Gegen das historische Vergessen

Jaroslav Rudiš nimmt in „Winterbergs letzte Reise“ den Regionalzug für eine Reise in die mitteleuropäische Vergangenheit

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grenzregionen, Eisenbahnen und Böhmen sind Leitmotive in den Büchern von Jaroslav Rudiš. Mit ihnen erzählt er von Flucht und Vertreibung, von historischer Schuld, von Ungeduld und Rebellion. Jaroslav Rudiš wurde 1972 im nordböhmischen Turnov unweit von Liberec in eine Eisenbahn-affine Familie hineingeboren. In seiner Graphic Novel Alois Nebel hat er seinem Onkel, einem Bahnhofsvorsteher im benachbarten Bílý Potok (Weißbach), zusammen mit dem Zeichner Jaromir 99 ein Denkmal in Schwarz-Weiß errichtet. Alois Nebel ist nicht nur ein Eisenbahnverrückter, wie er im Buche steht. Er wird auch von den Dämonen der Vergangenheit heimgesucht.

Sinnbildlich steht sein Name für die Region an der deutsch-tschechischen Grenze, über der die „Nebel des Krieges“ wabern, die der Titelheld in seinem neuen Roman Winterbergs letzte Reise immer wieder beschwört. Das Herz des Buches schlägt in Liberec / Reichenberg – der „Hauptstadt des Sudetenfaschismus“, wie Franz Fühmann den Ort in seiner Erzählung Die Verteidigung der Reichenberger Turnhalle genannt hat. Fühmann beschreibt darin, wie im September 1938 die umstürzlerische Stimmung mit Lügen und Propaganda angeheizt wurde. Ein halbes Jahr darauf wird im Reichenberger Ratskeller der Vater von Wenzel Winterberg für seine Republiktreue von einem „Henleintrottel“ mit einem Bierkrug erschlagen. Sein Sohn leidet fast achtzig Jahre später noch am Tod des Vaters und darüber hinaus an all den Leichen, die hier unter der Erde liegen.

Wenzel Winterberg wird von „historischen Anfällen“ heimgesucht, die ihm selbst den Lebensabschied schwer machen. Mit seinem Sterbehelfer Jan Kraus begibt er sich deshalb auf eine letzte Reise kreuz und quer durch das deutsch-böhmische Grenzland und später weiter nach Wien mit Ziel Sarajevo. Er leidet an der Geschichtsvergessenheit der Gesellschaft. Es stimmt ihn unsäglich melancholisch, wenn sich die Menschen „eher von einem stummen Eisbären im Zoo berühren lassen als von der Geschichte“.

So muss sich Winterberg erinnern, weil sonst alles verloren geht, und er muss erzählen. Seine fortlaufende Rede kreist obsessiv um zwei historische Kristallisationskerne der europäischen Geschichte: um das Jahr 1866 und die Schlacht von Königgrätz, als mit der österreichischen Niederlage gegen Preußen-Deutschland die neue europäische Ordnung gefestigt wurde, die in zwei Weltkriegen gipfelte; und um das Jahr 1913, das „wahre Umsturzjahr“, wie Winterberg sagt, als die letzte Ausgabe des Baedeker für Österreich-Ungarn erschien und der Erste Weltkrieg bevorstand.

Beim Gedanken an Königgrätz bricht Winterbergs Herz im Angesicht der, wie ihm ein englischer Freund einmal sagte, „beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins“. Wieder und wieder zitiert er diese Formel auf seiner Reise zu den böhmischen Leichenstätten. Als Reiseführer vertraut er dabei ganz auf seinen Baedeker. Erstaunlich viel davon ist mehr als hundert Jahre später noch wiederzufinden, nicht nur die Eisenbahnlinien und Tunnels, die darin haarklein aufgezeichnet sind. Winterberg liest ständig laut daraus vor, unterbrochen nur von seinem Schwadronieren über die heldenhaften Eisenbahnpioniere wie Carl von Ghega oder über die stattliche Reichenberger „Feuerhalle“ seines Vaters. Er amtete als erster Leiter dieses ersten Krematoriums im k.u.k. Reich. Doch weil in Österreich die Feuerbestattung verboten war, konnte es erst zwei Tage nach der tschechoslowakischen Unabhängigkeit am 30. Oktober 1918 eröffnet werden. Genau so alt ist auch Wenzel Winterberg.

Im klackenden Takt einer Eisenbahnfahrt im Regionalzug begleitet Rudiš seine zwei Protagonisten und erzählt von ihren Begegnungen mit der Geschichte, die immer wieder für humoristische Akzente sorgen. Das ungleiche Paar ähnelt Don Quichote und Sancho Pansa auf der Jagd nach den Chimären des Ritters, der eine nostalgisch verzaubert, der andere widerwillig und treu. Ihre Reise wird zur Schweikjade, die unweigerlich ins böhmische Wirtshaus führt. Hier ist es Jan Kraus am wohlsten, beim besten aller Biere (Budweiser oder Pilsner?) erholt er sich vom nervigen Gerede Winterbergs. Diesen lässt Jaroslav Rudiš endlos dozieren und großzügig aus dem Baedeker zitieren, der Ausgabe von 1913, die auch den Autor auf vielen Bahnfahrten begleitet hat. Winterbergs letzte Reise ist, wie er in einem Interview mit Mirko Schwanitz sagte, zu guten Teilen in der Eisenbahn entstanden. Erstmals verfasste Rudiš einen Roman auf Deutsch: „Ich weiß nicht warum, aber ich habe über dieses Buch tatsächlich nie auf Tschechisch nachgedacht. Nicht eine Sekunde.“ Dass er mit seiner zweiten Sprache keinerlei Probleme hat, demonstriert er formidabel in Stil und Rhythmus. Rudiš ist auch Musiker. Die musikalische Textur lässt darüber hinweglesen, dass Winterbergs Ergüsse stellenweise die Geduld arg strapazieren.

Es ist kompliziert, doziert dieser: „Man kann nicht nur die eine Geschichte erzählen, wenn man die Geschichte, wenn man uns verstehen möchte.“ Hartnäckig hält er sich an die große Geschichte, unterschwellig jedoch schälen sich allmählich zwei sehr persönliche Geschichten heraus, die die Protagonisten schmerzlich mit sich tragen und je länger desto weniger unter all den historischen Leichen verbergen können. Hierin liegt die eigentliche Spannung in diesem Roman begründet.

Beinahe beiläufig spricht Jan Kraus die Namen Hanzi und Carla aus. Hanzi, stellt sich heraus, war Teil einer gewaltsamen Republikflucht, die Jan mit Freunden wagte und dafür mit Gefängnis büßte. Hanzi überlebte es nicht, Jan denkt immer wieder mit Angst daran zurück. Später verliebte sich Jan in Carla, als er – ein Auftrag – die junge kranke Frau in den Tod begleitete. Auch Winterberg trägt immer wieder einen Namen auf der Zunge: Lenka Morgenstern, die „Frau im Mond“. Die Reise durch Böhmen und über Wien in Richtung Sarajevo folgt im Grunde ihren Spuren, die sie 1938 legte, als sie mit Ziel Israel vor den Nazis flüchtete. Aus Sarajevo erhielt Winterberg die letzte Karte seiner Geliebten – doch es ist wahrhaftig kompliziert. Nach Sarajevo führt keine Eisenbahn und mit dem Bus schafft Winterberg die Reise nicht. Buße „sind das Königgrätz des Personenverkehrs“. Das jedoch rettet ihn nicht davor, dass er Lenkas Mörder allzu spät entlarvt. Die Erinnerung an „damals in Reichenberg“, als es zuging wie Franz Fühmann es in seiner eindringlichen Erzählung schildert, lässt Winterbergs Lebenslüge einstürzen. Seine historischen Anfälle retten ihn nicht länger vor der Einsicht, an Lenkas Schicksal mitschuldig zu sein.

Jaroslav Rudiš befreit die intimen Geschichten von Hanzi, Carla und Lenka zum Schluss doch noch aus ihrem strengen historischen Korsett. Er tut es, im Kontrast zu Winterbergs endlosem Gerede, mit zarter Zurückhaltung und feinen Andeutungen. Genau das streicht ihre Bedeutung heraus. Das Unscheinbare wird unvermittelt zum Motor der Erinnerung. Jaroslav Rudiš hebt es letzten Endes auf beeindruckende Weise hervor und in der großen Geschichte auf. Wenzel Winterberg ist sein persönliches Medium gegen die historische Vergesslichkeit.

Titelbild

Jaroslav Rudis: Winterbergs letzte Reise. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
543 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875958

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch