Überschreiten Sie diese Grenze!

Gérard Genettes Überlegungen zur Metalepse liegen in deutscher Sprache vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der im Mai 2018 verstorbene Gérard Genette zählt zu den einflussreichsten Literaturtheoretikern der letzten Jahrzehnte. Er verblüffte immer wieder mit seiner geradezu universellen weltliterarischen Belesenheit und entwickelte seine Überlegungen stets auf der Basis eines opulenten Materials. Vom Strukturalismus geprägt und für neuere Einflüsse offen, ohne die zuweilen hermetisch anmutenden Denk- und Schreibweisen seiner poststrukturalistischen Generationsgenossen zu teilen, hat er auf unterschiedlichen Gebieten tiefe Spuren hinterlassen. Allem voran lieferte er der Narratologie mit Die Erzählung ihre moderne Bibel, die allen neueren Katechismen (das heißt: Einführungsbüchern in die Erzähltheorie) zugrunde liegt. Das zuvor kaum je eingehend beachtete „Beiwerk des Buches“ wertete er mit der Studie Paratexte irreversibel auf, die Diskussion um Intertextualität (in Genettes eigener, immer etwas exzentrischer Terminologie: Transtextualität) bereicherte er in Palimpseste um ein griffiges und differenziertes Begriffsinstrumentarium. Fiktion und Diktion wurde zwar nicht so breit rezipiert wie das narratologische Hauptwerk, kann aber auf dem Feld der Fiktionalitäts-Theorie den Rang eines Standardwerkes beanspruchen. Das schmale, längst vergriffene Bändchen Einführung in den Architext begehrt gegen die gängige Gattungs-Trias auf, die sprachtheoretische Schrift Mimologiken schließlich spinnt Gedanken aus Platons Dialog Kratylos weiter.

Allerdings war Genette schon zu Lebzeiten ein Klassiker, der (gemäß dem berühmten Lessing-Diktum) viel gelobt, aber wenig gelesen wurde – waren doch die Kerngedanken zum leicht verdaulichen Gemeingut in literaturwissenschaftlichen Einführungsseminaren geworden. Dennoch muss erstaunen, dass angesichts der unbestreitbaren Bedeutung, die Genettes Denken auch und gerade hierzulande in der Literaturwissenschaft entfaltet hat, nicht alle Bücher des Meisters ins Deutsche übersetzt vorliegen. Umso erfreulicher ist es, dass in der Reihe Kleine Formate im Wehrhahn Verlag unmittelbar vor Genettes Versterben das im französischen Original 2004 erschienene Buch Metalepse publiziert wurde, das zwar kein ganz neues Feld der Theoriebildung erschließt, aber doch eine willkommene Ergänzung zum bisherigen Textkorpus darstellt.

Den Begriff der Metalepse benutzt Genette bereits in Die Erzählung und bezeichnet damit den erzählend bewältigten „Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen“ – wenn etwa ein Leser von einer Figur aus dem Roman, den er gerade liest, ermordet wird, oder wenn ein Erzähler, der außerhalb der von ihm erzählten Welt steht, in ebendiese erzählte Welt vorstößt. Das wiederum hat einen spielerischen Umgang mit Fiktion und dem Erzählen selbst zur Folge. In Genettes Terminologie: „Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische Universum (bzw. diegetische Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.) oder auch […] das Umgekehrte, zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist […], mal phantastisch.“ Es handelt sich bei Metalepsen mithin immer um Grenzüberschreitungen: Erzählinstanzen wechseln auf eine narrative Ebene, die ihnen eigentlich ontologisch verschlossen sein müsste, im Rahmen der Fiktion aber offen steht. Das wiederum zieht, so Genette, weitreichende und verunsichernde Konsequenzen nach sich. Den Lesenden wird der scheinbar feste Boden unter den Füßen weggezogen, da sie irgendwann nicht mehr sicher sein können, nicht bereits selbst zu einer Erzählung zu gehören.

Diese Gedanken entwickelt Genette in Die Erzählung auf etwa drei Seiten. Metalepse greift dieses Theorieversatzstück auf und weitet es immens aus – durch etliche neue Beispiele, aber auch eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Das Buch geht auf einen 2002 gehaltenen Vortrag zurück, der für die Publikation erheblich erweitert wurde. Über die Zusammenhänge der Entstehungsgeschichte informiert das lesenswerte Vorwort von Michael Niehaus und Armin Schäfer, den Herausgebern der Reihe. Betont wird darin die innerhalb der narratologischen Forschung „dissidente Position“, die Genette einnimmt: Während die Narratologie metaleptische Phänomene ordnen und begrenzen wolle, arbeite Genette gleichsam an einer Ausdehnung des Gegenstandsbereiches. In der Tat: Keine Be-, sondern eine Entgrenzung der Grenzüberschreitung ist Genettes Anliegen. Er zeigt, dass Grenzen zwischen Diegese und Metadiegese, aber auch zwischen Diegese und dem Extradiegetischen beständig überschritten werden. Das ist weit mehr als ein auf Buchformat aufgeblähtes Spezialproblem: Am Ende des Textes macht Genette plausibel, dass die ständigen Grenzüberschreitungen „die Seele der Fiktion im Allgemeinen und jeder Fiktion im Besonderen“ seien. Mehr noch: „Jede Fiktion ist ein Gewebe aus Metalepsen.“ Doch auch das fragile Gebilde dessen, was wir Realität zu nennen gewohnt sind, sei von Metalepsen durchdrungen: Häufig erkenne sich die Realität in einer Fiktion wieder oder registriere Fiktionen im eigenen Universum.

Der Weg dahin ist weitgehend vergnüglich und informativ. Wie nicht anders gewohnt, bietet Genette eine geradezu erschlagende Fülle von Beispielen. Der Schwerpunkt liegt bei klassischen Werken der französischen Literatur, aber selbstverständlich werden auch berühmte Texte aus anderen Sprachen herangezogen. Und bei Weitem nicht nur erzählende Texte: Dramen und das Theater können ebenso metaleptisch sein wie die Malerei, zudem greift Genette in erstaunlichem Ausmaß auch auf Filme zurück, denen er anregende Perspektiven abgewinnt. Wiederholt werden insbesondere die filmischen Beispiele um den Preis offen eingestandener Erinnerungslücken aus dem Gedächtnis paraphrasiert („ich glaube mich daran zu erinnern…“, „ich bin nicht sicher, ob ich es vollkommenen richtig darstelle…“), dann wird über den Inhalt eines Filmes sogar nur spekuliert: „Ich nehme an (aus dem einfachen Grunde, weil ich ihn nicht gesehen habe), dass …“. Philologisch-akademische Akkuratesse, diese kleingeistige Anmerkung sei gestattet, ist das schwerlich. Narratologisch gewendet: Die Inhaltsparaphrasen verweisen gewissermaßen auf einen unzuverlässigen Erzähler. Das kann als Erhöhung der semiologischen Abenteuerlichkeit gewertet werden; inwiefern es der Plausibilität zuträglich ist, ist eine andere Frage.

Die Materialmenge in Verbindung mit der Faktur des Textes, der keine Ober- oder Unterkapitel aufweist und dessen einzelne Abschnitte mithin keinerlei Überschriften tragen, bewirkt eine gewisse Unordnung und Unübersichtlichkeit. Das ist nicht nur Folge des discours, sondern auch der histoire: Genette bietet zwar unterschiedlichste Spielarten der Metalepse, verzichtet aber darauf, sie zu systematisieren oder auch nur ausdrücklich zu definieren und voneinander abzugrenzen. Vieles wird angerissen, aber nicht immer deutlich unterschieden. Das Fehlen eines Inhaltsverzeichnisses, vor allem aber eines Sach-, Personen- und Titelregisters erschwert den Umgang mit diesem Text leider beträchtlich.

Bisweilen würde man sich etwas mehr Abstraktion wünschen, statt von einem Beispiel zum nächsten geleitet zu werden (dieser Einwand freilich gilt auch für andere, bereits zu Klassikern avancierte Genette-Texte). Unerachtet des beträchtlichen Anregungspotenzials, das Genette liefert: Manchmal bleibt in dem bewundernswerten Parlando, bei dem der Grandseigneur von Film zu Roman zu Drama zu Gemälde springt, die Theorie etwas unterkomplex – und zwar gerade dort, wo man im Rückgriff auf frühere Genette-Texte weitere Ebenen einziehen könnte. Gelegentlich wird das an späterer Stelle im Text dann auch partiell revidiert, was nicht nur redlich ist, sondern auch den durchaus metaleptischen Effekt evoziert, dass der Leser den Autor bei seinen Denkbewegungen geradezu begleitet und ihm sogar ein bis zwei Schritte voraus ist, weil er sich im Genette’schen Theoriekosmos besser auszukennen scheint als dessen Schöpfer. Es hinterlässt aber auch den Eindruck eines nicht systematisch durchgearbeiteten Textes, der an der einen oder anderen Stelle die Gelegenheit verstreichen lässt, bekannte Theoriebausteine miteinander zu kombinieren oder einzelne Facetten weiter auszuleuchten. Wie ist es etwa um das metaleptische Potenzial des Verhältnisses von Hypo- und Hypertext, von Metatextualität oder von paratextuellen Spielarten bestellt?

Dass Genettes Schrift dem eigenen Anspruch nach ein „Streifzug“ ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist, kann ihm nicht vorgeworfen werden. Dass er aber solche Chancen ungenutzt lässt, ist gerade angesichts der oft glänzenden Einsichten, die wir diesem großen Literaturenthusiasten verdanken, bedauerlich. Denn was Metalepse mehr als alles andere transportiert, ist die Begeisterung für textuelle Wirkungen und Bauformen, für literarische und allgemein ästhetische Artefakte, die Genette auch „nach dreißig und mehr Jahren an narratologischer, ‚theaterologischer‘ oder filmologischer Ausnüchterungskur“ (die für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Gegenständen unerlässlich ist) nicht verlassen hat. Auch wenn dieses Buch eher ein Supplement denn ein Hauptwerk ist: Es erinnert doch daran, dass sein Autor einer der größten und noch immer sehr inspirierenden Impulsgeber für die Auseinandersetzung (nicht nur) mit Literatur ist.

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Gérard Genette: Metalepse.
Übersetzt aus dem Französischen von Monika Buchgeister.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.
133 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783865255914

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