Rückkehr in die Vergangenheit

Über Leben und Politik im Italien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts berichtet der Roman „Bella Ciao“ von Raffaella Romagnolo

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Vergangenheit gibt es nicht, denkt Mrs. Giulia Masca vor dem verrammelten Palazzo Reale.“ So beginnt der Roman Bella Ciao der italienischen Autorin Raffaella Romagnolo, der seit März 2019 auch auf Deutsch vorliegt. Ihre Einschätzung stimmt allerdings ganz und gar nicht, denn gerade die Vergangenheit hat sie hierher geführt: Nach Borgo di Dentro, einem kleinen Städtchen im italienischen Piemont, wo sie aufwuchs und als arme Arbeiterin in der örtlichen Seidenspinnerei für einen Hungerlohn schuftete.

Von dort aus war sie heimlich in die USA ausgewandert, als sie erfuhr, dass ihr Verlobter Pietro, von dem sie schwanger war, sie mit ihrer besten Freundin Anita betrogen hatte. In New York konnte Giulia dann eine Familie gründen und eine neue Existenz aufbauen, sodass sie nun als wohlhabende Frau nach Europa zurückkehrt. Ihr Sohn Michael hatte sie zu der gemeinsamen Reise überredet, bei der er für die familiäre Ladenkette in Italien unterwegs ist, was Giulia die Gelegenheit bietet, ihrem Geburtsort nach 45 Jahren einen Besuch abzustatten.

So steht sie am 6. März 1946 wieder dort, wo sie dereinst in ein neues Leben aufgebrochen war. Natürlich überkommen sie sofort die Erinnerungen. – Kindheit und Jugend stehen wieder lebendig vor ihren Augen. Neugierig möchte sie erfahren, wie es den Menschen aus ihrem alten Leben in den Jahrzehnten ihrer Abwesenheit so ergangen ist: Was mag aus Anita geworden sein, mit der sie früher stets durch Dick und Dünn gegangen war, bevor die Freundin sie nicht nur in Liebesdingen hintergangen hatte? Wie verlief der Lebensweg von Pietro, dem einstigen Verlobten? Und was ist aus ihrer Mutter Assunta geworden, einer harten Frau, die nie auf ihre Briefe geantwortet hat?

In den 5 Tagen ihres Aufenthaltes erzählen ihr die Zurückgebliebenen von den schweren Zeiten, die sie in zwei Weltkriegen, dem Aufstieg des italienischen Faschismus und dem Partisanenkampf gegen den Diktator Benito Mussolini erleben mussten. So erfährt Giulia von tiefen Wunden und großem Leid, die diese Geschehnisse hinterlassen haben, aber auch von Liebe, Mut und Tapferkeit.

Bei allen diesen Geschichten der „kleinen Leute“ aus der Provinz verwebt Romagnolo gekonnt deren persönliches Schicksal mit den Ereignissen aus Politik und Weltgeschichte, sodass ihr auf dieser Ebene des Buches eine atmosphärisch dichte Darstellung der italienischen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelungen ist.

Neben dieser Handlungsebene rund um die Geschehnisse in Borgo di Dentro, die vor allem Anita Leone und deren weit verzweigte Familie betreffen, gibt es jedoch noch eine zweite, die dem Leben Giulias in New York gewidmet ist, sowie eine dritte, die die Tage des Besuches im Jahr 1946 umfasst. Leider sind diese gleich drei Handlungsstränge der Geschichte auch der größte Wermutstropfen bei der Lektüre des Romans. Mit ihren teilweise verwirrenden Wechseln verlangen sie dem Leser doch einiges an Mühe und Konzentration ab, um nicht den roten Faden innerhalb des breit erzählten Geschehens zu verlieren.

So erleben wir einerseits den steinigen Weg von italienischen Migranten in den USA bis hin zu deren Realisierung des „American Dreams“ mit, andererseits aber auch das Schicksal einfacher Leute in der italienischen Provinz, die mit Entbehrungen, Tod und den Wechselfällen der Politik zu kämpfen haben. Dabei überzeugen die Schilderungen des harten Lebens von Giulia und den anderen Figuren durch Detail- und Kenntnisreichtum und man fühlt auf einer eher abstrakteren Ebene durchaus mit ihnen mit.

Doch gerade angesichts der schieren Fülle an Figuren fällt es schwer, beim Lesen eine besondere Nähe zu einer oder mehreren von ihnen zu entwickeln. Dies gilt insbesondere auch für Giulia selbst. Das mag auch daran liegen, dass der Schwerpunkt der Handlung auf den Ereignissen in Italien liegt und die Handlung in den USA eher untergeordnet wirkt. Vor allem den Kriegsjahren wird dabei weit mehr Raum eingeräumt, als dem Roman guttut.

Aber auch die Erzählebene des mehrtägigen Besuches lässt leider keine wahre Nähe zu den Figuren entstehen, obwohl diese ja über sehr persönliche Dinge berichten. So bleiben große Emotionen beim Lesen leider weitgehend aus.

Nichtsdestotrotz sei die Lektüre empfohlen, wenn man ein wenig Mühe beim Lesen in Kauf nimmt, um auf einem sprachlich hohen Niveau zwei überzeugende, ausgesprochen starke Frauenfiguren kennenzulernen und auf komplexe Weise mehr über das Italien zwischen 1900 und 1946 zu erfahren.

Titelbild

Raffaella Romagnolo: Bella Ciao. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
517 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070620

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch