebenso, was man nicht weiß. Stets sollen die Probleme, die sich aus der Existenz einander scheinbar widersprechender Quellen ergeben, nachvollziehbar bleiben – so bei dem Rätsel der beiden Versionen der ‚Madonna in der Felsengrotte‘ oder dem Rätsel der ‚neapolitanischen Mona Lisa‘.“ Wilde Spekulationen und „Nonsense Leonardismus“ werden von Roeck hingegen explizit nicht berücksichtigt. Klar markiert er vor dem Hintergrund der vielen vorliegenden Leonardo-Porträts und Studien auch, wo er neue Thesen aufstellt und diskutiert; so zur Rekonstruktion des Anna Selbdritt-Gemäldes, zum Schicksal der beiden Versionen der Felsgrotten-Madonna und zur herausragenden, bisher zu wenig profilierten Bedeutung des französischen Staatssekretärs Florimond Robertet als Mäzen und Vermittler Leonardos.

Der Spezialist für Sozialgeschichte und Künstlertum in der Renaissance lässt seine Leser von seinen Kenntnissen zu Leonardos Auftraggebern ebenso profitieren wie im Hinblick auf die Künstlertechniken, Malutensilien und Materialien, mit denen Leonardo ausgiebig experimentierte. Was vielfach zu Desastern führte: man denke nur an die für dauerhafte Wandmalerei ungeeigneten Farben seines Mailänder Letzten Abendmahls, das mindestens ein Dutzend Male restauriert wurde und nunmehr wohl kaum noch 20 Prozent Originalfarbaufträge Leonardos zeigen dürfte. Es wird einleuchtend erklärt, warum Leonardo, der in der Kunsthauptstadt Florenz aufwuchs und dort auch bald Aufträge ersten Ranges erhielt, sich doch nicht ungern von den mächtigsten Höfen seiner Zeit abwerben ließ:

An einem Hof anzukommen, war Sehnsuchtsziel aller Maler, Bildhauer, Gelehrten und Poeten der Renaissance. Dort sahen sie sich der Zunftmacht entzogen. Im Fürstendienst war am meisten Geld zu verdienen, Pensionen und Privilegien lockten, ebenso Straf- und Steuerfreiheit. Selbst Adelstitel waren zu gewinnen. Hofkünstler hatten Aussicht auf ein stimulierendes intellektuelles Ambiente und durften Feste erleben, sei es als Organisatoren, sei es als Teilnehmer.

So ging Leonardo dann erst nach Mailand, kehrte, als Mailand und seine Herrscher in Kriegswirren verstrickt waren, für einige Jahre nach Florenz zurück und verbrachte schließlich seine letzten Jahre am Hofe des französischen Königs. Mit Aufträgen für den bau- und kunstfreudigen Vatikan in Rom, wo er sich in reifen Jahren ebenfalls für zwei Jahre aufhielt, klappte es nicht so recht, sei es, weil er nicht konnte und das schnelle Arbeiten der Fresken-Malerei auf feuchtem Putz nie gelernt hatte – die Sixtinische Kapelle des Papstes wurde also das Werk Michelangelos. Oder sei es, weil er die passenden Aufträge nicht erhielt, wie im Falle der Bauleitung des Petersdoms, die nach Bramantes Tod nicht an den Bau- und Stadtprojektemacher Leonardo fiel, sondern an den jungen Raffael.

