Im Universum des Volker Braun

Der Suhrkamp Verlag feiert den 80. Geburtstag seines Autors mit zwei Sammelbänden

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

80 Jahre alt wird Volker Braun am 7. Mai 2019. Aus diesem Anlass legt sein Hausverlag gleich 2 Bände mit Gesammeltem vor. In Verlagerung des geheimen Punkts findet der Leser eine Auswahl von Brauns seit den späten 1970er Jahren an unterschiedlichen Orten erschienenen Essays, Reden, kurzen Kommentaren zum Zeitgeschehen, Porträts von Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, Traumtexten und kleinen Satiren, darunter drei Erstdrucke. Die zeitgleich erschienenen Handstreiche bündeln in drei Abteilungen Aphoristisches aus Brauns Feder, wobei Abteilung 1 – Aus der Werkzeugtasche – in den Umkreis des 2008 erschienenen Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer zählt, während Abteilung 3 – Ausschreitungen auf dem Papier – jüngeren Datums ist. Den Mittelteil des Triptychons bildet der kurze Erzähltext Die Flut in der Leidsestraat, in dem assoziativ Lebensstationen, -träume, -erfahrungen und -enttäuschungen des Autors miteinander verwoben werden.

Von Anfang an – Braun debütierte 1962 als Dramatiker mit dem Stück Die Kipper, sein erster Gedichtband hieß Provokation für mich und erschien 1965 – war Volker Braun (1939 in Dresden geboren) ein politischer Autor. Einer zumal, der darauf bestand, mitmischen zu wollen bei dem Experiment „Sozialismus“, wie es im Osten Deutschlands nach 1945 in Angriff genommen wurde. „Hier wird Neuland gegraben und Neuhimmel angeschnitten – / Hier ist der Staat für Anfänger, Halbfabrikat auf Lebenszeit. / Hier schreit eure Wünsche: an alle Ufer / Trommelt die Flut eurer Erwartungen“, heißt es in einem der ersten seiner in der DDR veröffentlichten Gedichte mit dem Titel Kommt uns nicht mit Fertigem. Ein Enthusiasmus des Aufbruchs zu neuen Ufern, wie er nur allzu bald – spätestens nach dem Scheitern des Prager Frühlings 1968 – ausgebremst werden sollte von einer politischen Kaste, die nach und nach die hehren Ziele, mit denen sie angetreten war, aus den Augen verlor zugunsten eines verhängnisvollen Selbstbetrugs, der bereits als erreicht ansah, was erst noch zu erreichen war.

Von Brauns zunehmender Enttäuschung, was das Sozialismus-Projekt und den heruntergewirtschafteten Zustand betrifft, in dem es sich in den 80er Jahren inzwischen befand, handeln auch einige der in Verlagerung des geheimen Punkts versammelten Texte. „Volkseigentum, Volkspolizei – utopische Institutionen in einem archaischen Staat; Ideale gesät in eine Kolonie“, heißt es beispielsweise in seiner 1992 gehaltenen Dankesrede für den Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg. Und die Vor- und Nachteile des Lebens in dem inzwischen untergegangenen Land östlich der Elbe noch einmal miteinander ins Verhältnis setzend, fährt Braun fort: „Was war die Mehrheit? Sie war durchaus der Sinn, und alle hatten Arbeit und Bleibe, aber sie war auch der Unsinn und blieb, bei allen Staatsakten, auf die Kulissen gemalt.“

Viel Lärm – die täglich in den Medien verkündeten Erfolge auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens – um nichts – die Tatsache, dass mehrere Jahrzehnte Planwirtschaft weder dem Land noch den in ihm lebenden Menschen den versprochenen Wohlstand gebracht hatten und der allabendliche Blick in die Werbeblöcke der Fernsehsender des anderen deutschen Teilstaats nur frustrierend war. Und auch, wenn man wenig brauchte und das Leben scheinbar so einfach war – „Übersichtliche fünf Zahnpasta-Sorten. Eine medizinische Klasse. Keine Steuererklärung“, fasst einer der Aphorismen aus dem Bänchen Handstreiche zusammen –, „die Mangelwirtschaft und die doppelte Staatsführung“ schlugen doch zunehmend aufs Gemüt.

