Leonardo – der Frauenversteher?

Zwei Biografien mit unterschiedlichem Zugang versuchen sich dem Renaissance-Künstler zu nähern

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um Leonardo da Vinci ranken sich zahlreiche Legenden, die Biografen und Autoren immer wieder zu skurrilen Fantasien angeregt haben. Der Universalkünstler soll sich des Nachts auf Friedhöfen herumgetrieben haben, um Leichen zu häuten und Schädel zu zersägen, verschlüsselte Botschaften in seinen Gemälden hinterlassen und sich alchemistisch betätigt haben. Auch wird immer wieder über sexuelle Absonderlichkeiten Leonardos spekuliert. Das überrascht, vor allem wenn man sich vor Augen führt, dass die „Informationen, die über sein Leben in Dokumenten der Zeit erhalten blieben“, gar nicht so rar sind, „dass man sie derart ausschmücken müsste“, wie Boris von Brauchitsch in seiner kürzlich erschienenen Biografie Das Leben des Leonardo da Vinci schreibt.

Sicher ist, dass Leonardos Leben, seine Ideen und sein Charakter mehr als ungewöhnlich gewesen sind, auch in einer so bewegten, an Aufbrüchen und Neuentdeckungen so reichen, aber gleichzeitig so kriegerischen Epoche wie der Renaissance. Und Leonardo selbst hat nicht wenig dazu beigetragen, dass die Spekulationen über ihn dermaßen ins Kraut schossen. Der in der Toskana nahe Florenz geborene Künstler war überzeugter Vegetarier, liebte die Natur, lebte seine Homosexualität ziemlich offen aus, obwohl sie zum Teil streng geahndet wurde, schrieb seine Notizen mit links und in spiegelverkehrter Schrift und war notorisch unzuverlässig: Er stürzte sich in zahlreiche Projekte, von denen er nur wenige zum Abschluss brachte. Stellte er allerdings etwas fertig, so war dies meist außergewöhnlich. Als Antriebsfeder seines gesamten Schaffens kann eine geradezu unbändige Neugier ausgemacht werden. Leonardo beschäftigte sich mit nahezu allem, was ihm in die Finger kam: mit dem Vogelflug, Festungsanlagen, Kriegsgerät, Optik, dem Geschlechtsakt, Wellenbewegungen, menschlichen Gemütszuständen, Architektur, Anatomie, Kanalbau, Bronzeguss und vielem mehr. Man kann ihn deshalb zweifelsohne als den Universalmenschen seiner Zeit bezeichnen. Er blieb nicht an der Oberfläche, sondern wollte stets ergründen, wie etwas funktionierte. Besonders anschaulich zeigen das seine anatomischen Studien, die künstlerisch meisterhaft, aber gleichzeitig mit dem notwendigen naturwissenschaftlichen Gespür ausgeführt sind. Zunächst hing Leonardo hierbei noch mittelalterlichen Überlieferungen an, was beispielsweise in seinen Zeichnungen zum Geschlechtsverkehr sichtbar wird. Später jedoch warf er diese Überlieferungen mehr und mehr über Bord und zeichnete das, was er tatsächlich mit eigenen Augen gesehen hat.

Zum diesjährigen Gedenkjahr, Leonardo starb am 2. Mai 1519, sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich eher allgemein mit dem Renaissance-Künstler beschäftigen, etwa Walter Isaacsons Leonardo da Vinci. Die Biografie oder Bernd Roecks Leonardo. Der Mann, der alles wissen wollte. Einen anderen Zugang zu Leonardo wählt Kia Vahland in ihrer Biografie Leonardo da Vinci und die Frauen. Die Kunsthistorikerin und Kritikerin fokussiert sich in ihr auf diejenigen Gemälde Leonardos, auf denen Frauen abgebildet sind und behauptet selbstsicher: „Das Wissen, um das Leonardo in seiner Malerei kreist, ist das Wissen der Frauen.“ Sie will damit dem Bild entgegentreten, das man im 21. Jahrhundert von Leonardo da Vinci habe, denn man nehme ihn gemeinhin wahr „als technischen Pionier, der mit seinen gezeichneten Flugapparaten, Waffensystemen, Hebevorrichtungen die Erfindungen der Moderne vorweggenommen hat. Das ist zu einseitig.“

Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stehen vor allem die Porträts Ginevra deʼ Benci, Cecilia Gallerani / Dame mit dem Hermelin und Mona Lisa / Gioconda. Leonardo, so Vahland, sei den Frauen, die er gemalt hat, mit ungewöhnlichem Respekt begegnet und habe sie aus der Verdinglichung befreit, indem er ihnen ein Eigenleben in seinen Bildern verliehen hat. Er sprengt die Konventionen der bis dahin geläufigen Porträtdarstellungen, indem er die Frauen nicht im strengen Seitenprofil und aus dem seitlichen Bildrand blickend darstellt, sondern sie ihre Blicke in Richtung Betrachter werfen lässt. Die Körperhaltung der Porträtierten ist keine starre mehr, sondern erfährt ebenso wie die Gesichtszüge und Blicke eine Dynamisierung in seinen Gemälden. Wurden Frauen zuvor vornehmlich in Innenräumen abgebildet, so löse Leonardo die porträtierten Frauen aus diesem Korsett , indem er sie ins Freie stellt. Und tatsächlich wird die enge Verknüpfung von Frau und Landschaft beziehungsweise Frau und Natur in Leonardos Gemälden sichtbar; er setzt sie zueinander in Analogie, weil er mit beiden das Prinzip der Schöpfung respektive der Zeugung verbindet. Beide – und damit gleichen sie dem Künstler – haben das Potenzial, Neues zu erschaffen beziehungsweise zu gebären. In seinem Traktat von der Malerei schreibt er: „Wenn der Maler Schönheiten sehen will, die imstande sind, ihn verliebt zu machen, ist er fähig, solche zu schaffen, und wenn er unheimliche [sic!] sehen will, die ihn erschrecken, oder komische oder lächerliche oder wahrhaft mitleiderregende, so kann er dies als Herr und Gott tun.“ Das alles arbeitet Vahland schlüssig und gut nachvollziehbar heraus.

Dass Leonardo den Frauen eine solche Eigenständigkeit zugesteht und sie als Individuen zeigt, ist durchaus erstaunlich, wenn man die männlich dominierte Sichtweise auf Frauen im 16. Jahrhundert betrachtet. Einige Männer sprechen Frauen die volle Spanne des Empfindens und auch des rationalen Denkens ab. Sie werden häufig auf ihre Mutterrolle beschränkt und spielen im öffentlichen Leben – bis auf wenige Ausnahmen – lediglich eine untergeordnete Rolle. Vahland konstatiert treffend:

Vom Kloster in die Ehe und zurück ins Kloster: Dies könnte die gewöhnliche Geschichte einer wohlhabenden Frau aus der italienischen Renaissance sein. Ein weibliches Leben hinter Mauern ist die Regel, nicht die Ausnahme. Eine junge Dame soll, wie es die Benimmfibeln der Zeit lehren, die Lider senken, wenn sie zum Kirchgang auf die Straße tritt. Nur ihr Gatte und enge männliche Verwandte dürfen ihren Blick auffangen. Schließlich sind die Augen die Fenster der Seele.

Die Einbettung in den zeitgeschichtlichen Kontext ist nicht nur hier eine Stärke von Vahlands Buch. Stets liefert sie bei ihren Ausführungen wichtiges Hintergrundwissen mit und erläutert Zusammenhänge, um Leonardo und sein Schaffen besser verstehbar zu machen. Die Autorin bleibt dabei nicht bei den Frauenporträts stehen, sondern bezieht beispielsweise auch ausführlicher sein Naturverständnis in ihre Betrachtungen ein, stellt die Experimentierfreudigkeit Leonardos bezüglich Malweise und Farbverwendung heraus oder geht näher auf die Umstände der Entstehung der Porträts ein. Zuweilen nimmt Vahland Leonardo etwas zu einseitig mit Blick auf ihr Hauptthema, die Aufwertung der Frauen, in Beschlag; sie instrumentalisiert ihn damit ähnlich, wie dies schon so viele Biografen vor ihr getan haben. An die Stelle des einen Paradigmas – Leonardo als Techniknerd und Vorreiter der Moderne – setzt Sie ein anderes, das des Frauenverstehers, ja Feministen. Trotz dieses Einwands ist Leonardo da Vinci und die Frauen überaus lesenswert, wozu auch Vahlands plastischer und lebendiger Schreibstil beiträgt. Neben den auf hochwertigerem Papier abgedruckten Abbildungen wartet die Biografie mit zahlreichen Anmerkungen der Autorin im Anhang, einem Personenregister sowie einer Kurzvita auf.

