Ein zweisprachiger ‚Klassiker‘ aus dem Baltikum in der Gegenwart

Der Lette Rūdolfs Blaumanis (1863–1908)

Von Rolf FüllmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Füllmann

Gegenwartskulturen erhellen sich oft durch einen Blick in die Vergangenheit. Der literarische Kanon der deutschsprachigen Literatur dezentriert sich zurzeit selbst auf dem Höhenkamm. Dies bedeutet de facto auch eine Denationalisierung über die engere deutsche Staatlichkeit hinaus, die sich z. B. durch die aktuelle Aufnahme des Romans Hiob des Galiziers Moses Joseph Roth (1894-1939) in den Abiturkanon des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen erweist. Für Kanonisierungsprozesse sind indes auch Literaturpreise von großem Gewicht. Ein Markstein in diesem Prozess war im derzeitigen literarischen Leben die Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2018 an die in der ungarisch-österreichischen Grenzregion um Sopron/Ödenburg zweisprachig sozialisierte Terézia Mora (geb. 1971). Diese Auszeichnung ist kein Einzelfall. So erhielt beispielsweise die 1983 geborene Tetjana „Tanja“ Wolodymyriwna Maljartschuk im Jahre 2018 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Der ‚Eastern Turn‘, der 1999 mit dem Nobelpreis für den Danziger ‚Halb-Kaschuben‘ Günter Grass (1927-2016) und 2009 mit derselben Würdigung für die zweisprachige Rumäniendeutsche Herta Müller (geb. 1953) für den deutschen Literaturbetrieb begonnen hatte, setzte sich auf diese Weise fort. In diesem Jahr, also 2019, wurde der Roman Winterbergs letzte Reise des Tschechen Jaroslav Rudiš (geb. 1972), von ihm selbst in alter regionaler Tradition auf Deutsch verfasst, für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Diese zweisprachige Schreibstrategie hat Rudiš sogar mit der zentralen nationalen Gründergestalt der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937), gemein.

Die aktuelle Tendenz verweist indes auf eine mehrsprachige Faktenlage, die im transkulturellen Raum des jenseits von Deutschland und dem heutigen Österreich gelegenen Mittel- und Nordeuropa schon seit Jahrhunderten existiert. Die Bachmannpreisträgerin Maljartschuk wurde beispielsweise im ehemaligen österreichisch-ungarischen Stanislau geboren, das heute nach dem ‚ukrainischen Prometheus‘, dem in Deutsch und seiner Muttersprache publizierenden ukrainischen Nationalschriftsteller der Jahrhundertwende Iwan Franko (1856-1916), Iwano-Frankiwsk benannt ist.

Für Jürgen Joachimthaler „erklärt sich“ Literatur „(auch) von ihren Rändern her.“ (Joachimsthaler, Bd. 1, 1) Und so ist es für seine großangelegte Studie über „Text-Ränder“, mithin „[d]ie kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur“, selbstverständlich, im Sinne eines de-zentrierten Kanons auch dezidierte ‚Nationalschriftsteller‘ unserer Nachbarn in den Fokus nehmen. Joachimsthaler behandelt in seiner Studie ausführlich den zweisprachigen (Joachimsthaler, Bd. 2, 69-76) ‚preußischen‘ Litauer Vilius Starosta/Wilhelm Starost (1868-1953), genannt Vydūnas. Dieser für das damalige Ostmitteleuropa nicht unüblichen zweisprachigen Publikationsstrategie in Deutsch und der jeweiligen Mehrheits- und Landessprache folgten als Generationsgenossinnen und – genossen von Vydūnas und Franko auch bis heute bedeutende lettische Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Hier sind der (national-)politisch sehr aktive Dichter Rainis (d. i. Jānis Pliekšāns, 1865-1929) oder seine Ehefrau Aspazija (d. i. Elza Pliekšāne, geb. Johanna Emilie Liesette Rosenwald bzw. Rozenberga, 1865-1943) zu nennen. Sie übersetzten beide Teile von Goethes Faust ins Lettische, vor allem um dessen Dignität als Literatursprache unter Beweis zu stellen. 