Zumal sich die führenden Genossen – je älter die DDR wurde und je deutlicher ihre grundsätzlichen Probleme zum Vorschein kamen – hinter einer Weltsicht einigelten, die mit der täglich erfahrbaren Realität immer weniger zu tun hatte. Braun konterkarierte die Situation in dem von ihm so genannten „realen, nicht realistischen Sozialismus“ (Kamenzer Rede Vom Fortbestehen, 2018) mit Satiren wie der unter dem Titel Weitgehend durchdachter Plan einer schmerzlosen und radikalen Lösung, die, bereits 1977 geschrieben, erst 11 Jahre später in einem gleichzeitig in Ost und West erscheinenden Sammelband nachzulesen war. An das Diktum seines Lehrers Bertolt Brecht aus den Buckower Elegien (1953), wonach es für eine Regierung, deren Volk sich das Vertrauen der Oberen verscherzt habe, einfacher wäre, sie „löste das Volk auf und wählte ein anderes“, lose anknüpfend, schlägt hier jemand vor, die Menschen nicht mehr nach ihrer Herkunft, sondern nach den von ihnen geäußerten Meinungen auf die „Bruderländer“ zu verteilen. Alle Energien, die bisher „in die Regulierung des Denkens“ geflossen seien, würden damit frei, um endlich die wirklichen Probleme des Sozialismus angehen zu können.

Natürlich fühlte sich Braun in der DDR vor allem als Künstler gegängelt. Die „fantastische Neigung, Schillers Programm des Reinhaltens der Kunst rigide zu realisieren im Leben“, erinnert er in seiner Schiller-Gedächtnispreis-Rede voller Ironie, führte dazu, dass „der vergleichsweise schlichten Forderung Geben Sie Gedankenfreiheit […] mit unklassischem Starrsinn begegnet [wurde].“ „Was wir entbehrten, war Vertrauen“, lautet die in die gleiche Richtung zielende Klage in dem Essay Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität  aus dem Jahr 1983. Stattdessen regierten: „Die Schule – nicht das Leben. Der Glaube – nicht die Widersprüche. Das Kollektiv – nicht die Gemeinsamkeit.“ Und – muss man hinzufügen – die Zensur des Denkens und Schreibens, nicht die freie Meinungsäußerung.

Letztere gehörte nach friedlicher Revolution, Wende und Wiedervereinigung zu den errungenen Gütern. Doch auch Volker Brauns Leben im neuen – und ihm mehr und mehr alt erscheinenden – Deutschland verlief nicht widerspruchslos. Und so geschah es ziemlich schnell, dass Enttäuschung über das (Nicht-)Erreichte an die Stelle der Euphorie aus jenen Tagen trat, als auf den Straßen und Plätzen im ganzen östlichen Deutschland die Menschen mit den Füßen für eine andere Gesellschaft votierten. Dass aus der „Erfahrung der Freiheit“, als die „ruhige, unaufgeregte Kraft der Massen“ dem zentralistischen Sozialismus die Tür wies, wie er noch im November 1989 formulierte, das Gefühl erwuchs, dass die lange gehegten Utopien – „VOLKSEIGENTUM PLUS DEMOKRATIE, das ist noch nicht probiert, noch nirgends in der Welt“ (Die Erfahrung der Freiheit, 1989) – auch weiterhin Utopien bleiben würden. Nichts drückt dieses Gefühl im Übrigen besser aus als die beiden Zeilen in Brauns bekanntem Gedicht Das Eigentum (1990), die das Unerreichte in die Form zweier – scheinbar paradoxer – Aussagen kleiden: „Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.“

Kein Wunder also, dass die im Band Verlagerung des geheimen Punkts gesammelten, chronologisch angeordneten Texte des Autors immer bitterer werden, je näher ihr Erscheinungstermin an unsere unmittelbare Gegenwart heranrückt. Aus dem Kritiker eines Sozialimus, der nicht seinen Vorstellungen entsprach, ist ein Kapitalismus-Kritiker  geworden, der mit zunehmender Enttäuschung auf die „Jahrmarktwirtschaft“ eines „selbstgewissen Westens“ blickt und ein Denken ablehnt, das für ihn „nichts anzubieten hat“, weil es auf „Erhaltung, der Natur, der Ressourcen, der Renten“ aus ist statt auf eine umfassende Veränderung des Bestehenden.

