Die Dekonstruktion einer Kleinstadt der 90er Jahre

Joey Goebels „Irgendwann wird es gut“ ist ein Psychogramm des Lebens im ländlichen Raum

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die großen Kaufhäuser haben Moberly, eine Kleinstadt im US-Bundesstaat Kentucky, bereits verlassen. Zurück bleiben die Einwohner, deren Schicksale Joey Goebel wie eine Collage des Provinzlebens in den 1990er Jahren zusammensetzt: Seine Erzählung Irgendwann wird es gut besteht aus zehn Kurzgeschichten. Sie sind ein Porträt der Monotonie einer schrumpfenden, sich zurückentwickelnden Kleinstadt und der Einsamkeit ihrer Bewohner. Zugleich sind sie ein Generationenporträt; wer heute wie der Autor zu den „Enddreißigern“ zählt, wird sich an seine Jugend erinnern – den dicken grauen „Plastikklotz mit ausziehbarer Antenne“, harten Rock, Videokassetten sowie Atari-Spiele und Gameboys, die in den zehn Kurzgeschichten platziert wurden. Die 90er waren ein buntes Jahrzehnt.

Ein solches in einer grauen Kleinstadt zu verbringen und dabei Hass auf das eigene Leben, die Einsamkeit und fehlende Perspektiven zu verspüren, lässt die Protagonisten in Irgendwann wird es gut melancholisch durch die Straßen streifen. Vereinsamte Männer suchen Anschluss, Zuneigung und Veränderung, zu der sie nicht fähig sind. Anthony verliebt sich in eine Fernsehmoderatorin, sitzt mit Whisky vor dem Fernseher und träumt von einer gemeinsamen Zukunft. Luke sieht seine Punkband als „Verlängerung seines Wunsches, etwas anderes als er selbst zu sein“. Der Videotheken-Mitarbeiter Matt verbringt eine Nacht in einem Hotel, weil vereiste Straßen seine Heimfahrt nicht zulassen; das Hotel entwickelt sich mit steigendem Alkoholkonsum zu einem irrealen Ort mit trügerischer Oberfläche. Matt steigt schließlich betrunken zu einer älteren Dame in den Whirlpool, verletzt sich und bleibt auch in dieser Nacht allein. Matt schneidet sich tatsächlich in die Hand, andere Protagonisten verletzen sich metaphorisch selbst. Angstvoll presst Carly ihre Stirn gegen eine Toilettentür und wiederholt mehrmals leise zu sich selbst: „Dir geht’s jetzt gut.“ Doch es geht ihr nicht gut. Und Stephanie, deren Mann für vier Tage im Bezirksgefängnis sitzt, bietet ihren Schülern an, für sie zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar zu sein, wenn sie getrunken haben und nicht wissen, wie sie heimkommen sollen. Einer nimmt das Angebot an.

Wer im Leben „eine Menge durchgemacht“ hat, verhärtet entweder oder wird noch „weicher und verständnisvoller, weil sie sehen, wie schlimm das Leben sein kann, und nicht wollen, dass das Leben für andere Menschen so schlimm wird“, glaubt Stephanies Schüler, der betrunken in ihrem Auto sitzt. In der alkoholbeseelten Diskussion vermischen sich Wunsch und Wirklichkeit, aber es entsteht auch ein Glücksanspruch, der in einer Stadt, in der Männer einfach herumstehen oder ab und zu einen Spuckefaden zu Boden fallen lassen, wenn sie aus einem Laden kommen, zum unerreichbaren Ideal mutiert. „Manchmal frage ich mich, ob es an der Stadt liegt oder nur an mir“, sinniert Luke, der Punk-Rocker. Ein Freund fragt Carly: „Was kann man hier sonst noch so machen?“ Sie antwortet: „Nicht viel.“ Eigentlich müssten die Protagonisten aufstehen und die Stadt verlassen. Indem sie es nicht tun, äußert Joey Goebel seine Kritik am Schicksalsglauben der Einwohner. Bereits der Titel Irgendwann wird es gut ironisiert die unrealistischen Ziele der in der Kleinstadt Festhängenden. Idealisierte Träume überdecken den tatsächlichen Zustand und realistische Perspektiven. Wenn sich der Leser mit den Personen zu sehr zu identifizieren droht, wechselt der Autor die Perspektive und beginnt eine neue Handlung, was – auch ohne Kommentare ganz in der Tradition des epischen Theaters – zur kritischen Reflexion des Gelesenen auffordert. Das Buch wird damit zu einer fesselnden Parabel auf allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse, die im ländlichen Raum Deutschlands ebenso zu finden sind wie in der dargestellten amerikanischen Provinz.

Ein Unterschied zwischen dem Provinzleben in Deutschland und den USA heute ist: Die USA haben Trump. Seine Geschichten aus den 90ern seien auch deswegen geerdet und plausibel, „weil das Leben in den USA das nicht mehr ist“, sagt Goebel. Den Kurzgeschichten ist ein Interview hintangestellt, in dem Benedict Wells Fragen an den Autor richtet. Goebel bezeichnet sein Buch darin als „Roman in Kurzgeschichtenform“, weil alle Kurzgeschichten miteinander verbunden sind. Er unterstreicht, dass es zugleich immer einen eindeutigen Schluss gibt. „Unlösbare Rätsel“ wolle er vermeiden, jede einzelne Story solle „wie eine Mahlzeit“ den Hunger des Lesers stillen. Satire habe jedoch in seinem Werk keinen Platz mehr. Denn für Goebel markiert „Trumps Amtsantritt den Tod der Satire“. Der Autor spricht über den „von Trump zugefügten Schmerz, der jeden meiner Schritte beeinflusst“. Er habe überlegt, nach Deutschland auszuwandern – und doch bleibt er erst einmal in den USA. Wie die Protagonisten seines Romans hofft er weiter: „Irgendwann wird es gut“.

Joey Goebel ist mit Irgendwann wird es gut ein allgemeingültiges Psychogramm des Lebens im verödenden ländlichen Raum gelungen. Es fängt den Kampf um ein kleines Stück vom Glück ein. Es dekonstruiert die Tristesse, um aufzuzeigen, wie kostbar das Leben ist und wie schnell Jahre vergeudet werden können, wenn sich „das Leben anderswo abspielt“. Mit 34 Jahren kommt Matt im Roman in ein Alter, „wo er die Dinge sofort erledigen musste, weil er sie sonst wieder vergaß, und er erreichte auch ein Alter, wo alle Bands, die er als Jugendlicher gern gehört hatte, allmählich Mist wurden.“ Alles verändert sich. Die Generation, welche noch ohne Handys aufgewachsen ist und die die 90er bewusst erlebt hat, merkt dies und scheint von der Schnelligkeit des Wandels überrascht. Ob in den 1990er Jahren oder heute: Von der Zeit unabhängig ruft Irgendwann wird es gut dem Leser entgegen, dass es nicht egal ist, ob man unzählige Stunden Computerspiele zockt, Sorgen im Alkohol ertränkt – und hernach Trump wählt, radikalen Parteien eine Chance gibt oder gar nicht erst zur Wahl geht. Es ist ein bemerkenswertes Buch, fesselnd erzählt und mit lautem Nachhall!

Titelbild

Joey Goebel: Irgendwann wird es gut.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Hans M. Herzog.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
313 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070590

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