Rūdolfs Blaumanis wiederum ist neben oben genanntem Ehepaar die Zentralgestalt der lettischen Literatur um 1900 und prägt die lettische Gegenwartskultur bis in die heutige Zeit. Er steht mit seinem lebenslangen souveränen Pendeln zwischen der eigenen Sprache und der Vehikelsprache Deutsch, in der er bis zur späten Revolutionsnovelle Meine Flucht von 1906 allein siebzehn Erzählungen schrieb, keineswegs allein. (Die deutschsprachige Erstveröffentlichung nach der Handschrift des Autors findet sich in Blaumanis: Frost im Frühling. Die deutschsprachigen Erzählungen, 241-247. Auch fast alle anderen der hier genannten Erzähltexte sind in diesem Band als deutschsprachige Originalversionen des Autors zu finden. Im Frühjahr erscheint, ebenfalls im Aisthesis-Verlag (Bielefeld), ein Aufsatzband mit Beiträger*innen aus verschiedenen Disziplinen als lettisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt.) Blaumanis kennt überdies in Lettland buchstäblich jedes (Schul-)Kind und selbst bei Straßenumfragen in Riga wissen die meisten Befragten etwas mit seinem Namen anzufangen:

https://www.youtube.com/watch?v=8NK4RK819Rs

Blaumanis wurde am 1. Januar 1863 in Ērgli (dt. Erlaa) im damals russischen Gouvernement Livland geboren und verstarb am 4. September 1908 im finnischen Takaharju, das in jener Zeit ebenfalls unter russischer Kontrolle stand. Blaumanis gilt in seiner Heimat und auch weltweit als lettischer Schriftsteller von kanonischem Rang, auch und gerade im Schulunterricht. Mehrere seiner Werke wurden in Lettland verfilmt, so die vom Autor auch in einer deutschen Version verfasste Novelle über einen Überlebenskampf auf einer Eisscholle Nāves ēnā (dt. Im Schatten des Todes) im Jahre 1971. Erwähnenswert ist darüber hinaus eine international, etwa in der ehemaligen DDR, erfolgreiche Filmadaption der Blaumanis-Erzählung über Herren und Knechte auf einem baltischen Gut, Purva bridējs/Durch den Sumpf (1898) von 1966, welche die intermediale Relevanz des Gesamtwerks exemplarisch belegen kann.

Der postkoloniale Kontext wie auch eine bis ins Sprachliche hineinreichende koloniale Mimikry sind im Werk des Autors und dem der lettischen Kolleginnen und Kollegen seiner Generation evident. Blaumanis wuchs zweisprachig in jenem „Erlaaschen Kirchspiel“ auf, in dem neben seiner Novellenfigur Birkenbaum aus Im Schatten des Todes (1899, dt. 1901) sein von ihm selbst auch auf Deutsch verfasstes naturalistisches Drama aus dem lettischen Volksleben Die Indrans (1904) beheimatet ist.

Blaumanis besuchte das deutschsprachige Schulsystem seiner Heimtatregion, die zwar lange Zeit nominell zum russischen Zarenreich gehörte, aber bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich von deutschbaltischen Ständeparlamenten verwaltet wurde. Schon im Elternhaus war der Autor als Sohn eines Kochs und eines Stubenmädchens auf einem Landgut mit der deutschen Sprache vertraut gemacht worden, bis 1875 besuchte er auf dem Lande eine deutsche Privatschule bei der ausgebildeten Gouvernante Anna Rubīna und später in Riga eine deutsche Handelsschule. Otto-Heinrich Elias betont, dass sich zur Jugendzeit des Autors in den „1880er Jahren […] die zwischen Memel und dem Finnischen Meerbusen lebende Volksgruppe“ der Deutschbalten „mit rund 180.000 Personen auf dem höchsten Stand“ (Elias, 15) befand. Wie aus den Erzählungen von Blaumanis hervorgeht, die auch deutschbaltische Heimatlose und Landfahrer beschreiben, handelte es sich dabei in übergroßer Mehrheit nicht um adlige Großgrundbesitzer, sondern v.a. um Angehörige einer (klein-)bürgerlichen Mittelschicht, deren parlamentarische Vertretung in der jungen lettischen Republik 1920 übrigens für die Enteignung des meist in den Händen deutschbaltischer Adliger befindlichen Grundbesitzes stimmte.