Wobei ein Künstler damals zu bestimmten Aufgaben keinesfalls nur zuwartend berufen wurde, sondern gezielte Akquise zu den Kernkompetenzen eines Renaissancekünstlers zählte. Dies belegt Roeck an vielen Beispielen überaus vollmundiger Initiativbewerbungen Leonardos als Ingenieur, Kriegstechniker, Skulptor oder Maler. Wie erst vor gut 60 Jahren durch überraschende Archivfunde bekannt wurde, unterbreitete Leonardo wohl 1502 oder 1503 auch dem Sultan des osmanischen Reichs, Bayed II., Vorschläge zum technisch damals kaum möglichen Bau gigantischer Brücken über den Bosporus. Auch aus diesen kühnen Plänen wurde nichts. Der Toskaner blieb in Florenz und trieb als Mitglied der Militärkommission Pläne voran, die lange konkurrierende Hafenstadt Pisa zu erobern, indem man sie durch Umleitung des Arno vom Wasser abschnitt. Die gewaltigen Arbeiten wurden geplant, neue Großbagger skizziert und schließlich auch 2.000 Arbeiter zum Ausschachten in Bewegung gesetzt. Doch auch dieses Großprojekt wurde nach zwei Monaten aufgegeben, weil die Fluss-Umleitung wohl doch weit aufwendiger und komplizierter war, als berechnet.

Auf den gut 6.000 Seiten von Leonardos erhaltenen Notizheften und später zu Codices gebundenen Blättern (seit langem im Besitz des englischen Königshauses, Mailands oder von Bill Gates) finden sich abrupt gemischt Skizzen für Bildwerke neben literarischen oder technischen Texten, nicht selten auch imaginäre Architektur und Ideen zur Verbesserung des Städtebaus, etwa in hygienischer Hinsicht. Bodenversiegelung sowie mehr Luftzug gegen die als krankmachend vorgestellten Miasmen; keine Ecken, in welche stets gepisst wurde: Leonardo empfahl wohlüberlegt Wendeltreppen statt eckiger Treppen, um seine imaginierten zweistöckigen Straßen miteinander zu verbinden; oben flanieren die feinen Leute, unten findet der Lieferverkehr der Arbeitenden statt.

Mit Roeck kann man sich wundern über den tierlieben Erfinder, der im späteren Leben wohl als Vegetarier lebte – und der doch zugleich in eigener Initiative Kriegsmaschinen skizzierte von forcierter Brutalität und Zerstörungskraft: mit zahlreichen Kanonen bestückte Panzerwagen und mit Extra-Messern gepimpte Sichelwagen. Auf Leonardos Skizzen wurden zugleich die künftigen Opfer der Schreckensmaschinen illustriert als Haufen von Verstümmelten samt abgetrennten Gliedmaßen.

Gleichsam klassisch ausbalanciert wirkt hingegen Bernd Roecks Buch. Eine Leonardo-Biografie weitgehend ohne forcierte Pointierungen, gleichsam im goldenen Schnitt. Sieht man einmal ab von den breit dargestellten Beziehungen zu Leonardos Auftraggebern und Mäzenen. Modern ist Roecks Biografik – gerade im Vergleich mit anderen Biografien – in ihrer relativen Nüchternheit der Lebenserzählung und in ihren bilanzierenden Bewertungen, die auch und gerade das vielfache Scheitern miteinbeziehen. Leonardos Denken, Schreiben, Zeichnen und Malen wird ohne allzu viel Geniekult rekonstruiert und gerade im Hinblick auf die skizzenhafte Unabgeschlossenheit vieler Werke dargestellt. Einzelne, stets kompakte Kapitel geben Überblicke zu den Büchern, die Leonardo besaß, und erläutern, was daran zeittypisch, was eher besonders gewesen ist.

Beim Lesen dieses Buches erfährt man nicht nur mehr über kuriose Details aus den Lebens-, Kunst- und Technikwelten der italienischen Hochrenaissance, man bekommt auch einen Eindruck davon, warum das gute Dutzend der fertiggestellten und erhaltenen Gemälde Leonardos zu den am meisten bewunderten und begehrtesten Kunstschätzen der Welt gehören. Sein Werk ist im Hinblick auf Vorstudien, Experimente, verworfene und unausgeführte Werkaufträge wohl jenes, das bei größtem geistigem Aufwand doch nur zu einer sehr kleinen Zahl vollendeter Ergebnisse führte. Der Mann war Perfektionist. Vielleicht war er auch Melancholiker, dem der Zweifel näher lag als die Ausführung und Vollendung des Begonnen. Faul war er dabei wahrlich nicht, wie seine ausführlichen Skizzen und Notizen verdeutlichen. Aus diesen beabsichtigte Leonardo hunderte Bücher zu machen – aber auch das blieben unvollendete Schreib- und Publikationsprojekte. Seine düsteren Seiten oder Alpträume artikulierte er in Katastrophenzeichnungen von gewaltigen Überflutungen und Zerstörungen.