Im Vergleich zu Kia Vahland wählt Boris von Brauchitsch in seiner Biografie Das Leben des Leonardo da Vinci einen eher traditionellen Zugang zu Leben und Werk des Universal-Künstlers. Er widmet sich in kurzen Exkursen zwar erwartungsgemäß den wichtigsten Gemälden und Fresken, tut dies aber nicht in der Ausführlichkeit wie Vahland. Auch der Kontext wird von ihm nicht so stark einbezogen, vielmehr hakt er die wichtigsten Stationen Leonardos ziemlich schnell ab, wodurch seine Biografie an einigen Stellen etwas zu faktenhuberisch gerät. Positiv hervorzuheben ist, dass sich von Brauchitsch jedoch ausführlicher dem Nachleben und der Rezeption Leonardos widmet. Er beschreibt beispielsweise, wie es Leonardos Mitarbeitern und Schülern nach dessen Tod ergangen ist und welche Künstler sich in unmittelbarer Nachfolge von ihm beeinflusst zeigten. Des Weiteren kommt er auf Sigmund Freuds Studie Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) zu sprechen, die zwar „allemal denkwürdig und erstaunlich“ sei, dem Begründer der Psychoanalyse letztlich jedoch vor allem als „prominenter Aufhänger“ gedient habe, „um eine Psychogenese der Homosexualität zu entwickeln“.

Insgesamt lesen sich die Ausführungen von Brauchitschs zur Rezeption mit Gewinn. Besonders erfreulich – wenn auch in etwas zu geraffter Darstellung – ist das letzte Kapitel des Buches, in dem er auf „Leonardo in Film und Literatur“ eingeht. Allerdings bleibt am Ende die Frage, an welche Leser sich die übersichtliche Biografie richtet. Für diejenigen, die sich erstmals näher mit Leonardo beschäftigen, ist die Darstellung an einigen Stellen zu kurz und gedrängt geraten; hier hätte man sich mehr Hintergrund und ideengeschichtliche Einbettung gewünscht. Für diejenigen, die sich bereits gut mit Leben und Werk Leonardos auskennen, hält es wenig Überraschendes bereit; in diesem Fall ist man bei Vahland trotz des genannten Einwands besser aufgehoben. An alternativen Darstellungen sollte im Leonardo-Gedenkjahr jedenfalls kein Mangel sein. Letztlich bleibt die Erkenntnis, dass die Spekulationen über Leonardos Werke wohl nie enden werden, was per se ja nicht schlecht sein muss. Das konstatiert auch von Brauchitsch:

Die Perspektiven auf Leonardo sind so vielfältig wie die Auslegungen seiner Werke. Sie überlagern sich wie die Linien seiner Zeichnungen, verwischen immer wieder aufs Neue die Konturen, sind in Bewegung und gebären Überraschungen. Das Bildnis Leonardos wird nicht fertig werden, solange Forscher unter Putz verschollene Werke vermuten, solange noch nicht alle Spekulationen ausgereizt sind und Kriminologen seine Fingerabdrücke auf längst vergessenen Bildern entdecken.

Titelbild

Kia Vahland: Leonardo da Vinci und die Frauen. Eine Künstlerbiographie.
Insel Verlag, Berlin 2019.
348 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783458177876

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Boris von Brauchitsch: Das Leben des Leonardo da Vinci. Eine Biographie.
Insel Verlag, Berlin 2019.
253 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783458364030

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