Goethe und Schiller nannte er als seine Leitsterne. Deutsch war seit der brutalen Eroberung lettischen Gebietes durch den Deutschen Orden im Mittelalter die Sprache einer tonangebenden Minderheit in Stadt und Land. Die Kreuzritter waren nach ihrer Niederlage im Nahen Osten in den Norden Europas ausgewichen und kolonisierten und christianisierten nach der Gründung Rigas im Jahre 1201 das Gebiet systematisch. Unter anderem wurden deutsche Adelsgeschlechter in Livland als Grundherren eingesetzt, die diese Vormachtstellung teilweise bis zur lettischen Bodenreform im Jahre 1920 innehatten.

Blaumanis selbst war als Sohn eines Kochs nicht nur das Patenkind des regionalen baltendeutschen Gutsbesitzers Rudolf von Transehe, sondern auch der Spielkamerad seines Erben. Er wurde in eine Zeit des wachsenden, von den Jungletten inspirierten Nationalbewusstseins hineingeboren. Es war ihm indes nicht vergönnt, die Eigenstaatlichkeit seines Landes noch zu erleben, deren hundertster Jahrestag 2018 wie in nicht wenigen anderen Staaten Ostmitteleuropas gefeiert wurde. Hier sind neben den baltischen Staaten auch die polnische und tschechische Unabhängigkeit zu nennen.

An der literarischen Entwicklung von Blaumanis lässt sich die Emanzipation der lettischen Sprache, die klare Gemeinsamkeiten mit dem Lateinischen wie mit dem Sanskrit aufweist, gut ablesen: Seine ersten Publikationen, wie die Rigaer Weihnachtsgeschichte Wiedergefunden, erschienen ab 1882 zunächst auf Deutsch. Die späteren, zum Beispiel die herausragende symbolistische Novelle Raudupiete (Die Raudup-Wirtin, 1889) über eine ländlich-dämonischeWitwe und Femme fatale, die um ihres Begehrens willen selbst vor einer Kindstötung nicht zurückschreckt, schrieb Blaumanis in seiner Muttersprache. Er übertrug sie jedoch vielfach selbst ins Deutsche als einer transkulturellen Vehikelsprache, die indes auch seiner Mutter geläufig war. Dies stellte oft auch eine notwendige Zwischenstufe für Übertragungen ins Estnische dar. Kaum ein baltischer Autor seiner Zeit hat Transkulturalität so intensiv gelebt wie Blaumanis. Mit deutschbaltischen Schriftstellern arbeitete er zeitlebens kollegial zusammen. Von der multikulturellen baltischen Hafenstadt Riga aus verfolgte Blaumanis alle aktuellen Strömungen des deutschsprachigen Kulturlebens in den mitteleuropäischen Regionen und integrierte sie in sein Werk. Zudem war die Publikation der deutschen Übertragungen in deutschbaltischen Zeitungen und Zeitschriften für den aus einfachen Verhältnissen stammenden Journalisten Blaumanis eine wesentliche Verdienstquelle.

Zentrales Thema bei Blaumanis, der ebenso Rigaer Stadtsatiren und Künstlernovellen schrieb, sind die kritisch beleuchteten sozialen Modernisierungsprozesse in den Bauerndörfern Lettlands. Hier wurde zwar die Leibeigenschaft viel früher als anderswo im Zarenreich aufgehoben. Die damit verbundene persönliche Freiheit führt wie in der Dorfsatire Im Schoße des Glücks (1898) aber bisweilen zu entfremdendem Erwerbsstreben, auch der bei Blaumanis meist starken Frauengestalten, sowie zur raschen Verstädterung, die an der intellektuellen Biographie des Autors selbst abzulesen ist.