En passant räumt Roecks Biografie mit einigen Legenden und falschen Mythen auf: So war das Sezieren von Leichen damals keineswegs generell verboten oder verpönt. 1506 wurde im Kloster Santa Croce öffentlich seziert und Leonardo hatte zum Körperstudium insgesamt etwa 30 Leichen zerlegt. Er wurde zwar in seiner Zeit deswegen beim Papst denunziert, aber es resultierte daraus keine Verfolgung, wohl aber zahlreiche anatomische Zeichnungen Leonardos und exaktere Vorstellungen vom Zusammenspiel menschlicher Muskeln und Bewegungsabläufe. In der Genauigkeit seiner Körperdarstellungen übertraf Leonardo alle anderen Maler. Doch beließ er es nicht bei diesen, für jeden Maler dringlichen Darstellungsaspekten des Körperverständnisses, sondern forschte gründlicher:

Auch hier stellte er Fragen, die keiner vor ihm aufgeworfen hatte: Welcher Nerv bewirkte, dass die Bewegung eines Auges die des anderen nach sich zieht? Was ist Katarrh, was Niesen, was Gähnen? Was sind Fallsucht, was Verrücktheit? Was Hunger, was Geilheit? Was sind Zorn und Furcht? Und was die Gründe, dass wir atmen, dass sich das Herz bewegt, dass wir uns erbrechen, urinieren, Kot ausscheiden?

Der ohne akademisches Studium zum Maler ausgebildete uneheliche Sohn eines erfolgreichen Notars überbot hier die Fragehorizonte der Mediziner und Philosophen seiner Epoche. Man möchte ihn zum Fundamental-Anthropologen erklären, wenn man nicht wüsste, dass er sich ebenso für Vögel und Flugapparate interessierte, über Maschinen und Städtebau nachdachte, stets dazu bereit, neue Blätter mit Skizzen und Stichworten zu füllen.

Das in ziegelroten Karton gebundene Buch samt orangefarbenem Lesebändchen kommt im Schutzumschlag, den das einzig halbwegs sicher verbürgte Bild des schon alten Leonardo ziert, gestalterisch so klassisch mit dezent moderner Note daher wie der balancierte Text dieser Biografie. Roeck schreibt eher nüchtern als berauscht, eher vorsichtig als mitreißend über diesen außergewöhnlichen Renaissancemenschen. Doch bekommt der Leser gerade durch das hier demonstrierte Zusammenspiel von Vordergrund und Hintergrund, von Politik-, Stadt-, und Sozialleben der Renaissance mit den Inventionen des kreativen Individuums eine plastische Vorstellung von Lebenslauf und Leistungen Leonardos. Die Alterität jener fern gerückten Zeit wird eher gezeigt als geleugnet, die in manchen Dingen aufscheinende Modernität Leonardos wird verschränkt mit seiner Verankerung in damaligen Verhältnissen. Und bei aller Vermittlung von Wissen und Fakten wird doch verdeutlicht, wie ungewiss vieles im Hinblick auf manche Lebenszusammenhänge Leonardos und einige seiner Werke immer noch ist. Diese Biografie steht mithin eher im Zeichen der Endlichkeit des Wissens als des Geniekults. Und das bekommt dem Porträt dieses Mannes, der alles wissen wollte, gut.

Titelbild

Bernd Roeck: Leonardo. Der Mann, der alles wissen wollte.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
464 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406735097

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