Auch die Handstreiche halten nicht mit Kritik hinter den Berg, wenn sie ihre Unzufriedenheit in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung im wiedervereinigten Deutschland auf den Punkt bringen. „Andere tauschen die Glotze aus, wir haben den Staat gewechselt. Es sind aber die immer gleichen Programme“, kann man da etwa lesen. Und an anderer Stelle, noch spitzzüngiger formuliert: „Was denn für ein Hunger? Wir hatten andere Appetite, als man mit einer Banane abspeist.“ Doch alle Träume aufgeben und sich in eine Gegenwart schicken, die nicht seinen Lebensidealen entspricht, will auch ein seine Erfahrungen und Erkenntnisse in so kurze wie prägnante Sätze kleidender Volker Braun nicht: „Einmal noch, einmal eine Gesellschaft, die aufbricht. Nicht daß es besser wird, daß es anders ist wird der Fortschritt.“

Die für Brauns Schreiben typische Lust an Paradoxien, Wortspielereien, (Eigen- wie Fremd-)Zitaten und Kalauern eignet auch seinen nichtfiktionalen Texten. Das reicht von „den schönen guten Waren“, die heute das „Wahre, Gute, Schöne“ ersetzen, über die Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm Busch in einen Topf werfenden „Maximen und Moritzen“, als die der Dichter seine Aphorismensammlung vorstellt, bis zu „Willkommen und Abschiebung“, womit die aktuelle Flüchtlingspolitik der Bundesregierung an den Pranger gestellt wird. Die Texte sind nicht immer leicht zu lesen – gelegentlich erschließt sich eine raffinierte Anspielung erst, wenn man weitgespannte Kontexte zum Verständnis heranzieht. Eine gewisse Vertrautheit mit Brauns Erzählwerken, seinen Gedichten und den beiden, 2009 und 2014 im Suhrkamp Verlag erschienenen, sich mit ihren Titeln am Arbeitsjournal seines Vorbilds und Lehrers Brecht orientierenden „Arbeitsbüchern“ Werktage I und Werktage II hilft da in vielen Fällen weiter. Und auch die Tatsache, dass man Braun wohl dort ein bisschen besser verstehen wird, wo er herkommt, als dort, wo er hingeraten ist, lässt sich wohl nur schwer von der Hand weisen.

Den Band mit Einlassungen auf die Probleme unserer Zeit beendet das Gedicht unter Billigflagge, erstmals gedruckt 2016 im Programmheft des Berliner Ensembles als eine Art Epilog zu Brauns Stück Die Griechen. Hier denkt der Autor – der sich in Sachen EU contra Griechenland während der Finanzkrise ganz selbstverständlich auf die Seite derjenigen stellte, über die hier auch verhandelt wurde, ohne dass sie dabei groß zu Wort kamen, die Seite jener vielen Griechen nämlich, die unter den Reformauflagen zur Rettung maroder Banken am meisten zu leiden hatten – die Rolle des EU-Außengrenzstaats weiter bis in unsere Tage. Es ist der „MORGEN DER MIGRANTEN“, der damit heraufbeschworen wird, jener vom Krieg heimatlos gemachten Vielen, die, „das Land der Deutschen mit der Seele suchend“, an Griechenlands Küsten stranden.

Das letzte Notat der Handstreiche lautet: „Heißer Abend. Aus dem Gehölz die Stimmen, Pirol, Zeisig, Zilpzalp, Grünfink. Die Holztaube natürlich. Umfassende Aussprache über das Wesentliche. Fast glaube ich, daß sie genügt und ich keine weiteren Diskussionen wünsche.“ Nicht zu überhören ist der Ton des Verzagens in diesen Sätzen. Aber wer könnte das einem verübeln, der sich zeitlebens zum Dichten berufen fühlte, ab einem gewissen Alter den „weg nach innen“ suchte, die „gespräche unter bäumen“ anstrebte, wie es an einer Stelle seines zweiten Arbeitsbuches, Brechts Gedicht An die Nachgeborenen zitierend, heißt, dem aber immer wieder, bis in sein 80. Jahr hinein „die geschichte […] dazwischen“ kam. Was bleibt also? Durchhalten auch bei nachlassenden Kräften, das jahrzehntealte elementare Ziel seines Schreibens bis zum Ende verfolgen. „Dem entschlossenen Irrsinn der Macht kann nur die entschlossene Vernunft entgegentreten. Die elementare Arbeit der Dichtung bleibt, den Frieden zu denken“, betont Braun in seiner Dankesrede für den Prix Argana Mondial de la Poésie, gehalten am 13. Februar 2014 in Casablanca. Es ist dies das Statement des engagierten Dichters und politischen Menschen, als den man Volker Braun kennt, seitdem sein Denken und Schreiben öffentlich geworden ist.

Titelbild

Volker Braun: Die Verlagerung des geheimen Punkts. Schriften und Reden.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
320 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428757

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Titelbild

Volker Braun: Handstreiche.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
93 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428498

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