Vom Bauernrealismus Gottfried Kellers herkommend, finden sich im Mosaik der deutschsprachigen Werke von Blaumanis schon sehr früh Elemente des Naturalismus Hauptmannscher Prägung, darüber hinaus sogar Motive des Jugendstilhaft-Symbolischen. Eine Art transkulturelles literarisches Credo legt Blaumanis, verquickt mit Heine’scher Ironie, in deutscher Sprache mit seinem Gedicht Die Idealen (1899) vor (Kopoti raksti VI, 138-139):

Unter blütenduftender Linde
Sassen sie Hand in Hand:
Er mit dem schönen Kinde,
Voller Sterne der Himmel stand.

Geredet schon viel sie hatten
Von Schiller und von der Kunst.
In geistreichen Debatten
Behandelt den alten Dunst.

Jetzt sprachen sie von den Idealen
Und wie der Hauptmann so wahr
Die Menschen verstünde zu malen –
Dann schwieg wie ermattet das Paar.

Nur ihre Wangen brannten
Und der Puls schlug zwanzig zu viel
Und beide, beide erkannten –
Sie waren am Ziel!

Transkulturell formiert und verdichtet sich der Text, aus dem ‚alten Dunst‘ der Weimarer Klassik wie aus dem aktuellen Naturalismus und der Neuromantik Hauptmanns schöpfend. Er transferiert die Literatur und ihre Diskurse in die alltägliche Lebenswelt mit ihrem durchaus profanen Begehren.

Das Gesamtwerk von Blaumanis wurde aufgrund seiner Übersetzungen in viele europäische Sprachen sowie ins Chinesische oder ins Esperanto zu einem lettischen Beitrag zur Weltliteratur, dem vielleicht ersten sowohl in lettischer als auch in deutscher Sprache.

Es kann in diesem Zusammenhang auch nicht verwundern, dass das von Schülerinnen und Schülern gerne besuchte Blaumanis-Denkmal in Riga bereits im Jahre 1929 errichtet wurde und nach dem dortigen Herder-Denkmal das erste Monument für einen Schriftsteller im Stadtbild war, diesmal für einen Letten:

https://www.youtube.com/watch?v=DnSlqko4Ivk

Literatur:

Blaumanis, Rūdolfs: Frost im Frühling. Die deutschsprachigen Erzählungen. Hrsg. v. Rolf Füllmann und Benedikts Kalnačs. Bielefeld 2017.

Blaumann, R. [d.i. Rūdolfs Blaumanis]: Die Indrans. Drama aus dem lettischen Volksleben. Riga: Gulbis o. J. Nachdruck. Hannover-Döhren 1972.

Blaumanis, Rudolfs: Kopoti raksti. VI. Sejums. Riga 1959, S. 138-139.

Bleiere, Daina, Ilgvars Butulis u.a. (Hrsg.): Geschichte Lettlands: 20. Jahrhundert. Rīga 2008.

Elias, Otto-Heinrich: Der baltische Raum als europäische Geschichts- und Kulturlandschaft. Politische Voraussetzungen und geistige Traditionen. In: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Europäische Dimensionen deutschbaltischer Literatur. Berlin 2005, S. 15-30.

Füllmann, Rolf, Antje Johanning, Benedikts Kalncacs, Heinrich Kaulen (Hrsg.): Rūdolfs Blaumanis (1863-1908): Lettische Moderne und deutschsprachige Literatur. Bielefeld 2019 (Aufsatzband zur Blaumanis-Tagung in Daugavpils, 6./7. April 2017).

Hoefert, Sigfrid: Zur Wirkung Gerhart Hauptmanns im finno-baltischen Sprachraum. In: ZfO 32/1-4 (1983), S. 73-88.

Joachimsthaler, Jürgen: Text-Ränder: die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur. 3 Bände. Heidelberg 2010.

Kalnačs, Benedikts: 20th Century Baltic Drama: Postcolonial Narratives, Decolonial Options. Bielefeld 2016.

Kessler, Stephan: Das Bild des Kahlschlags in Blaumanis’ Indrāni (1904) und Čechovs Višnëvyj sad (1904): https://baltistik.uni-greifswald.de/fileadmin/uni-greifswald/fakultaet/phil/baltistik/Dokumente/2013__Blaumanis_Artikel.pdf

Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Realität – Geschichte – Aufgabe. Wien 2017.

Ziedonis, Arvids: A study of Rūdolfs Blaumanis. Hamburg 1979.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen