Karibische Dystopie
Rita Indiana mixt in ihrem Roman „Tentakel“ Voodoo-Kult und Geschlechtsumwandlung mit den Folgen des Klimawandels
Von Martina Kopf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRita Indiana zählt laut El País zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten Lateinamerikas. Die Komponistin und Sängerin aus der Dominikanischen Republik wurde nicht nur durch die Neuinterpretation des Merengue bekannt, sie hat neben Kurzgeschichten auch einige Romane geschrieben. Tentakel ist ihr jüngster Roman und wie auch ihre Musik ist er ein wilder Mix aus Tradition und Innovation: Es geht um Naturkatastrophen, eine Protagonistin, die lieber ein Mann wäre und schließlich einer wird, aber auch um den afrokaribischen Santería-Kult sowie die Geschichte Hispaniolas, all das erzählt in einer stellenweise sehr sexualisierten Sprache.
Ein Seebeben hat die paradiesische Küste der Dominikanischen Republik im Jahr 2024 in eine trostlose Landschaft verwandelt. Meeresrauschen ist nur noch als Klingelton einer Haustür zu hören. Technisierung und Digitalisierung sind mittlerweile so weit entwickelt, dass Roboter unerwünschte Flüchtlinge aus Haiti auflesen, regelrecht zerlegen und schließlich entsorgen. Um ein virtuelles Postfach zu öffnen, sind keine Geräte mehr nötig, sondern ein Zusammenführen von Zeige- und Mittelfinger reicht völlig aus, um auf es zugreifen und Informationen abrufen zu können.
Acilde, Tochter einer Prostituierten, arbeitet als Hausangestellte bei der Voodoo-Priesterin Esther Escudero und hat einen großen Traum: Sie möchte ein Mann werden. Eine Geschlechtsumwandlung ist relativ einfach, sie kann mittels einer Spritze mit dem klangvollen Namen Rainbow Bright vollzogen werden, doch die Spritze ist kostspielig und Acilde fehlt es am nötigen Geld. Allerdings ist sie zu allem bereit. Esther besitzt eine wertvolle lebendige Seeanemone, die sie in einem Krug aufbewahrt und Acilde beschließt, die Priesterin mit Hilfe eines Kumpels umzubringen.
Tatsächlich geht Acildes Traum schließlich in Erfüllung: Nach einem Ritual mit Spritze, Priester und Anemone verwandelt sie sich in einen Mann. Doch der neue Körper erfordert einen weiteren Preis. An der Nordküste der Dominikanischen Republik, in Sosúa, wird kurze Zeit später aus einer Anemone ein Mensch geboren, dessen Kopf ein Kranz aus Leberflecken ziert – ein Merkmal, das sich auch auf Alcildes Kopf findet, die bzw. der sich fragt: „Habe ich zwei Körper, oder ist es nur mein Geist, der auf einmal die Fähigkeit besitzt, auf zwei Kanälen gleichzeitig zu senden?“ Hinter diesen mysteriösen und magischen Vorfällen scheint die tote Esther Escudero zu stecken, übrigens eine Vertraute des Präsidenten der Dominikanischen Republik.
In einem weiteren Erzählstrang wird die Geschichte des begabten, aber kaum erfolgreichen Künstlers Argenis erzählt, der in einem Callcenter in Santo-Domingo unter dem Namen Psychic Goya arbeitet und mit Hilfe einer Prise Kokain Tarotkarten für US-amerikanische Anruferinnen legt. Dank eines Mentors, Giorgio Menicucci, schließt er sich einer Art Künstlerkolonie in Sosúa an. Bei einem gemeinsamen Tauchausflug verbrennt ihm eine Anemone den Rücken und von da an taucht er immer wieder in traumartige Zustände ein, die ihn zu den französischen Siedlern auf Hispaniola im 17. Jahrhundert, den sogenannten Bukaniern, führen. In diesen Tagträumen beschäftigt sich Argenis gemeinsam mit den Bukaniern mit dem akribischen Häuten von erlegten Tieren.
Der Roman ist also nicht nur eine Zukunftsvision, er ist auch durchzogen von Sprüngen in die Vergangenheit. So geht es nicht nur um die Bukanier im 17. Jahrhundert, sondern Jugendliche versetzen sich mit Hilfe von Pillen auch in die 1970er Jahre und verbringen Tage mit dem Live-Rollenspiel Giorgio Moroder Experience. Hier drängt sich dann sofort die Frage nach möglichen Zusammenhängen auf: Dient der Italo Disco-Star möglicherweise als Verweis auf Giorgio Menicucci, dessen Namen Acilde schließlich annimmt, die bzw. der sich plötzlich an ihren bzw. seinen – eigentlich unbekannten – italienischen Vater mit eben diesem Namen erinnert?
Viele Fragen bleiben in diesem Roman offen, viele Zusammenhänge ungelöst. Zwar verwirrt von so vielen Zeitsprüngen und Metamorphosen gibt der Leser bzw. die Leserin die Hoffnung allerdings nicht auf, dass hinter allem das tentakelartige Prinzip dominiert und die vielen Fangarme sich letztendlich irgendwie zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Doch wahrscheinlich lässt sich Rita Indianas Roman kaum rational auflösen, denn im zeitgenössischen karibischen Roman scheint Magie trotz bzw. vielleicht auch aufgrund hochgradiger Technisierung, Digitalisierung und medizinischer Errungenschaften ein zentrales Stilmerkmal zu sein. Und damit tritt die Autorin das Erbe der Magischen Realisten an.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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